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CORREOS/105: El Salvador - Gesundheitsversorgung oder Marktterror


Correos des las Américas - Nr. 163, 13. September 2010

EL SALVADOR
Gesundheitsversorgung oder Marktterror

Dieter Drüssel interviewt Tomás Chávez


Das Gesundheitsministerium hat einen Vorschlag für die Preisregulierung bei Medikamenten vorgelegt. Die Oligarchie lässt das Vorhaben abblitzen, das Gesundheitswesen steht langsam vor dem Kollaps. Gespräch mit Tomás Chávez, Arzt und Berater der FMLN-Parlamentsfraktion.


DIETER DRÜSSEL: Wie charakterisierst du die Situation rund um die Medikamente?

TOMÁS CHÁVEZ: Da gibt es verschiedene Elemente. Erstens existiert im Land keine Instanz, die Preise und Medikamente reguliert. Die Preise bestimmt allein der Markt, und zwar so wenig perfekt, dass das gleiche Medikament, aus dem gleichen Labor, mit den gleichen Wirkstoffen und dem gleichen Namen nur schon in den Ländern Zentralamerikas mit enormen Preisunterschieden gehandelt wird. Das tupfengenaugleiche Antidepressivum kostet in Nicaragua $20 bis $30 weniger als hier.

DIETER DRÜSSEL: Es gibt keine Regulierungsinstanz für Preise. Gibt es denn überhaupt keine Kontrolle?

TOMÁS CHÁVEZ: Niemanden, beziehungsweise nur den Markt. Es ist bewiesen, dass wir in El Salvador die höchsten Preise von Lateinamerika haben.

Was zweitens die Qualitätskontrolle betrifft, so sind damit theoretisch auch der Consejo Superior de la Salud Pública und das Gesundheitsministerium befasst. Schön. Nur wurde leider unter den ARENA-Regierungen das entsprechende Labor völlig abgebaut, so dass nur noch seine Fassade übrig blieb. Heute untersucht dieses Labor des Consejo strikt nur die zur Registrierung anstehenden Medikamente. Alle anderen, die in den Apotheken, Labors etc. verkauft werden, unterliegen keiner Kontrolle, auch nicht, ob Inhalt und Packung überhaupt übereinstimmen.

Das bringt auch das Phänomen des rezeptfreien Kaufs von Medikamenten mit sich. Da wird es delikat. Denn oft werden solche Medikamente unter denkbar schlechten Bedingungen auf dem Markt verkauft. Dabei brauchen sie bestimmte Bedingungen: Lagerung mit Air-Conditioning, keine Sonnenbestrahlung, eine bestimmte Feuchtigkeit - sonst verlieren die Stoffe ihre Wirksamkeit. Nicht zu reden vom Verkauf in den öffentlichen Bussen, von Antibiotika und Unmengen anderer Medikamente. Wir wissen natürlich nicht, was da jeweils wirklich verkauft wird.

DIETER DRÜSSEL: Warum wird überhaupt nichts kontrolliert?

TOMÁS CHÁVEZ: Das liegt im Interesse der Monopole, der grossen Familien, welche die entsprechenden Unternehmen besitzen, die Laboratorios López, die Kette Santa Lucía ... praktisch haben sie das Monopol für Import und Verkauf. Diese Gruppen sind alle mit den politischen Parteien der Rechten verbunden, was jetzt offensichtlich wird. ARENA unterstützt natürlich Cristiani [führender Kapitalist, Ex-Staatspräsident und heute ARENA-Chef] mit den Laboratorios Santa Lucía und eine andere Familie mit den Farmacias San Nicolas. GANA [eine ARENA-Abspaltung] unterstützt bekanntlich Saca [Ex-Staatspräsident], der auch einen Anteil am Kuchen hat. Der PCN [traditionelle Rechtspartei] unterstützt die Farmacias Económicas um die Familie Lacayo. Die Parteien erhalten so Geld und Protektion durch die Handelshäuser.

Das heisst aber auch, dass es hier im Parlament kaum zu einer Reform kommen wird. Vertreter des PCN haben, als die Gesundheitsministerin den Vorschlag für eine Gesetzesreform vorgestellt hat, öffentlich erklärt: «Das verstösst gegen den freien Markt und deshalb werden wir diese Initiative nie unterstützen.»

DIETER DRÜSSEL: Das erklärt die anhaltende Blockade im Parlament...

TOMÁS CHÁVEZ: Ja, seit über einem Jahr. Den Reformvorschlag hat die Ministerin im Juni letzten Jahres, gleich nach dem Regierungsantritt, vorgelegt. Mit viel Müh und Not haben wir bisher einen Konsens in vier Artikeln gefunden. Wie gesagt, das liegt hauptsächlich an den wirtschaftlich Mächtigen, die kein Gesetz wollen, das in irgendeiner Weise Qualität und Preise kontrolliert.

DIETER DRÜSSEL: In den öffentlichen Spitälern herrscht ja seit jeher ein bitterer Medikamentenmangel. Ich denke, diese «Marktpreise» spielen dabei eine zentrale Rolle, abgesehen von der Korruption, die da jahrelang ungehindert grassiert hat?

TOMÁS CHÁVEZ: Klar. Da spielt einiges eine Rolle. Erstmal das Budget. Der Etat für das Gesundheitswesen ist im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt extrem nieder; zwischen 1.7 und maximal 2 Prozent. Und davon sind höchstens 8 Prozent für Medikamente bestimmt. Das ist wenig. Und der Bedürfnisse sind so viele! Das System droht zu kollabieren. Nun ist das Gesundheitsministerium der grösste Medikamenteneinkäufer. Es kauft zu exorbitanten Preisen ein. Die Mehrheit der eingekauften Medikamente stammt aus der nationalen Produktion, nicht der internationalen. Aber wir sagen natürlich, dass es auch für den Kauf der nationalen Produktion Präferenzpreise und eine Qualitätskontrolle geben muss. Heute ist es so, dass du nicht weisst, ob das Medikament den Angaben auf der Packung entspricht, da das niemand kontrolliert.

Aber wir müssen die Budgetfrage nicht isoliert betrachten. Zum einen steigen die Ansprüche und Bedürfnisse an die Gesundheitsversorgung schnell an, zum anderen kaufen wir enorm teure Medikamente ein. Es ist die Kombination des tiefen Budgets mit den Rekordpreisen und den wachsenden Notwendigkeiten. Denn El Salvador hat heute ein gemischtes Gefährdungsprofil: wir haben eine Kombination von typischen Armutskrankheiten der «unterentwickelten» Welt wie Vitaminmangel etc. mit Krankheiten wie Diabetes, Hypertension (Bluthochdruck?) und anderen. Diabetes etwa ist heute schon im Land ein Problem der öffentlichen Gesundheit, ebenso Hochdruckprobleme. Und Krebs kommt hinzu, die Tuberkulose ... Was hat das zur Folge? Diese Leute brauchen eine regelmässige, chronische medikamentöse Behandlung, die das Ministerium garantieren muss.

Du hast Recht, trotz allen Anstrengungen des Ministeriums herrscht ein Medikamentenmangel. Was hat das Ministerium gleich zu Beginn der neuen Regierung gemacht? Es gab einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung, über 30 Prozent, der die öffentliche Gesundheitsversorgung nie in Anspruch nahm. Das lag an dieser sogenannten «freiwilligen Quote», ohne deren Bezahlung du keine Chance auf Behandlung hattest. Und die Leute hatten kein Geld dafür! Das Ministerium hat diese Quote abgeschafft. Die Leute kommen jetzt und der Bedarf an Medikamenten ist nochmals gestiegen, bei gleich bleibendem Budget! Die Tendenz - nicht mehr punktuelle, sondern regelmässige Medikamentierung und Erweiterung der hilfesuchenden Bevölkerung bei gleich bleibendem Budget - führt zum Kollaps.

DIETER DRÜSSEL: Wenn das so ist - was tun wir?

TOMÁS CHÁVEZ: Da wäre eben unser Vorschlag mit seinen fünf Hauptachsen. Erstens: Standardisierung, Normierung der Preisbildung, wobei wir uns an die lateinamerikanischen Parameter anlehnen. Zweitens: eine zentrale nationale Institution, welche die Medikamentenqualität garantiert. Drittens: gemeinsamer Medikamenteneinkauf sämtlicher staatlicher Gesundheitsinstitutionen, so dass z.B. der Seguro Social [Sozialversicherung für im formellen Sektor Angestellte] und Bienestar Magisterial [Sozialinstitution der LehrerInnen] nicht getrennt einkaufen.

DIETER DRÜSSEL: Gemeinsam einkaufen würde auch die Preisverhandlungsmacht des Ministeriums als bei weitem grösstem Einkäufer erhöhen ...

TOMÁS CHÁVEZ: Nur ist das heute genau das Gegenteil....

DIETER DRÜSSEL: Was den Cristianis nützt...

TOMÁS CHÁVEZ: Klar. Viertens will die Reform die Werbung regulieren. Warum? Zum einen werden hier Medikamente verkauft, die anderswo schon verboten sind. Zum andern werden hier den Arzneimitteln schon fast magische Qualitäten zugeschrieben - sie kurieren dir alles. Heute reguliert das der Verkäufer, und der dichtet ihnen die absurdesten Qualitäten an. Und fünftens streben wir eine rationale Promovierung der Medikamente an. Du weisst, dass hier die Selbstverschreibung der Arzneimittel extrem ist. Und die Eigendiagnose. Du sagst, ich habe das und das und holst dir in der Apotheke «deine» Pille. Wir haben eine wirklich gefährliche Tradition der Eigenverarztung. Du sagst: «In meiner Familie haben sie Diabetes», und kaufst dir in der Apotheke entsprechende Mittel ein.

DIETER DRÜSSEL: Diese Manie, bei jeder Erkältung zum Antibiotikum zu greifen...

TOMÁS CHÁVEZ: Das ist noch harmlos. Gefährlich wird's bei Zucker, bei Bluthochdruck. «Ach, mein Kollege hat auch Bluthochdruck, ihm geben sie das und das» und du holst dir das Gleiche. Aber vielleicht hast du Probleme mit den Nieren, auf dem Herz ... da wird diese «Selbstversorgung» dann wirklich gefährlich.

Das sind also die Hauptpunkte unseres Reformvorschlages. Aber leider wollen die rechten Parteien ein Gesetz, das praktisch nur Zierrat wäre und auf keinen Fall die Preisregulierung betreffe, die Frage der Qualität, des Gesundheitswesens. Werbung und Promovierung soll freie Sache der Verkaufshäuser bleiben.

DIETER DRÜSSEL: Unter dem Titel Meinungsäusserungsfreiheit...

TOMÁS CHÁVEZ: Genau. Insgesamt sieht es also für die Reform nicht gut aus. Klar, ein Gesetz, das diese Hauptpunkte nicht berührt, könnte in einer Woche verabschiedet werden. Aber so geht es um wichtige Interessen, und da sind sie zu keinerlei Kompromissen bereit. Wir haben die Frau Ministerin gebeten, direkt mit dem Präsidenten zu reden, damit der seinerseits direkt bei den ökonomischen Machtgruppen auf eine Aufweichung ihrer Position hinwirke. Du weisst, wie die Sache ist. Sie sind stark, sie sind unnachgiebig.

DIETER DRÜSSEL: Also heisst das, dass vorderhand die Chancen für diese Reform sehr gering sind?

TOMÁS CHÁVEZ: Ja. Alles andere wäre Selbstbetrug. So sind die Kräfteverhältnisse heute. Das ist einfach zu lukrativ. Schau, bei Concord, einem Mittel für Blutgefässe, beträgt die Preisdifferenz zwischen Nicaragua und El Salvador $20. Oder die Generika - in Europa sind die wesentlich billiger als die Patentarzneien. Hier nicht, die Differenz ist fast unbedeutend, vielleicht 1 oder 2 Dollar.

DIETER DRÜSSEL: Apropos: Die Rechte und die grossen Medien klagen laut, dass es bei der Reform darum gehe, via den Import von kubanischen Generika das Gesundheitswesen zu «kubanisieren». Das wäre doch eine gute Idee, billige Generika für die öffentlichen Spitäler zu importieren?

TOMÁS CHÁVEZ: Ja, aber das ist unmöglich, da es keine Handelsbeziehungen von Regierung zu Regierung gibt. Da ist viel Propaganda im Spiel. Sie reden von einer ALBA-Medicamentos, wie ALBA-Petróleo, die es tatsächlich gibt, um weis zu machen, dass wir diese «Kubanisierung» anstreben. Das ist natürlich völlig absurd.

DIETER DRÜSSEL: Aber jetzt gibt es doch diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Könnte man nicht von da aus anfangen?

TOMÁS CHÁVEZ: Vergiss es. Die Beziehungen wurden eben erst aufgenommen, bis es da überhaupt zu Handelsvereinbarungen kommt, vergeht einige Zeit. Das ist eine komplexe Sache, mit gutem Willen allein kommst du da nicht vorwärts. Die Medikamentenlage ist kompliziert. Nur als Beispiel: Untersuchungen von salvadorianischen MigrantInnenorganisationen haben ergeben, dass die Leute ein Viertel der Rimessen [Heimüberweisungen der Emigrierten] für Arzneimittel ausgeben.

DIETER DRÜSSEL: Das ist eindrücklich. Die Cristianis schöpfen also nur schon mit den Pharmaka einen guten Teil der Rimessen ab.

TOMÁS CHÁVEZ: Es sieht so aus. Allerdings müssen diese Angaben noch überprüft werden. Der Prozentsatz scheint uns sehr hoch zu sein. Das ist nur ein Beispiel für die Dramatik. Ich denke, wir könnten jetzt sehr gut ein klein wenig internationale Unterstützung gebrauchen.

DIETER DRÜSSEL: Was schlägst du vor?

TOMÁS CHÁVEZ: Zum Beispiel Briefe an die Ministerin, an die Parlamentskräfte, in denen Gruppen oder ParlamentarierInnen zum Ausdruck bringen, dass sie eine Annahme eines Gesetzes, das die wesentlichen Probleme auf dem Gebiet der Medikamente behandelt, begrüssen würden. Das muss nicht notwendigerweise tel quel der Vorschlag des Ministeriums sein. Aber es geht schon um einen Konsens, der zum Beispiel die Preisfrage nicht ausklammert. Die Rechten haben da schon Widersprüche. Zum Beispiel sagten uns ParalmentarierInnen des PCN, sie seien einverstanden, die Kosten um 40 Prozent zu kürzen. «Gut», sagten wir, «und wie machen wir das?» Und da zeigt sich dann, wie propagandistisch diese Position ist. Denn sie sind strikt gegen eine staatliche Preisregulierung und gegen alles, was den freien Markt einschränken könnte. Und damit real gegen eine Preisreduktion. Denn ohne Regulierung und Kontrolle bleibt die völlig illusorisch. Aber mit ihrem Widerspruch zeigen sie eine Schwachstelle. Hier könnte eine internationale Aufmerksamkeit Wirkung zeigen.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 163, 13. September 2010, S. 8-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2010