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AUFBAU/434: Dieter Fortes politisches Werk


aufbau Nr. 82, September/Oktober 2015
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Dieter Fortes politisches Werk


BUCHBESPRECHUNG Dieter Forte ist ein kaum mehr bekannter Autor, dessen Werk sich unbedingt zu lesen lohnt. Im Folgenden werden seine Bücher vorgestellt, die einen Bezug zur Politik haben.


(rabs) Ende 1970 kam Dieter Forte für die Uraufführung seines ersten Theaterstücks nach Basel, wo er bis heute - 2015 wurde der Autor achtzig Jahre alt - lebt. Trotz des langen Titels "Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung" und seiner unspielbaren Gesamtlänge wurde sein Stück ein grosser Erfolg und löste kontroverse Debatten aus. "Luther & Münzer" präsentiert ein neues Bild des Reformators Luther, der bei Forte nicht mehr als das Produkt herrschender Politik und geistlicher Korruption ist. Wie alle anderen Figuren des Stücks, vielleicht mit Ausnahme des Bauernrevolutionärs Thomas Münzer, ist er Spielball in den Händen des Augsburger Grosskaufmannes Jakob Fugger, dem um 1500 mächtigsten Bankier Europas. Humanismus und Reformation erwachsen aus dem Boden einer rein ökonomisch ausgerichteten Rationalität, was Fortes Drama in den Augen bürgerlicher Rezensenten zum marxistischen "Tendenzstück" geraten liess, wovon sich die marxistische Kritik jedoch distanzierte. Auf jeden Fall ist das Stück im Hinblick auf seine satirischen Aussagen zur Macht des Finanzkapitals noch heute brandaktuell.


Dem gesellschaftskritischen Schreiben verpflichtet

Seit Anbeginn ist das literarische Werk Dieter Fortes einem engagierten, gesellschaftskritischen Denken verpflichtet. Dabei erweist sich der Autor als Dialektiker, der sich widerstreitende Positionen mit differenzierter Genauigkeit auf dem Boden ihrer gesellschaftlichen Ursachen darstellt. In "Luther & Münzer" ist Thomas Münzer der militante Gegenpart zu Luther, dessen Worte "wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" für sich selbst sprechen.

Das dialektische Prinzip dominiert auch die Roman-Trilogie "Das Haus auf meinen Schultern". Sie beginnt mit dem Roman "Das Muster", in dem zwei Familiengeschichten seit der europäischen Neuzeit erzählt werden. Der eine Erzählstrang handelt von der Familie Fontana, oberitalienischen Seidenwebern, die durch politische und religiöse Kriege, ökonomische Krisen und Abenteuerlust durch Europa getrieben werden. Im 19. Jahrhundert gelangen sie schliesslich ins Rheinland, wo der wirtschaftliche Niedergang einsetzt: Die automatischen Webstühle ersetzen das kunstvolle Handwerk, dessen Geheimnisse von Generation zu Generation im "Musterbuch" weitergegeben worden waren. Ein zweiter Erzählstrang erzählt von der polnischen Familie Lukacz, die das pure Gegenteil der Fontanas ist. Wird bei diesen Vernunft und aufgeklärte Toleranz gross geschrieben, so handelt es sich bei jenen um bettelarme, sehr fromme Menschen, deren eindrücklichste, von Generation zu Generation mündlich weitergegebene Erfahrung eine Wallfahrt zur heiligen Muttergottes von Tschenstochau darstellt. Während die Fontanas immer wieder in die Fährnisse der europäischen Geschichte geraten, scheint das von Erzählungen, Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen geprägte Leben der Lukacs über Generationen beinahe still zu stehen, bis auch die Lukacs zur Auswanderung gezwungen werden. Als Bergleute lassen sie sich in Gelsenkirchen nieder, von wo aus - einige Generationen später - eine Maria Lukacs nach Düsseldorf gelangt. Dort verbindet sie sich mit Friedrich Fontana zum Liebespaar, womit die unterschiedlichen kulturellen Erfahrungsräume der beiden Familien zusammenkommen. Geschichte und Biographien sind eng miteinander verwoben, auch in den folgenden Bänden: Ausgerechnet 1933 kommt es zur Hochzeit von Maria und Friedrich, von wo aus die Trilogie fortan im schwierigsten Teil der deutschen Geschichte angesiedelt ist.

Schreiben als Zeitgenosse der Kriegsgeneration

Auch in Düsseldorf, wo Distanz zu den Nazi-Machthabern in Berlin lange Zeit vorherrschte, lässt sich die faschistische Gewalt nicht aufhalten. Terror und Kriegsgräuel prägen die Kindheit des ersten Kindes von Maria und Friedrich, des Jungen, aus dessen Perspektive die Geschichte fortan mehr und mehr erzählt wird. Trotz der Liebe, des Humors und alltäglichen Widerstands gegen die Nazi-Horden, die die Familie des Jungen nicht unterkriegen, verwandelt sich seine Welt in ein einziges Inferno. Dieses kommt zu einem ersten Höhepunkt mit der teils verordneten, teils polizeilich geduldeten "Reichskristallnacht", die das Kind als Teilnehmer eines Martinszuges erlebt und dabei die vom Mob zerstörten jüdischen Geschäfte und fliehenden Menschen sieht. Es folgen Nächte im Schutzbunker und Bombenangriffe, die den Jungen seelisch schwer traumatisieren. Der Autor schildert, ohne auf der historisch-politischen Ebene jemals Täter und Opfer zu verwechseln, die Zerstörung des Arbeiterquartiers und die dramatischen Folgen für die in Bunkern Schutz suchende Bevölkerung, wobei sich der namenlose Junge mehr und mehr als alter Ego des Autors erweist.

Der dritte Band mit dem Titel "In der Erinnerung" ist an der Schwelle zwischen den Jahren des Niedergangs und der Nachkriegswelt angesiedelt. Er erzählt teils eingeengt auf das Fenster, aus dem der Junge in einer aus Ruinen errichteten Bleibe der Familie Fontana-Lukacs sieht. Die Menschen kehren verstört und traumatisiert aus dem Krieg zurück, die Kinder erleben eine Zeit der Anarchie und Freiheit, währenddessen ein langsamer Neuanfang einsetzt, der von Anbeginn von der Kluft zwischen oben und unten geprägt ist. Der Junge, der zwölf Jahre seines jungen Lebens in einer Unzeit lebte, erkrankt im Band "Auf der anderen Seite der Welt", den Forte der Trilogie folgen liess, chronisch. Auf einer Nordseeinsel setzt sich sein Leiden fort, in das ihn die Zeitumstände geworfen haben. Schon der Titel der Trilogie "Das Haus auf meinen Schultern" kündigt an, dass darin eine Erinnerungslast zu einer kohärenten, sinnvollen Geschichte verarbeitet wurde. Diese liest sich, und das darf nicht unerwähnt bleiben, bei aller Schwere so leicht und humorvoll, dass man als LeserIn nicht umhin kommt, mit Fortes Figuren Freundschaft zu schliessen und eine Weile an ihrem Leben teil zu haben.


Bibliographische Angaben:

Dieter Forte, Das Haus auf meinen Schultern. Romantrilogie, Frankfurt a. M. 2003
Dieter Forte, Auf der anderen Seite der Welt, Frankfurt a. M. 2004
Dieter Forte, Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung, Frankfurt a. M. 2009

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 82, September/Oktober 2015, Seite 16
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
aufbau-Jahresabo: 30 Franken, Förderabo ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2015

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