Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


AUFBAU/584: Mediterrane Metropole


aufbau Nr. 98, Sep/Okt 2019
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

STADTENTWICKLUNG
Mediterrane Metropole


Leuchtturmprojekte, Märkte und gewollter Häuserzerfall: Die Art und Weise, wie in Marseille "Aufwertungsprozesse" vorangetrieben werden, ist vielschichtig. Doch viele haben begriffen, wie das Eine und das Andere zusammenhängen und wehren sich gegen die Umgestaltungen der "quartiers populaires".


(agj) Marseille, das ist in Frankreich das Gegenstück schlechthin zu Paris: Wo Paris im zentralisierten französischen Staat Hauptsitz von vielem ist, ist Marseille der Underdog ohne Paläste und Boulevards, dafür mit einer langen proletarischen und migrantischen Geschichte, die nicht - wie in der Hauptstadt - in die Banlieues am Stadtrand verdrängt wird, sondern omnipräsent ist. Kein Wunder sind die Fussballspiele zwischen Olympique Marseille und Paris Saint-Germain derart aufgeladen, kein Wunder wird in Paris die Nase gerümpft, wenn man von dieser lauten und dreckigen Stadt am Meer spricht. Diese David gegen Goliath Geschichte ist im Gegensatz zur biblischen Version gesellschaftlich und historisch untermauert.

Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich diese Geschichte verkompliziert. Mittels einer grossangelegten und langjährigen Aufwertungskampagne namens "Euroméditerranée" versucht sich David dem Goliath anzugleichen und abzustreifen, was den Charakter dieser Stadt vormals ausmachte. Ein Höhepunkt in dieser Hinsicht war die Kür zur Kulturhauptstadt Europas 2013. Eine Auszeichnung, die auch sonst oft dazu verwendet wird, um unter dem Deckmantel der Aufwertung eine Politik der Verdrängung voranzutreiben. Andere Städte, die in den vergangenen Jahren diesen Titel trugen, welcher Investitionen in Milliarden verspricht, waren etwa Cork, Liverpool oder Genua.

Im Fall von Marseille wurde beispielsweise das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers (Mucem) für diesen Anlass am Hafen gebaut. Es ist ein Leuchtturmprojekt, welches ein neues, moderneres Marseille ankünden und damit TouristInnen anziehen soll. Ähnlich gelagert ist die Sache mit der Kunstbiennale Manifesta, welche 2020 in Marseille stattfinden soll und deren Kommen unheilvoll weitere sogenannte "Aufwertungsprozesse" verspricht. Den Zusammenhang zwischen diesen Events und dem, was dann in den Quartieren geschieht, hat man längst begriffen: Der Werbepavillion der Manifesta in der Innenstadt wurde mit Farbbeuteln angegriffen und markiert.


Befriedung der "quartier populaires"

Eines dieser "quartiers populaires" (ungefähr: Volksquartiere im Sinn von proletarisch und migrantisch) ist La Plaine, ein lebendiges und widerständiges Quartier geschmückt mit allerlei Graffiti und mit einer starken sozialen Organisierung. Ausdruck dieser Kultur ist etwa ein alljährlicher Karneval, der von der Quartierbevölkerung organisiert wird und explizit einen politischen Anspruch formuliert. Nicht nur Musik und Tanz, sondern auch kritische Auseinandersetzung mit dem, was im und rund um das Quartier geschieht. Dieses Jahr stand der Marktplatz des Quartiers im Zentrum, wo sich das soziale Leben zuvor im öffentlichen Raum konzentrierte. Denn die Stadtverwaltung hat ein "Aufwertungsprojekt" aus dem Hut gezaubert, welches darin besteht, den Platz einzumauern und ihn dann so umzubauen, dass er primär kommerziell genutzt werden kann. Fussball soll nicht mehr gespielt werden, Tische und Bänke wurden abtransportiert, damit es keine Verweilmöglichkeiten gibt, und der Karneval wurde durch die Mauer ins Exil gezwungen, da der Platz nicht mehr zugänglich war.

All dies geschieht nicht ohne Widerspruch. Quartierversammlungen wurden abgehalten. um sich den Platz zurückzuerobern und das Projekt der Stadtregierung zu durchkreuzen. Man ging gemeinsam auf den Platz, stellte Bänke und Tische wieder auf - bloss wurden diese dieses Mal zusätzlich mit Schnellzement fixiert, so dass ihr Abtransport nicht mehr ganz so leicht vonstatten geht. Die Reaktion der Behörden in solchen Fällen wiederum ist altbekannt, nämlich der Rückgriff auf zusätzliche Polizeipatrouillen und Videoüberwachung, welche diesen öffentlichen, zentralen Platz nun vor dem Zugriff der lokalen Bevölkerung schützen sollen. Eine Absurdität, die der kapitalistischen Stadtentwicklungslogik entspringt. Ermutigend, dass einige rund um den exilierten Karneval die Möglichkeiten nutzten, um der Polizei einen Willkommensgruss à la La Plaine auszurichten und sie angriffen.

Aktuell ist dieser Platz also eine grosse, gut bewachte Baustelle und die sozialen Treffpunkte haben sich verlagert, bis er wieder vollständig freigegeben wird. Es ist unklar, was letztlich wirklich anders sein wird als zuvor. Bei den behördlichen Plänen klaffen Theorie und Praxis ziemlich auseinander. Was sich als ziemlich sicher abzeichnet, ist, dass der künftige Charakter des Markts auf dem Platz verändert werden soll. Denn im benachbarten Quartier Noailles hat die Stadt einen vormals wilden und lauten Markt nachhaltig befriedet. Markstände kommen dort nun mit immergleichen sandfarbenen Schirmeii einheitlich reglementiert daher, Dreck wird zur Seite gewischt und MarktschreierInnen sind nun Marktflüsterer. Ähnliches hat die Stadt für La Plaine im Sinn.


Verwahrlosung - einstürzende Hauser

Diese Episoden der Aufwertung in Marseille sind illustrativ für die bekannte Parole, dass Aufwertung im Kapitalismus immer auch Vertreibung heisst. Doch die Stadtentwicklung in Marseille kriegt eine zusätzliche mörderische Qualität dadurch, dass die Behörden nicht nur systematisch an einigen Orten investieren, sondern an anderen Orten sehr bewusst nichts tun und bewohnte Häuser dem Zerfall überlassen. In Noailles stürzten im November 2018 zwei Häuser ganz ein, ein drittes teilweise. Acht der BewohnerInnen starben in den Trümmern der Häuser, die längst als baufällig bekannt waren. Ein Journalist hatte bereits 2016 darauf hingewiesen, dass diese unbewohnbar seien. Eines davon wurde gar kurzzeitig zwangsgeräumt, doch die Stadt erhörte die Klagen der Hausbesitzer (welche selbstredend nicht im Haus selber wohnten) und erklärte sie schnell wieder für sicher und bewohnbar.

Während also am einen Ort viel getan wird, um Plätze entgegen den Bedürfnissen der Anwohnenden umzubauen, wird anderorts weggeschaut, wenn die HausbesitzerInnen ihre Häuser vergammeln lassen. Sie tun dies, um kurzfristig möglichst viel Profit zu erwirtschaften, ohne zu investieren, und um langfristig das Haus - wenn es vollends unbewohnbar geworden ist und abgerissen werden muss - mit einem Neubau zu ersetzen, welches dann im frisch "aufgewerteten" Quartier teurer an neue BewohnerInnen vermietet werden kann. Treffend sagen Leute im Quartier zu diesem Einsturz: Das war kein Unglück, das war Politik.

*

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

*

Quelle:
aufbau Nr. 98, September/Oktober 2019, Seite 12
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang