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AUFBAU/566: Tito rockt - Punk und New Wave aus dem sozialistischen Jugoslawien


aufbau Nr. 96, März/April 2019
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Tito rockt - Punk und New Wave aus dem sozialistischen Jugoslawien


PUNK/NEW WAVE Grossbritannien wird im Mainstream gerne als Geburtsstätte des von verzerrten Gitarren und kreischendem Gesang getriebenen Punkrock gehandelt. Weniger bekannt ist, dass das sozialistische Jugoslawien unter Tito Ende der 1970er Jahre ebenfalls Wiege dieser neuen Musikkultur war. Im Folgenden wird ein Blick auf die dortige Szene geworfen.


(agkkzh) Sägende Gitarren, ein dumpf treibender Bass, minimale Rhythmen, Refrains, die mitgegrölt werden wollen, ein verschwitztes Publikum und eine chaotisch wilde Bühnenperformance. Was sich anhört wie Szenen eines Sex Pistols Konzerts anno 1977 in London passiert tatsächlich zeitgleich im sozialistischen Jugoslawien. Bands wie Azra, Buldožer (Bulldozer), Prljavo Kazalište (Dreckiges Theater) und Elektricni Orgazam (Elektrischer Orgasmus) feilen, analog ihrer britischen KollegInnen, an einem zeitgemässen, ungeschliffenen Sound. Die Metropolen Zagreb und Belgrad werden zu Inkubatoren einer neuen, jungen und rebellischen Musik, deren Einfluss sich nicht auf Jugoslawien beschränkt, sondern nach und nach Eingang in die westliche Popkultur findet.

Revolution in drei Akkorden

Im Jugoslawien der 1970er Jahre hat sich die Rockmusik bereits im Kulturbetrieb etabliert. Bands wie Bijelo Dugme (Weisser Knopf) eifern Vorbildern wie Deep Purple nach und veröffentlichen ihren opulent produzierten Hard Rock auf dem staatlichen Plattenlabel Jugoton. Ähnlich der damaligen westlichen Rockmusik entwickeln sich die Rockalben zu immer vertrackteren Konzeptwerken auf denen die MusikerInnen, selbstverliebt über ungerade Rhythmen solierend, Fantasiewelten erschaffen, deren einziger Zweck die Selbstdarstellung zu sein scheint. Eine neue Generation von KünstlerInnen, welche mit Stil und Lyrik der Rockdinosaurier nichts anzufangen vermag, plant jedoch bereits eine Revolution in drei Akkorden. Die slowenische Band Buldožer besingt in ihrem Song Novo Vrijeme (Neue Zeit) die neue Ära jugoslawischer Rockmusik und erstellt eine Blaupause für den neuen Sound der sozialistischen Republik. Ihre archaische Musik reflektiert ungeschönt die Lebensumstände einer neuen Generation von JugoslawInnen. Der lyrische Eskapismus der Hard Rock Bands weicht einem Realismus, dessen Inspiration der Alltag auf der Strasse ist. Auch modisch grenzt man sich von den Pelzmantel und Schlaghosen tragenden Rockern ab, verzerrte Gitarren paaren sich mit zerissenen Jeans und Lederjacken. Der Punk wird zu einem Massenphänomen, die Do-it-yourself Attitüde führt dazu, dass aus Kellern im ganzen Land drei-Akkord Riffs ertönen, die Jugend hat ihre Stimme gefunden.


Die Szene wird geeint

Das Jahr 1978 wird zum Schlüsselmoment in der Entwicklung der noch jungen Szene. Während bis anhin punktuell, in verschiedensten Städten, mit den Klängen des Punk experimentiert wurde, ziert im Herbst 1978 erstmals eine Punkband, Prijava Kazalište, das Cover des Polet, der Zeitung der Kommunistischen Jugendorganisation. Zukünftig wird der Polet als Sprachrohr der Bewegung fungieren. Die MusikerInnen, die sich bis anhin lokal in den wenigen Bars und Cafes austauschten, erfahren von der Existenz von GesinnungsgenossInnen im ganzen Land und erste Festivals werden organisiert. Nicht nur die Musik, auch die bildende Kunst erlebt im Jugoslawien der späten 1970er Jahre eine Renaissance. So ist es nicht verwunderlich, dass ein reger Austausch zwischen den beiden Milieus entstand. PhotographInnen dokumentierten die aufkeimende Punkszene und fanden im Polet einen dankbaren Abnehmer für ihre Bilder. Die Punkbands waren auch gern gesehene Gäste an Vernissagen der jungen KünstlerInnen. Die Band Pankrti (Punker) beispielsweise spielte ein Set zur Eröffnung einer Ausstellung des Künstlerkollektivs Novi Kvadrat (Neues Quadrat) rund um Mirko hic. hic, dessen Gruppe sich der Weiterentwicklung des Mediums Comic verschrieb, gestaltete im Gegenzug Plattencover für diverse Bands und schrieb den Text zu einem Prijava Kazalište Song. Diese Einheit in der jungen Kulturszene Jugoslawiens brachte etliche einflussreiche Werke in verschiedensten Bereichen hervor.


Vom Punk zum New Wave

Im Laufe der Zeit wurden die Basslinien klarer, Synthesizerklänge erschienen im Mix, Wut wandelte sich in Melancholie, Nietengürtel wichen Make Up, der Punk entwickelte sich zum New Wave. Darko Rundek Sänger der Zagreber Band Haustor war das aufwändig geschminkte Rockidol der Stunde, ein sozialistisches Pendant zu The Cure's Robert Smith. Neue Bands wie Film oder Idoli (Idole) spielten introvertierten, futuristischen, verspielten, groovigen New Wave, der sich vor den bedeutenden westlichen VetreterInnen des Genres nicht zu verstecken braucht.


Kreativität und Kritik willkommen

Anhand dieser Betrachtungen der jugoslawischen Musikszene lassen sich viele Vorurteile gegenüber dem Kulturbetrieb in sozialistischen Ländern entkräften. So wird ersichtlich, dass der popkulturelle Kanon nicht bloss Produkt westlicher Errungenschaften ist, sondern dass sehr wohl auch wichtige Beiträge aus dem Realsozialismus stammen. Die jungen, wilden Bands aus Jugoslawien fanden grösstenteils eine Heimat beim staatlichen Plattenlabel Jugoton. Dies obwohl viele der jungen Bands der Parteiführung durchaus kritisch gegenüberstanden. Die Mär von der ideologischen Gleichschaltung entpuppt sich hier als fauler Angriff der Konterrevolution. Im Gegenteil wurden Kritik und Kreativität staatlich gefördert, sei es mit dem Jugoton Label oder der Zeitung der Kommunistischen Jugendorganisation Polet. Das Narrativ des sozialistischen Ostens als Gesellschaft grauer Parteidrohnen, welchem so gerne die angebliche Freiheit im Kapitalismus gegenübergestellt wird, beginnt zu bröckeln. Tatsächlich erkennt man am Beispiel Jugoslawien, dass sich dort ein reicher Kulturbetrieb entwickeln konnte, dem keinesfalls der Mund verboten wurde und dessen kritische Betrachtungen willkommen geheissen wurden.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 96, März/April 2019, Seite 11
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2019

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