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AUFBAU/474: "Nacht leben und Aufwertung lassen"


aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Nacht leben und Aufwertung lassen"


STADTENTWICKLUNG "Nachtlebenlassen" heisst es auf vielen Plakaten, die im Zürcher Langstrassenquartier hängen. Dahinter verbirgt sich der Widerspruch zweier Interessensgruppen im Aufwertungsprozess.


(agj) Nicht alle Phänomene, die wir rund um das Thema "Stadtaufwertung" beobachten, sind sogleich als Verdrängungstendenzen zu erkennen. Am Beispiel des Konflikts um das Nachtleben im Zürcher Langstrassenquartier wird sichtbar, wie verschiedene Phasen der Aufwertung aufeinander prallen und durch ihre Ungleichzeitigkeit Reibungen produzieren.


Party- oder Wohnquartiere

Im letzten Sommer schlich sich das Thema Nachtleben auf die politische Agenda. Die Stadt Zürich wurde tätig und erklärte, dass Lokale neu nur mit speziellen Erlaubnissen lange offen bleiben dürften oder AnwohnerInnen mehr Rechte erhielten, um gegen die Bewilligungen neuer Lokale vorzugehen.

Betrachtet man die Forcierung von Zürich zur Event- und Partystadt als zentralen Bestandteil der Gentrifizierung, so könnten eben jene Hemmnisse für Bar- und Clubbetreiber als Massnahmen gegen Quartieraufwertung verstanden werden. Schliesslich könnten sie dazu beitragen, das Quartier als Wohnquartier zu bewahren und ein Zeichen gegen das "Event-Zürich" sein. Denn grundsätzlich ist wenig dagegen einzuwenden, der Gastro- und Partyszene einen Strich durch die Rechnung zu machen. Klar muss aber sein, dass die BewohnerInnen des Langstrassenquartiers, die heute diese Forderungen stellen, nicht länger dieselben sind, die zuvor hier lebten. Die demographische Zusammensetzung im Viertel hat sich markant geändert. Die jungen Gutverdienenden von damals, die in das Zürcher Trendquartier zogen und damit eine erste Phase der Aufwertung lostraten, sind heute - 16 Jahre nach Beginn des Aufwertungsprojekts "Langstrasse PLUS" - auf der Suche nach Ruhe für ihre Kinder, was das Bedürfnis nach einem sauberen und ruhigen Wohnort weckt.

Nun melden sich die finanzkräftigen MieterInnen und BesitzerInnen frischsanierter Wohnungen und fordern ein, dass das Quartier nach ihren Bedürfnissen umzugestalten sei. So manifestiert sich ein Widerspruch in den städtischen Aufwertungsbestrebungen. Zwei Interessensgruppen stehen sich gegenüber, auf der einen Seite die Gastronomie und das Nachtleben, auf der anderen die neuen, reicheren QuartierbewohnerInnen.


Nachtlebenlassen

Um die Konflikte zu entschärfen, initiierte Stadtrat Richard Wolff 2014 das "Projekt Nachtleben" mit dem Ziel, AnwohnerInnen, Clubs und Restaurants an einen Runden Tisch zu bringen. Die Ergebnisse dieser Diskussionen zeigten sich während der Fussball EM 2016, es gab mehr Abfallentsorgungsmöglichkeiten, eine erhöhte Polizeipräsenz bei sogenannten "Problembetrieben" und mit obengenannten Plakaten eine Sensibilisierungskampagne.

Zusätzlich wurden verschiedene Massnahmen, wie das Verbot von Glasflaschen oder bauliche Massnahmen, welche die Innenhöfe der Langstrasse vor Lärm schützen, geprüft. Auch diese Massnahmen darf man nicht losgelöst vom Aufwertungsprozess in Zürich betrachten. Denn die Disziplinierung des öffentlichen Raumes durch bauliche Massnahmen, Überwachung, Verbote und verstärkte Polizeipräsenz ist gleichzeitig ein zentrales Moment im Aufwertungs- und Verdrängungsprozess. Was hier als gutgemeinte Geste verkauft wird, von der alle Beteiligte schwärmen können, lässt sich gleichzeitig hervorragend nutzen, um das Quartier noch weiter zu gentrifizieren. Wohlgemerkt: Dass die Stadt sich überhaupt auf diese Geste einliess, hat viel mit dem Portemonnaie der heutigen BewohnerInnen zu tun. Denn wie heuchlerisch die hier vorgegaukelte reformistische Mitbestimmung ist, zeigt sich daran, dass bei ähnlichen Umgestaltungsprozessen in Quartieren, wo die Bevölkerung weniger reich ist, kaum je eine derartige Rücksicht auf die AnwohnerInnen genommen wird. Sei es damals, als die Weststrasse beruhigt wurde, der Autobahnverkehr ausgelagert wurde und Alteingesessene aus ihren Wohnungen mussten oder heute, wenn die Stadt in Schwamendingen eine Autobahnüberbauung plant und keinerlei Interessen daran zeigt, irgendetwas dafür zu tun, dass nicht exakt dieselben Verdrängungsprozesse wieder stattfinden.


Zwei Seiten derselben Medaille

Das hier diskutierte Beispiel zeigt, dass Stadtaufwertung kein einfacher linearer Prozess ist. Aufwertungsprozesse lassen sich etappisieren. Während in ersten Phasen der Aufwertung beispielsweise KünstlerInnen oder StudentInnen günstigen Raum nutzen, um Projekte zu verwirklichen, ziehen früher oder später meistens Menschen hinzu, die das Quartier nicht primär wegen der tiefen Mieten spannend finden, sondern wegen der Lebendigkeit, die solche Quartiere oft ausstrahlen. Eine weitere Phase der Aufwertung können dann Megaprojekte sein, wie es in Zürich an der Europaallee entsteht. Diese Etappen lassen sich nicht sauber trennen, finden gleichzeitig statt und führen zu derartigen Interessenskonflikten.

Es ist aber eher ausserorderntlich, dass ein derartiger Konflikt zur Aufgabe eines Stadtrats wird. Wir erklären uns das einerseits damit, dass Wolff Widersprüche nicht ausstehen kann und immer nach Möglichkeiten sucht, um sie zu entschärfen. Eine Aussage, die er von Interview zu Interview immer wieder platziert. Aber wir erklären uns die Art und Weise, wie mit diesem Konflikt umgegangen wird, vor allem auch dadurch, dass die Stadt sich mit einem Konflikt zwischen zwei Interessensgruppen konfrontiert sieht, die sie beide zufrieden stellen will. Natürlich will die Stadt ein lebendiges Ausgangsviertel, das sie in ihrem Standortmarketing als positiven Faktor betonen kann. Aber die Stadt will zugleich lieber ein Ausgangsviertel mit BewohnerInnen, die viel Steuern zahlen, als eines wo es bei den BewohnerInnen wenig zu holen gibt. Eine Zwickmühle, in die die Gentrifizierung die Stadt gebracht hat!

Egal, ob sich nun langfristig die eine oder andere Gruppe durchsetzt, die BenutzerInnen der Stadt verlieren in beiden Fällen. Aufwertung muss bekämpft werden, wobei auch vermeintlich fortschrittliche Entwicklungen immer kritisch betrachtet werden müssen. So sollte man sich keinesfalls darauf verlassen, dass der Staat in unserem Interesse gegen Gentrifizierung vorgeht und die Prozesse regulieren würde. Wir müssen unsere eigenen Initiativen gegen Stadtaufwertung entwickeln.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016, Seite 14
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2016

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