Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


AUFBAU/529: Die eindimensionale Erzählung


aufbau Nr. 92, März/April 2018
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Die eindimensionale Erzählung


MAI 68 Wenn die Zeitungen heute an 1968 erinnern, ist die Rede von "Jugendunruhen". Sexuelle Revolution, Kunst und Selbstverwirklichung stehen im Mittelpunkt der Betrachtungen. Wir sehen das anders: Gegenberichte.


(az) In der gängigen Erzählung ist die moderne Gesellschaft durch Individualismus, Egoismus und Popkultur gekennzeichnet und dieser moderne Lifestyle soll seinen Durchbruch im Jahr 1968 gehabt haben, so will es die bürgerliche "Analyse". Es wird ein äusserst egozentrisches Bild der damaligen Militanten gezeichnet. "Ich hatte genug von diesem Mief" heisst es beispielsweise in der Ausstellung in Bern zu 1968 oder noch banaler: "Ich wollte Action und Frauen kennenlernen". Aussagen dieser Art werden gerne zitiert. Damals soll sich die Jugend gegen das Spiessertum erhoben und das schöne Leben inklusive Selbstverwirklichung gefordert haben. Das ist richtig, allerdings nebensächlich und bösartig, weil es das Hauptsächliche unterschlägt: Das Politische.

1968 war weder ein Generationenkonflikt noch eine Lifestyle-Revolte, es war ein Kampf für ein besseres Leben für sehr viele, nämlich für die ganze Welt. Denn damals war die Hoffnung ganz selbstverständlich gesellschaftlicher und kollektiver Art, indem man für eine bessere Gesellschaft kämpfte, kämpfte man auch für sich selbst. Kollateral kam dabei auch das Spiessertum unter die Räder, ist doch logisch!

Das schöne Leben ist kollektiv

Diese Form des Kampfes war für die Militanten erbaulich und beflügelnd, zumindest schildert es der Kunststudent Gérard Fromanger so: "Künstler sind nicht mehr im Atelier, sie arbeiten nicht mehr, weil die Realität nun kraftvoller ist als ihre Erfindungen. Selbstverständlich werden sie zu Militanten, ich unter ihnen. Wir gründen das Atelier populaire des Beaux-Arts und machen Poster. Wir sind Tag und Nacht da und produzieren Poster. Das ganze Land ist im Streik und wir haben noch nie so hart gearbeitet. Endlich braucht es uns." Teil der Gesellschaft zu sein und darin einen Beitrag leisten zu können ist der Höhenflug. Gefordert ist dabei nichts weniger als Gleichheit für alle, wie die politische Erklärung des besagten "Atelier populaire des Beaux-Arts" ausführt: "Bourgeoise Kultur trennt und isoliert Künstler von anderen Arbeitenden, indem ihnen ein privilegierter Status zugesichert wird. Privilegien schliessen den Künstler in ein unsichtbares Gefängnis ein. Wir haben entschieden zu verändern, was wir in der Gesellschaft sind." Erfrischend, wie zuversichtlich und selbstbewusst damals entschieden werden konnte. Verwirrend, was die Nachwelt daraus gemacht hat.

Internationalistische, klassenkämpferische Praxis

Doch machen wir einen Schritt zurück und fragen uns, was so dringlich und nachhaltig entpolitisiert werden soll. Vor 50 Jahren war die Welt in Aufruhr und mitten im Kalten Krieg deutete vieles auf einen positiven Aufbruch in Richtung Marxismus hin. Die Revolution in Kuba war noch jung und in China hatte die Kulturrevolution eingesetzt. Diese stiess in Europa auf Interesse, versprach sie doch den sowjetischen Marxismus herauszufordern und Bewegung in die kommunistischen Parteien zu bringen. Ähnliches schien im Ostblock durch den Prager Frühling zu geschehen.

In Afrika und Asien war Dekolonialisierung allgegenwärtig, Algerien hatte wenige Jahre zuvor den Befreiungskrieg gewonnen. Auch in den USA mehrten sich militante Bewegungen, insbesondere hatten die Schwarzen nach der Ermordung von Martin Luther King definitiv die Nase voll vom friedlichen Warten. Besonders wichtig und beeindruckend war zu diesem Zeitpunkt jedoch Vietnam. Die Tet-Offensive des Vietcongs führte der Welt die Entschlossenheit der Guerilla vor Augen und überall wuchs die Solidarität mit diesem Kampf.

Neben der immer wichtiger werdenden internationalen Solidarität waren aber auch in Europa selbst Kämpfe auf der Tagesordnung. Die EWG hatte erste Schritte unternommen und Zölle abgebaut, womit sie eine Krise auslöste, insbesondere bei den Bauern, aber auch in der Industrie. Während der 60er Jahre kam es in Frankreich und Italien zu Demonstrationen und Streiks, die revolutionäre Wucht entwickelten. Im wiederbewaffneten Deutschland artikulierte sich eine Generation, die nicht länger gewillt war, die nationalsozialistische Vergangenheit totzuschweigen und hinzunehmen. Wer also behauptet, wie aus dem Nichts hätten StudentInnen plötzlich angefangen zu kämpfen, muss eine beachtliche Verdrängungsarbeit leisten. Im Gegenteil 1968 war Teil und Höhepunkt eines internationalen Kampfzyklus, die revolutionäre Linke war stark, ihr Sieg schien möglich.

Die Kultur der Wortführer

Diese Perspektive haben die Reaktionären im Visier, wenn sie im Fernsehstudio bei Mineralwasser und in kultivierter Stimmung über 1968 palavern. Die Entpolitisierung wird von jenen erzählt, die sich selber sehr wichtig nehmen und ausserdem die politische Seite gewechselt haben. Sie sind zu professionellen Alt-68ern geworden, ihre vormalige Militanz ist ihr Karrieremodell. Und ihre Aufgabe ist es, die Geschichte von den Arbeitern, dem Internationalismus, der revolutionären Gewalt und der Kollektivität zu reinigen und Jugendunruhen gegen "Autorität" daraus zu basteln - klarerweise mit ihnen selbst an der Spitze. Kraft der Wiederholung ist diese Erzählung hegemonial geworden.

Wir wollen beim klassischen Beispiel Frankreich bleiben, wo ehemalige "Studenten-Führer" am ausgeprägtesten die Ereignisse in ihr eigenes Spektakel der Eitelkeiten verdreht haben. Dabei ist gerade das französische Beispiel (neben dem italienischen) besonders ungeeignet für einen derartigen Geschichtsrevisionismus. In diesen zwei Ländern trafen ideologische Kritik an den herrschenden Verhältnissen, politische Militanz und Arbeiterbewegung aufeinander und beflügelten sich gegenseitig.

9 Millionen Menschen arbeiten nicht

Frankreichs Aufstand wurde von den StudentInnen in Paris ausgelöst, doch schlossen sich innerhalb weniger Tage nicht nur die StudentInnen des restlichen Frankreichs an, sondern auch die ArbeiterInnen und Angestellten und viele Bauern. Der Auslöser für den Generalstreik war die Repression gegen die Studis, die derart brutal war, dass grosse Teile der Bevölkerung sich solidarisch zeigen wollten. Doch selbstverständlich hatten die verschiedenen Akteure auch jeweils ihre eigenen Gründe, den Kampf aufzunehmen. 1967 war ein Jahr der Krise in Frankreich, die Angst vor Arbeitslosigkeit war gross, allerdings auch die Angst vor der Arbeit. Die Arbeitsbedingungen waren ungesund und erniedrigend, bei einer Arbeitszeit von durchschnittlich 46 Stunden die Woche verdienten die meisten knapp genug, um zu überleben. Der kurze Filmausschnitt "la reprise du travail aux usines Wonder" zeigt die Verzweiflung der jungen Arbeiterin, die nach dem Streik auf keinen Fall in dieses giftige Drecksloch von Arbeitsplatz zurückkehren will. Das lässt erahnen, dass ArbeiterInnen nicht nur (wie von den Gewerkschaftsspitzen behauptet) für höhere Löhne und Organisationsfreiheit kämpften. Sie wollten Würde und Wertschätzung, die ihnen als Subjekt zustand, erst durch den gemeinsamen Kampf konnte das zum Ausdruck kommen.

Bauern schlossen sich vielerorts der Bewegung an, sie werden besonders gerne unterschlagen, weil sie ganz schlecht ins Bild des urbanen, modernen Protests in Paris passen. In Tat und Wahrheit befanden sich die Landwirte aber seit 10 Jahren in einem erbitterten Kampf, und sie brachten neben den Traktoren militante Erfahrung mit, die für die Bewegung wichtig war. Ausserdem konnten ihre Lebensmittel überlebensnotwendig sein, z.B. wenn sie Streikküchen belieferten. Dass einige den Kampf als gemeinsamen definierten und nicht als Zweckbündnis, zeigt das Flugblatt junger Landwirte: "Die jungen Landwirte der Loire-Atlantique begnügen sich nicht damit, die Arbeiter und Studenten in ihrem Kampf zu unterstützen. Sie sind auf ihrer Seite, um die gleichen Tatsachen einzuklagen und die gleichen Rechte einzufordern."

Das Resultat der gesellschaftlichen Mobilisierung war, dass im Mai 1968 in Frankreich neun Millionen Menschen nicht arbeiteten! Frankreich stand still, doch seine Bevölkerung nicht. Jetzt trafen Leute aufeinander, die sich sonst nicht kennen gelernt hätten. In Nachbarschaftskomitees oder auf der Barrikade. Eine Lehrerin erinnert sich: "Ich habe zum ersten Mal Arbeiter getroffen. Ich hatte davor nie welche gesehen, ich mache keinen Witz, nicht einmal in der Metro. Und plötzlich lebte und arbeitete ich nur noch mit Arbeitern: Mit älteren Parteimitgliedern und mit jüngeren Immigranten. Die Fabriken waren besetzt, im Streik, wir trafen uns, um 'Theorie zu machen' ... Ich fühlte mich wohl dabei. Und ich dachte, das würde nie aufhören."

Aussagen normaler Militanter von 1968 bringen eine spürbare Melancholie oder sogar Verzweiflung bis hin zu nachhaltiger Wut über den Verlust einer positiven Perspektive und des Kollektivs zum Ausdruck. Es kennzeichnet auch Zurückhaltung und Bescheidenheit bezüglich der eigenen Rolle in den Ereignissen ihre Aussagen. Wenn Bewegungen verlieren, ziehen sich die Militanten zurück, das ist normal. Doch viele sind aktiv geblieben, die 70er Jahre waren äusserst bewegt und von dem gekennzeichnet, was 1968 angefangen werden war.


Kristin Ross: May '68 and its afterlives' Chicago 2002.

Ludivine Bantigny: 1968: De grands soirs en petits Matins. Paris 2018.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Im Atelier populaire des Beaux-Arts: Der einfarbige Siebdruck war keine ästhetische Wahl, nur so liessen sich schnell genügend Plakate herstellen, denn der Bedarf war enorm. Unter den Plakaten hängt handgeschrieben der Hinweis: "Für die Poster ist die Ehrlichkeit der Technik vorzuziehen" aber auch: "Genossen, das Atelier sauber halten ist auch am Kampf der Völker teilnehmen".

*

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

*

Quelle:
aufbau Nr. 92, März/April 2018, Seite 5
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang