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AUFBAU/547: Die Macht des Kochens


aufbau Nr. 94, September/Oktober 2018
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Die Macht des Kochens


ESSKULTUR Essen stiftet Identität. Einerseits dient Esskultur der Reproduktion sozialer Unterschiede, wirkt aber auch als Abgrenzung zwischen den Herrschenden untereinander.


(agj) Das Gesprächsthema ist Schwedentorten. Die meisten lieben sie. Eine Person sagt, ihr schmecken die vom Coop am besten. Gelächter in der Runde. "Was vom Coop?" Die Person wird belächelt. Jemand entgegnet "Also die beste Schwedentorte kommt sicher vom Stocker" Die Coop-Schwedentorten-Person erwidert, das sei halt die gewesen, die sie zu Hause hatten. Die Runde setzt sich zusammen aus etwa gleichaltrigen und sozial gleichgestellten Menschen. Am Beispiel wird aber ersichtlich, wie soziale Unterschiede auch über den Küchentisch reproduziert werden. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat den Geschmack verschiedener sozialen Gruppen erforscht. Er beschreibt, wie sich Angehörige bestimmter sozialer Schichten mittels Geschmack und Lebensstil von anderen abgrenzen und daraus ein Kampf um die gesellschaftliche Stellung resultiert. Die Esskultur ist nur ein Beispiel dafür. An erster Stelle stehen die ökonomischen Lebenslagen und davon abhängig die soziokulturellen Unterschiede. Sehr offensichtlich wird diese Diversität ebenfalls am Sprachgebrauch. Slangs werden oft als Sprache der sozial und ökonomisch schlechter Gestellten wahrgenommen. Diese Abgrenzungsunternehmungen funktionieren aber nicht nur von oben herab, sondern auch von unten gegen oben. Slangs werden auch bewusst gesprochen, um sich von gehoberen Schichten abzuheben. Wenn wir uns mit der proletarischen Kultur auseinandersetzen, stehen dabei meist die Literatur, die Musik oder die bildenden Künste in verschiedenen Ausdrucksweisen in unserem Fokus, also alles Formen die für die Unterhaltung gedacht sind. Die proletarische Kultur soll eine Kultur sein, die die proletarische Klasse repräsentiert und ohne Einfluss der Bourgeoisie klarkommt. Kann man auch in der Esskultur proletarische Charakteristiken ausmachen?


Proletarische Esskultur

Die Esskultur der Arbeitenden unterschied sich schon immer von der der Bürgerlichen. Die Funktion von Essen war in erster Linie dem Überleben geschuldet. Genuss war im Hinblick auf den Mangel an Geld, mangelnder Zeit zur Zubereitung und gemeinsamer Tischrituale nebensächlich. Natürlich gab es auch bürgerliche Reformerinnen, die glaubten durch Aufklärung und Erziehung zur Verbesserung der Volksernährung beitragen zu müssen. Schuld an den unvorteilhaften Speisen sei die Arbeiterfrau, der es an Kenntnis über die richtige Ernährung mangle. Die herausgegebenen Ratgeber gingen dann aber nicht auf die realen Lebensbedingungen von Arbeitenden ein. Ratschläge zum Auftischen der Speisen oder Anstands- und Gesundheitsregeln bei Tisch verdeutlichen zwar die Absichten zur Integration der ArbeiterInnen in die bürgerliche Gesellschaft, muten aber doch angesichts der realen Lage eher wie Hohn an. Die Esskultur wird dabei aktiv als Abgrenzung zwischen Bürgertum und Proletariat benutzt. Doch was wäre denn nun eine proletarische Esskultur?

Proletarische Esskultur definiert sich weniger dadurch, was man isst, sondern mehr wie frau isst. Dies wird deutlich, wenn man sich mit dem Begriff der Volksküche auseinandersetzt. Der Duden will uns weismachen, dass Volksküche ein anderes Wort für Armenküche ist. Wenn man aber proletarische Zeitschriften, die vor hundert Jahren publiziert wurden, betrachtet, werden gerade Massenküchen gefordert, die Speisung kollektiv organisieren, wie in der gewerkschaftlichen Zeitung "Die Vorkämpferin" 1918 geschrieben wurde: "Durch das starre Festhalten unserer Hausfrauen an ihrer Privatküche gehen aber unglaublich viel Zeit, Kraft und Geldwerte verloren. Obwohl der Gedanke der Massenspeisung kein neuer ist, scheiterte die Einführung, derselben immer wieder an überlieferten Vorurteilen und spiessbürgerlicher Verbohrtheit."

Im Gegensatz zu den Formen kollektiver Ernährung eröffnete im Jahr 1780 in Paris das erste moderne Restaurant in dem die Gäste an separaten Tischen statt an grossen Gemeinschaftstafeln assen und verschiedene Gerichte von der Speisekarte wählen konnten. Mit der Entstehung dieser Art von Restaurants wurde der Bourgeoisie der Zugang in die Küche des französischen Hofes eröffnet. Heute gehören Forderungen nach Massenspeisung vielleicht noch im Arbeits- oder Schulalltag zu unserem Politikum, nicht aber im Privaten. Die Volksküchen sind aber immer noch Teil unserer Politkultur. Dabei geht es gerade darum, auch Essen in einem kollektiven Rahmen zu organisieren und sich dabei zu vernetzen.

Ein anderer Zugang zur proletarischen Esskultur ginge direkt über die Gerichte. Wir betrachten aber zuerst nochmals die andere Seite: Das Zürcher Geschnetzelte ist ein typisches Gericht für eine gutbürgerliche Küche. Die Hauptkomponente ist Fleisch, das mit Champignons angereichert und mit Wein und Rahm verfeinert wird. Serviert wird diese Zubereitung mit Rösti, also geriebenen Kartoffeln. Man könnte nun anfügen, dass die Kartoffel dem Gericht eine gewisse Bodenständigkeit gibt. Doch die Kartoffel galt lange als Lebensmittel, das bessergestellten Schichten vorbehalten war. Bevor sie in Europa weitverbreitet kultiviert wurde, ernährten sich die ärmeren Menschen vor allem von Getreidebreien. Im Gegenzug zum Zürcher Geschnetzelten gibt es ein traditionelles Gericht aus dem Tessin, in dem Polenta in einem See aus kalter Milch gegessen wird. Die Unterschiede sind offensichtlich. Mais wurde vor allem in Südeuropa angepflanzt, um eine Hungersnot zu überbrücken und wurde so zum Lebensmittel der ärmeren Schichten.


Nationalküchen

Die Italienische Küche ist ein gutes Beispiel dafür, wie Nationalküchen als identitätsstiftendes Moment in Staatsbildungsprozessen eingesetzt wurden. Dabei diente deren Verbreitung neben der Identitätsstiftung auch der Absonderung. Einerseits wurden andere Nationalitäten oder kulturelle Zusammenhänge, wie Regionen oder Ethnien als minderwertig propagiert, anderseits diente das Bild der Nation auch als Klassenkampf von oben. Bekannte italienische Gerichte wie zum Beispiel Bistecca alla Fiorentina bilden nicht ab, was die Mehrzahl der Bevölkerung gegessen und gekocht hat, sondern spiegelt die bürgerliche Kochkultur wider.

Viele Nationalküchen im engeren Sinne sind erst im Zusammenhang mit der Bildung der Nationalstaaten entstanden. Ein Beispiel dafür ist die Italienische Küche. Drei Jahrzehnte nach der Einigung war es durchwegs nicht so, dass sich die BewohnerInnen mit dem neu geschaffenen Land identifizieren konnten. Kein Wunder, auch eine einheitliche Sprache hatte sich noch nicht durchgesetzt, viel mehr wurden die unterschiedlichsten Dialekte gesprochen. Von der Elite her gab es Bemühungen, mittels Literatur eine einheitliche Sprache orientiert am Toskanischen, zu etablieren. Der Durchbruch für die Italienische Identifikationsfindung gab aber ein Kochbuch das 1891 erschienen ist. Der Autor sammelte Rezepte aus allen Teilen von Italien, wobei auch in diesem Buch der Süden beachtlich zu kurz kam, so war das südlichste Rezept aus Napoli. Dies lag an der Ignoranz des bürgerlichen Italiens am unterentwickelten Süden. Da dieser als rückständig erschien, war er für die Nationalitätsfindung nicht von Bedeutung.


Nation Branding

Nicht nur im 19. Jahrhundert wurden die Nationalküchen von den Nationalstaaten als Propaganda genutzt. Ein Beispiel für eine modernere nationale Identitätsstiftung ist die sogenannte Kimchi-Diplomatie. Diese begann damit, dass die koreanische Regierung 2009 ihre Nation im Beliebtheitsranking der Nationen nach oben bringen wollte. Sie erhofften sich so, die Exporte zu steigern und mehr TouristInnen ins Land zu bringen. Seoul hat 77 Millionen Dollar in eine Kampagne gesteckt, mit der koreanische Gastronomen im Ausland unterstützt wurden und somit die Anzahl koreanischer Restaurants vervierfacht wurde. Die Handelskammer für Landwirtschaft beauftragte die K-Pop-Band Wonder Girls zu den Zeilen: "It's a K-Food party, c'mon everybody, make the smart choice!" Weitere Investitionen aus Seoul waren eine Fernsehserie in den USA und ein Kimchibus der durch die ganze Welt tourte. Die Investitionen haben sich dementsprechend gelohnt, so dass heute Kimchi zu den Top-Foodtrends zählt. Das Länderranking-Ziel wurde aber nicht erreicht.

Auch aus Peru lässt sich eine ähnliche Geschichte erzählen. Schon im Jahr 2006 hat die peruanische Regierung eine Kampagne gestartet mit dem Titel "Peru. Mucho gusto". Mit Foodmessen und der Unterstützung von Starköchen die als Botschafter in die Welt geschickt wurden haben sie es geschafft, dass Peru seit 2012 jedes Jahr den Reiseaward als weltweit beste kulinarische Destination gewonnen hat. Auch hierzulande macht sich der Peru Trend dank Ceviche und Quinoa bemerkbar. Auf die Schattenseiten der globalisierten Nahrungsmittelproduktion und den damit verbundenen irrsinnigen Transportwegen von Lebensmittel - gerade am Beispiel von Quinoa - geht dieser Artikel nicht ein, dazu fehlt der Platz. Es wäre aber sicher ebenfalls einen Artikel wert.


Patriarchale Strukturen am Esstisch

Die älteren Semester kennen die Situation vielleicht: Man sitzt am Familientisch, der Vater bekommt eine Wurst, die Kinder kriegen vielleicht ein Ruggeli ab, aber das Fleisch ist für den Herrn im Haus vorenthalten. Rousseau sagte dazu:" eine durchgreifende Erfahrung (ist), daß minder nahrhafte Speisen und Getränke, oder die nahrhaften in verringerten Gaben beim Weibe ausreichen." Ein weiteres Beispiel wie Esskultur zur Reproduktion von Macht im Alltag genutzt wird.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 94, September/Oktober 2018, Seite 13
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2018

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