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AUFBAU/582: Interview - Solidarisch mit den Solidarischen


aufbau Nr. 98, Sep/Okt 2019
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

REPRESSION
Solidarisch mit den Solidarischen


Im September beginnt vor dem spanischen Sondergericht Audiencia Nacional der dreimonatige Makroprozess 11/13 gegen 47 Personen. Sie haben sich organisiert mit den baskischen politischen Gefangenen und Geflohenen solidarisiert, und das soll hart abgestraft werden. Wir haben mit einer der angeklagten Personen gesprochen.


(az) Der spanische Staat verlangt die bedingungslose Unterwerfung. Wer dem Kampf nicht abschwört, wird kriminalisiert, auch wer legale, offene Solidaritätsarbeit leistet. Die 47, die unter dem Motto "Wir würden es wieder tun!" für die politische Legitimität der Solidaritätsarbeit kämpfen, stehen unter strenger Aufsicht, weshalb das Interview mit Vorsicht und anonymisiert gemacht wurde.


aufbau: Wer seid ihr?

Angeklagte: Wir sind 47 Personen aus der organisierten Solidarität mit den baskischen politischen Gefangenen und Geflohenen. Viele gehören Herrira an, einer 2012 gegründeten Initiative zur Verteidigung der Rechte der baskischen politischen Gefangenen und Geflohenen. Einige waren Kontaktpersonen zwischen dem Gefangenenkollektiv und den sozialen Kräften draussen. Einige sind Anwält_innen oder Fachpersonen der Vereinigung Jaiki Hadi, die sich um die medizinische und psychologische Unterstützung von Gefangenen, Geflohenen und Ex-Gefangenen kümmert, und einige gehören zur Angehörigenorganisation Etxerat.


aufbau: Warum wird die Solidarität mit den Gefangenen kriminalisiert?

Angeklagte: 2011 hat ETA ihre bewaffnete Aktivität beendet, und es gab Schritte Richtung einer Konfliktlösung. Das baskische politische Gefangenenkollektiv führte intensive Debatten, wie es sich gegenüber dem neuen Szenario verhalten will. Ein Ziel der Repression war es, das Kollektiv zu isolieren und diese Debatte zu torpedieren. Gleichzeitig nahmen die Mobilisierungen für die Rechte der baskischen politischen Gefangenen auf der Strasse zu, es gab einige richtig starke Grossdemonstrationen. Dass neue soziale Kräfte sich für die Gefangenen und die Lösung des Konflikts engagierten, kam dem spanischen Staat nicht gelegen. 2013 folgte das Urteil des Den Haager Gerichtshofs, welches die "Doctrina Parot" kippte, mit welchem der spanische Staat abgesessene Haftstrafen weiter hatte verlängern können, weshalb viele baskische politische Gefangene freikamen. Die Solidarität mit den Gefangenen anzugreifen, ist als Akt der Rache zu verstehen und als Versuch, den Willen einer Mehrheit der baskischen Bevölkerung zu neutralisieren.


aufbau: Warum kommt ihr alle zusammen vor Gericht, und wie lautet die Anklage?

Angeklagte: Dass wir zusammen verurteilt werden sollen, ist eine Strategie des spanischen Staates. Sie haben Leute aus unterschiedlichen Solidaritätsorganisationen verhaftet und behaupten, dass wir gemeinsam die Gefängnisfront der ETA bilden. Unsere Gemeinsamkeit ist einzig unsere Solidarität mit den Gefangenen, aber die spanische Justiz funktioniert so. Die Anklage lautet für alle: Aktive Teilnahme in einer terroristischen Vereinigung sowie fortgesetzte Verherrlichung des Terrorismus. Bei einigen kommt Finanzierung von Terrorismus dazu. Es werden hohe Haftstrafen zwischen 8 und 20 jahren gefordert. In meinem Fall 13 Jahre.


aufbau: Wie interpretiert ihr diese Anklage?

Angeklagte: Die Interpretation müsst ihr in den Köpfen des Untersuchungsrichters und des Staatsanwaltes suchen. Wir wären eine wirklich merkwürdige terroristische Vereinigung, da wir unsere Tätigkeiten immer in der Öffentlichkeit durchgeführt haben. Zurück geht das alles auf den Untersuchungsrichter Garzon, der in den 1990er Jahren mit der Strategie "Alles ist ETA" jede Idee, Organisation und Person, deren Ziele jenen der ETA ähnlich sind, als "terroristisch" anklagbar gemacht hat, oder auch, wer Mitglieder von ETA in der Verteidigung ihrer Rechte unterstützt hat.


aufbau: Die Gefangenen sind Symbol für eine Geschichte von Kampf und Widerstand. Geht es darum, diese Geschichte auszulöschen?

Angeklagte: Die Gefangenen sind mehr als ein Symbol. Sie sind die lebende Erinnerung daran, dass dieser Teil des Konflikts nicht gelöst ist. Der spanische Staat möchte die Gefangenen isolieren, sich an ihnen rächen. Ihre Moral soll zerstört werden, indem sie mit besonders harten Haftbedingungen bestraft werden. Und jede_r wird angegriffen, der/die dies öffentlich macht.


aufbau: Wie ist eure Verteidigungsstrategie?

Angeklagte: Unsere Strategie ist kollektiv. Wir denunzieren die Anklage. Es geht nicht um 47 Personen, es geht um einen Prozess gegen die Solidarität. Deshalb haben wir die Dynamik IrtenBidera (Auf den Weg) gegründet und das Motto 47ak Herrian (die 47 zu Hause) herausgegeben. Wir wollen die Gründe aufzuzeigen, für die wir verurteilt werden und die Situation der baskischen politischen Gefangenen anklagen, die sich in den letzten sechs Jahren kaum verändert hat. Viele Leute sind interessiert und beteiligen sich. In der ersten Septemberwoche sind Aktionstage geplant und am 14. September eine Grossdemonstration in Bilbo. Bis dahin finden lokale Aktivitäten statt. Wir haben ein gutes Gefühl.


aufbau: Wie ist die aktuelle Situation der baskischen politischen Gefangenen?

Angeklagte: Aktuell besteht das Kollektiv aus 253 Gefangenen, 209 im spanischen und 39 im französischen Staat. Einige sind nach langen Haftstrafen schwer erkrankt und müssten per Gesetz draussen sein. Prekär ist auch die Situation der gefangenen Frauen. Sie sind innerhalb des Kollektivs am stärksten isoliert und am weitesten vom Baskenland entfernt inhaftiert. Es gab einige individuelle Bewegungen für einzelne Gefangene, einige kleine Gesten, aber nur gerade fünf Gefangene befinden sich heute in baskischen Gefängnissen. Der Rest ist weiterhin über den spanischen Staat verteilt. In Iparralde (französisches Baskenland) hat sich dank dem grossen Engagement verschiedener sozialer Gruppen ein wenig mehr bewegt. Für eine Veränderung braucht es eine starke gesellschaftliche Mobilisierung. Das wird noch viel Arbeit bedeuten, aber wir sind dran.


aufbau: Wie war die Repressionswelle gegen die Solidaritätsbewegung von 2013 bis 2015?

Angeklagte: Als erstes war Herrira betroffen. 2013 wurden 18 Personen durch die Guardia Civil verhaftet und anschliessend unter juristischen Auflagen provisorisch wieder freigelassen. 2014 wurden 8 Personen verhaftet, welche für den Kontakt zwischen dem Gefangenenkollektiv und draussen verantwortlich waren. Diese sassen bis zu drei Jahren in Untersuchungshaft. 2015 wurden erneut vier Mitglieder von Herrira verhaftet, sowie 12 Anwält_innen von baskischen politischen Gefangenen und vier Mitglieder von Jaiki Hadi und Erxerat.


aufbau: Wie hast du die Repression erlebt?

Angeklagte: In meinem Fall beginnt die Verfolgung schon früher. Ich war sehr jung politisch aktiv und wurde 2010 im Rahmen der Repression gegen die baskische revolutionäre Jugendorganisation SEGI verhaftet[1]. Ich habe Folter und Haft erlebt, auch die Dispersionspolitik, das Verlegen baskischer politischer Gefangener in möglichst weit vom Baskenland entfernte Knäste. Nach zwei Jahren Untersuchungshaft kam ich provisorisch frei, und anderthalb Jahre später wurde ich wegen meiner Aktivität in Herrira erneut verhaftet. Es klingt paradox, aber obwohl ich dann nur einen Tag festgehalten wurde, hatte ich Suizidgedanken und konnte mich erst mit einer Psychotherapie wieder davon erholen. Seither bin ich nicht mehr gleich aktiv. Ich habe Angst und möchte so etwas nicht mehr erleben. 2014 war der Prozess gegen SEGI, und 2015 wurde ich freigesprochen. Das war eine grosse Erleichterung.


aufbau: Arbeitet ihr trotz der Anklage weiter in der Solidarität mit den Gefangenen?

Angeklagte: Für viele von uns ist dies nicht mehr möglich, denn eine Bedingung für unsere provisorische Freilassung war das Verbot der Teilnahme an Aktivitäten für die Gefangenen. Nur die Anwält_innen und die Fachleute von Jaiki Hadi können ihre Arbeit unter starker Kontrolle weiter verrichten.


aufbau: Was ist das Wichtigste in der Solidarität mit den Gefangenen?

Angeklagte: Alles ist wichtig und nötig. Wenn sie die Solidarität vernichten wollen, müssen wir sie verdoppeln. Briefe schreiben, Besuche organisieren, Aktivitäten veranstalten, alles, was möglich ist. Ich danke euch, dass wir unsere Situation bekannt machen können. Mehr Informationen findet ihr auf unserer Homepage
WWW.11-13makroepaiketa.eus.
Wir brauchen jede politische und ökonomische Solidarität.


[1] Im Aufbau Nr. 53 haben wir über die baskische Jugendbewegung und im Aufbau Nr. 60 und Nr. 61 über die Repression gegen die baskische revolutionäre Jugendorganisation berichtet.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 98, September/Oktober 2019, Seite 14
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2019

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