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AUFBAU/469: Die Schlacht um Chinas Geschichte - Teil 1


aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Teil I: Die Schlacht um Chinas Geschichte


IDEOLOGISCHER KLASSENKAMPF Dass bürgerliche Geschichtsvermittlung den Herrschenden als ideologische Waffe im Klassenkampf dient, ist nichts Neues. Kaum ein anderes historisches Ereignis jedoch wird mit so viel Schmutz beworfen, wie die chinesische Kulturrevolution. Dies hat seine Gründe.

(agkkzh) Vor 50 Jahren begann die Grosse Proletarische Kulturrevolution (GPKR), welche eine äusserst komplexe und widersprüchliche Periode im Aufbau des Sozialismus in China umfasst. Am 16. Mai 1966 wird das "Zirkular des Zentralkomitees der KPCh über die GPKR" offiziell ausgegeben und eine erste stürmische Welle erfasst das ganze Land, die vorerst von den Universitäten ausgeht. Am 25. Mai 1966 hängen sechs junge Mitglieder des Departements der Philosophie der Universität Peking die erste "grosse Wandzeitung", die von Mao als "Proklamation der chinesischen Pariser Kommune der 60er Jahre des XX. Jahrhunderts" begrüsst wird. Für die revolutionären ParteigenossInnen ist die darin enthaltende Kritik an den Bürokraten der Partei, die den Weg rückwärts zum Kapitalismus gehen wollen, von existentieller Bedeutung für das weitere Fortschreiten des Sozialismus. Sie ermutigen potentielle AktivistInnen, solche Wandzeitungen im ganzen Land anzubringen, nicht nur an den Universitäten, sondern auch in den Fabriken, auf den verschiedenen Ebenen der Staatsführung, in den Quartieren und Dörfern.

Die ersten ArbeiterInnen, die dem Aufruf folgen, eine neue Revolution zu lancieren, sind sieben RebellInnen der Textilfabrik Nr. 17 in Shanghai. Am 12. Juni 1966 applizieren sie in der Fabrik eine grosse Wandzeitung: "Hinter die Maske des Parteikomitees schauen, um die Wahrheit zu erkennen. Die bourgeoisen Autoritäten zur Strecke bringen und den alten Revisionismus mit der Wurzel ausreissen". Als Revisionisten werden jene bezeichnet, die den revolutionären Charakter des Marxismus revidierten und die Restauration des Kapitalismus zum Ziel haben. Shanghai war die grösste Industriestadt Chinas. Es erstaunt nicht, dass ihre ProtagonistInnen vorangingen und später die "Kommune von Shanghai" gründeten(1).

Vom 1.-12. August 1966 findet eine ZK-Konferenz statt, die den "16-Punkte-Beschluss" verabschiedet, das offizielle Dokument der Partei zur Kulturrevolution. Diese 16 Punkte bieten während der KR wichtige Orientierungshilfe. Sie rufen dazu auf, "neue Ideen, eine neue Kultur, neue Sitten und Gebräuche des Proletariats (anzuwenden), um das geistige Antlitz der gesamten Gesellschaft zu ändern". Die Führung jeder Ebene wird zur Selbstkritik und Orientierung an den Massen veranlasst. Revolution und Produktion sollen gleichermassen gefördert werden. Mao verfasst eine Wandzeitung: "Das Hauptquartier bombardieren". Dies ist als Angriff auf die Gruppe Liu Shaoqi zu verstehen. Liu Shaoqi war der damalige Staatspräsident und somit einer der mächtigsten Revisionisten im Staatsapparat.


Bürgerliche Deutungsmacht

Es ist nicht verwunderlich, wenn das 50. Geburtsjahr der KR von den bürgerlichen Medien zum Anlass genommen wird, diese einmal mehr als das grösste Desaster der menschlichen Geschichte darzustellen und die haarsträubendsten Geschichten zu verbreiten: Mao als Massenmörder und machtgieriges Monster; Rote Garden die Terror und Chaos verbreiten; Zerstörung von kulturellen und menschlichen Werten; Verlust von Hoffnung und Idealen; Millionen von ChinesInnen traumatisiert usw.

Besonders gut macht es sich, chinesische AutorInnen für die Diffamierung der KR und der kommunistischen Geschichte einzuspannen, wie z.B. Yen Minju, oder Li Zhisui, zeitweise Mao's Arzt. Den Gipfel der Geschichtsverfälschung liefert Jung Chang's und Jon Halliday's Buch: "Mao. Das Leben eines Mannes. Das Schicksal eines Volkes". Jung Chang legitimiert sich als Tochter loyaler Parteikader während der KR, Halliday ist ihr Ehemann.

In dem Buch sind detaillierte Schilderungen von zahllosen Gräueltaten nachzulesen: "Schnell wurde diese Freude am Töten zum Wettkampf. Dörfer bewarben sich darum, welches am meisten schwarze Typen hinrichtete. Bei diesem Wettbewerb standen zehn Tötungsmethoden zur Verfügung: erschiessen, Kehle durchschneiden, ertränken, explodieren lassen, in tiefe Höhlen stossen, lebend begraben, totschlagen, ersticken, verbrennen und totschmeissen. ... Die von der Partei selbst mobilisierte Hysterie führte zu einer erschütternden Bilanz: Mehr als 7 Mio Menschen kamen auf nicht natürliche Weise um, mehr als 130.000 wurden offiziell hingerichtet, mehr als 230.000 starben als Gewaltopfer, mehr als 700.000 endeten als Behinderte, mehr als 700.000 Familien wurden zerstört, mehr als 420.000 wurden gefangen genommen, 100 Mio Menschen wurden in angebliche Verbrechen hineingezogen und mussten mitbüssen. Männer töteten Ehefrauen und die eigenen Kinder, (...)" Mao habe als verbrecherische Einzelperson mit absolutem Willen zur Macht 70 Mio Menschenleben auf dem Gewissen!

Die Geschichte des kommunistischen China und die KR werden auf die Psychopathologie eines monströs-genialen Ubermenschen reduziert. Wie wir es von der Aufstandsbekämpfung in Europa kennen, in der die Stadtguerillas als Terrorbanden dargestellt werden, soll die Geschichte der chinesischen kommunistischen Bewegung zur Kriminalgeschichte umgedeutet werden. Ein Gegenvorschlag zum Kapitalismus soll schlicht undenkbar sein.


Fundierte Widerlegung

Dass nicht alle ChinesInnen, die die Kulturrevolution erlebten, traumatisiert sind und Horror-Geschichten zu berichten haben, zeigt das Buch von Mobo Gao: Die Schlacht um Chinas Vergangenheit(2). Gao, der im ländlichen China zur Zeit der KR aufwuchs, dokumentiert darin sorgfältig ihre Errungenschaften. Wie der Titel seines Buches andeutet, findet eine regelrechte Schlacht um die historische Deutung bezüglich Mao und der KR statt. Die herrschende Elite in China bezeichnet seit 1981 die KR als die "Zehn-Jahre-Katastrophe" (1966-76). Kein Wunder, war doch die KR exakt gegen sie und ihr kapitalistisches Programm gerichtet. Die Verhältnisse im heutigen China zeigen, dass es nicht um einen persönlichen Machtkampf innerhalb der Partei ging, sondern dass sich gesamtgesellschaftlich diametral verschiedene Interessen und Ziele gegenüberstanden. 1976, nach dem Sieg der Konterrevolution, wurden tatsächlich unzählige RevolutionärInnen exekutiert und in Gefängnisse geworfen, Dokumente zerstört oder sie werden bis heute unter Verschluss gehalten. In vielen literarischen Werken, die von Mobo Gao analysiert werden, wird die KR als ein Konzept des Machtkampfes Mao's dargestellt, der die Partei, die Armee und das chinesische Volk manipulierte. Gao demontiert Satz um Satz, Quelle um Quelle mit logischen Argumenten und eigenen Quellen die Machwerke von Chang/Halliday sowie von Li Zhisui. Er zeigt auf, wie Fakten verfälscht werden um Mao mit Hitler gleichzusetzen, wie Zitate sinnentstellend aus dem Zusammenhang gerissen werden. Er analysiert historische Episoden wie den "Langen Marsch" und den "Grossen Sprung Vorwärts" und konfrontiert die Erfindungen Chang's und Halliday's mit realen Fakten. Auch behandelt er kontroverse Themen, wie die positiven Veränderungen, die in Tibet in der Periode von 1949-76 stattfanden.

Was tatsächlich proklamiert und erkannt wurde, war, dass eine kontinuierliche Revolution notwendig ist, um ein sozialistisches Land zu bleiben und um die sozialistischen Ziele zu erreichen. Er zeigt auf, dass einige Funktionäre der KPCh zwar nationalistische Revolutionäre waren um gegen Imperialismus und Feudalismus zu kämpfen, jedoch waren sie gegen die ländlichen Kollektivierungen und die Enteignung von Eigentum der nationalen chinesischen Kapitalisten. Es bestand die Gefahr, dass China zurück zum Kapitalismus gehen würde, wenn nicht eine Revolution mit neuen kulturellen Werten und Ansichten stattfinden würde. Deshalb nannte man sie auch Kulturrevolution.

Im Gegensatz zu den Behauptungen, die KR sei ein despotischer Terror gewesen, zeigt Gao auf, dass viele Millionen Menschen involviert waren, die ausserordentlich enthusiastisch in einer revolutionären Bewegung teilnahmen und in der positive Errungenschaften erschaffen worden sind. Diese Erbschaften beinhalten grosse Infrastrukturprogramme. eine radikale Bildungsreform, innovative Experimente in Literatur und Kunst, Ausweitung der Gesundheitspflege und Bildung in ländlichen Gebieten und eine rasante Entwicklung von ländlichen Unternehmen.

Eine ganze Palette von Ideen in Politik sowie industrielle und agrikulturelle Grundsätze und Methoden wurden geprüft. Einige dieser Experimente waren erfolgreich, andere misslangen und wieder andere hatten die Zeit nicht, um zu reifen, bevor sie unreif beendet wurden.


Klassenkampf im Sozialismus

Durch die Erfahrungen, die in der Sowjetunion gemacht worden waren, sowie der revisionistischen Entwicklung in China selbst, entwickelten die chinesischen KommunistInnen die Position, dass der Klassenkampf unter der Diktatur des Proletariats weitergehen muss, da noch immer Klassenunterschiede bestehen und sich eine neue Bourgeoisie bildet, welche sich Privilegien und Machtpositionen in Partei und Staat aneignet. Daraus entwickelte Mao den Kampf der zwei Linien innerhalb der Partei. Die Macht zur Unterdrückung der alten und neuen Bourgeoisie muss in den Händen der organisierten und bewussten Massen liegen. Nur so kann in mehreren Kulturrevolutionen die Restaurierung der bürgerlichen Macht und kapitalistischer Verhältnisse verhindert werden. Der Kampf der zwei Linien bedeutet, dass sich die revolutionäre Linie immer wieder neu herstellen muss, dass ein permanenter Kampf um neue Produktionsverhältnisse. neue politische Verhältnisse, eine neue Kultur und neue Geschlechterverhältnisse stattfindet. Dies in allen gesellschaftlichen Bereichen, den Betrieben, Universitäten, Verwaltungen, den Familien. Die Kulturrevolution ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern war der Höhepunkt einer langen Entwicklung im Kampf der zwei Linien.


Der Hass der Bourgeoisie auf die Kulturrevolution

Der Hass der Bourgeoisie auf die KR ist begründet, war sie doch bis heute der weitreichendste Versuch, Klassen- und Herrschaftsverhältnisse zu überwinden und die Entscheidungsmacht über alle Belange in die Hände der arbeitenden Massen zu legen. Es liegt uns fern, die KR zu romantisieren. Auch die KR hat, wie alle sozialen Revolutionen vor ihr, viele Opfer gefordert. Es haben Exzesse von Demütigungen, Plünderungen und Hinrichtungen stattgefunden. Verschiedene Gruppierungen der Roten Garden mit verschiedenen politischen Ansichten haben sich teilweise auch bewaffnet bekämpft und es ist nicht auszuschliessen, dass Menschen irrtümlich als RevisionistInnen oder KapitalistInnen gebrandmarkt wurden.

Uns geht es darum, die Lügen der Herrschenden zu durchschauen, einseitige Sichtweisen zu korrigieren, komplizierte und widersprüchliche Prozesse mittels der dialektischen Methode zu verstehen. Es geht darum, das einzigartige praktische Experiment der permanenten Revolution in der KR zu analysieren, zu verstehen und daraus die positiven Aspekte für eine kommunistische Perspektive zu ziehen. Dort liegt für uns die Hauptseite.


Chronologie der Ereignisse in China

1921
Gründung der Kommunistischen Partei; es folgen 22 Jahre Volkskrieg
1945
Sieg über den japanischen Imperialismus; es folgt der Bürgerkrieg zwischen der KPCh und der Kuomintang (bürgerlich nationalistische Bewegung)
1949
Sieg über die Kuomintang und Ausrufung der Volksrepublik China
1953
Debatten gegen die rechte Linie der KPCh; es bestehen freundschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion
1958
Bewegung "Drei Rote Fahnen": Volkskommunen, Grosser Sprung Vorwärts, Massenlinie
1959-62
Interne Debatten zwischen China und der SU über den Revisionismus; Erstarken der revisionistischen Kräfte auch in China und Rückschritte auf dem sozialistischen Weg
1962-64
Öffentliche Kritik Chinas am Revisionismus der KPdSU = Ende der Freundschaft
1963-65
Sozialistische Erziehungsbewegung als Gegenoffensive zum revisionistischen Vormarsch
1966-69
Grosse Proletarische Kulturrevolution = Mobilisierung der Massen zur Kritik und Absetzung revisionistischer Kader in Partei, Staatsorganen, Universitäten, Produktionsstätten, etc. und zur Übernahme der realen Macht in allen Bereichen

Kulturrevolution

Von 1966-69 dauerte das Experiment der chinesischen Kulturrevolution. Um die Erkenntnisse daraus weiterwirken zu lassen, befassen wir uns in einer dreiteiligen Serie mit diesem bedeutenden historischen Ereignis. Im ersten Teil demaskieren wir die bürgerliche Geschichtsvermittlung und stellen ihr unsere Sichtweise gegenüber. Im zweiten Teil dokumentieren wir konkrete Beispiele der neuen Kultur und Produktionsweise, der neuen Politik und neuer Geschlechterverhältnisse. Im dritten Teil geht es um das Fortwirken und Verallgemeinern der Erkenntnisse aus der Grossen Proletarischen Kulturrevolution.


ANMERKUNGEN
(1) Hongsheng Jiang: La Commune de Shanghai, 2014, éditions La fabrique
(2) Mobo Gao: The Battle for China's Past. Mao & the Cultural Revolution, 2008, Pluto Press

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016, Seite 9
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2016

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