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AUFBAU/376: "In Japan ist die Arbeiterbewegung klein, aber äußerst bewusst"


aufbau Nr. 76, märz / april 2014
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"In Japan ist die Arbeiterbewegung klein, aber äußerst bewusst"

Bahnarbeiter-Internationale - Ein Lokführer aus Deutschland ist die revolutionäre japanische Gewerkschaftsbewegung in Japan besuchen gegangen und hat uns darüber berichtet. In wenigen Tagen hat er viel erlebt: Internationale Treffen, Kampf gegen Privatisierung und Fukushima.



(az) "Bereits 2011 und 2013 war eine Delegation der Doro-Chiba-Strömung zu Besuch in Berlin. So drängte sich ein Gegenbesuch nahezu auf. In Tokio angekommen, wartete ab der ersten Minute ein gut vorbereitetes Programm auf uns. Ein hoch geschätzter Kollege, der uns schon in Berlin besuchte und sehr gut Deutsch spricht, holte uns nach unserem 11-stündigen Flug am Flughafen ab. Ab diesem Zeitpunkt waren wir also gut betreut und umsorgt, fühlten uns jederzeit bei den FreundInnen herzlich willkommen.

Doro ist eine japanische Bahngewerkschaft, Doro-Chiba ist die Sektion der Region Chiba und diese Sektion ist der kämpferische Teil dieser Gewerkschaft. Der Zentralvorstand von Doro ist darüber natürlich unglücklich. Er hat die Sektion auch schon angegriffen, aber ohne Erfolg, denn Doro-Chiba ist durch seine entschlossenen Mitglieder sehr stark geworden.

Den Termin meines Besuches hatte ich so gelegt, dass wir an deren jährlichen internationalen Treffen und Demonstration in Tokio teilnehmen konnten. Im Vorfeld treffen sich die GewerkschafterInnen der Doro-Chiba nun schon regelmäßig mit ihren südkoreanischen Kollegen der KCTU Gewerkschaft aus Seoul zu einem ausführlichen "Gedankenaustausch". Da das Thema dieses Jahr die Bahnprivatisierung war, konnte ich als Gast einen entsprechenden Beitrag mit meinen Erfahrungen aus Deutschland leisten.


Bahnprivatisierung

Nachdem der südkoreanische Staat in den letzten Jahren zig Milliarden Won in neue Strecken und Züge investiert hat, soll die Bahn jetzt mit der Schnellbahn KTX in den Wettbewerb geschickt und privatisiert werden. In Japan hingegen begann dieser Prozess bereits 1986. Dort wurden zunächst alle Bahnbeschäftigten entlassen und zu neuen Konditionen wieder eingestellt, nachdem die Bahngesellschaft in Regionen zerschlagen worden war. Die japanische JR (Japan Railway) ist zwar offiziell nicht "privatisiert", aber viele Dienste wurden bereits an private Konzerne ausgelagert.

Doch über 1047 KollegInnen - kämpferische und über 55jährige - wurden nicht wieder eingestellt. Sie kämpfen seit 1986 mit Doro-Chiba um ihre Wiedereinstellung und das meinen sie ernst. Einige ArbeiterInnen arbeiten heute für Doro-Chiba oder im Park-Side-Hotel Chiba, das die Gewerkschaft zusammen mit entlassenen EisenbahnerInnen und deren Abfindungen gekauft hat, um ihnen so Arbeit zu ermöglichen.

Doch an Doro-Chiba-Treffen ist die Stimmung gut, und so wird im Anschluss jeweils gefeiert und getrunken, was mir bis dahin so nicht klar war. Zum gemeinsamen Kämpfen gehört in Japan also auch das gemeinsame Feiern.


Die Strömung Doro-Chiba

Am 3. Tag meines Aufenthalts war eine Grosskundgebung der Doro-Chiba-Strömung mit 5600 Personen in Tokio angesagt. Die Strömung ist die politische Verbindung, ein Sammelbecken für kämpferische Gewerkschaften, Initiativen und Organisationen. Man hat sich im Kampf verbündet und verteidigt sich gegenseitig. Sowohl Teile von Grossgewerkschaften als auch StudentInnen, die Anti-AKW-Bewegung, eine Frauengruppe aus Fukushima und sogar die Bauern von Narita und viele mehr haben sich der Strömung angeschlossen. Ab dem ersten Moment gehörte ich zu ihnen, ich habe gespürt, dass diese KollegInnen auch für mich kämpfen würden, wie ich seit diesem Moment auch für sie kämpfe. Der gegenseitige Schutz ist spürbar. Wer Unterstützung braucht, bekommt sie auch, da wird nicht lange gefackelt oder hinterfragt, das heisst: Es geht nicht halbherzig und doppelt kritisch zu und her wie bei uns, alle gehen davon aus, dass die, die als ArbeiterInnen kämpfen, dazu gehören und ihren Grund dazu haben. Das ist ein unbeschreibliches Gefühl des kollektiven Zusammenhalts und Schutzes. So hat dann auch die Doro-Chiba-Strömung als erste Organisation in Japan eine Demonstrationen nach der Fukushima-Katastrophe auf die Beine gestellt und sofort mit der dortigen Bevölkerung reagiert, um gegen das Vertuschen der japanischen Regierung anzukämpfen. Die ArbeiterInnenbewegung ist in Japan zwar nicht sehr stark, dafür ist sie sehr politisch. Die politische Theorie steht nicht im Vordergrund, ist aber in ihrer praktischen Anwendung tief verankert.

An der Kundgebung in Tokio sprachen sehr viele über den Kampf ihrer Gewerkschaft, Bewegung und Initiativen. Genau während meiner Rede sind Lautsprecherwagen von Faschisten vorgefahren und haben meine Rede mit lauten Parolen gestört, vielleicht aus rassistischen Gründen. Sie seien von der Regierung geschickt worden, sagten die KollegInnen. Die Demonstration im Anschluss verlief dann aber sehr ordentlich, am Hauptbahnhof vorbei und durch die Innenstadt. Demonstrationen sind in Tokio nicht üblich, von den ArbeiterInnen wird erwartet, dass sie arbeiten, nicht dass sie demonstrieren. Die Polizei lässt auch keine großen Demonstrationszüge zu, sie verlangt, dass man in kleinen Blöcken geht. Das hat überaschenderweise auch eine schöne Seite. Die Blöcke warten am Ende aufeinander und begrüssen sich persönlich mit einem fröhlichen Abklatschen. Die Demonstration wurde von zig Zivilbeamten begleitet, die sich unablässig Notizen machten, da Doro-Chiba juristisch durchgesetzt hat, das die Polizei keine Foto- und Videoaufnahmen machen darf. Am nächsten Tag fand noch ein grosses internationales Treffen statt, wo noch einmal deutlich wurde, wie stark vernetzt Doro-Chiba ist. Daran nahmen Leute aus ganz Asien, Amerika und nun auch Europa teil.


Fukushima strahlt weiter

Fukushima war ein weiteres Ziel meiner Reise. Wir sind mit dem Shinkansen in die Stadt Fukushima gefahren. Der Bahnbetrieb ist in Japan unglaublich gut organisiert. Anhand nummerierter Tickets weiss man zum Beispiel, wo man sich auf dem Bahnsteig aufstellen muss, denn der Zug hält immer genau gleich. Nachdem alle aus dem Zug ausgestiegen sind, geht eine Putzkolonne von vier Personen rein, säubert alles und kommt in wenigen Minuten wieder raus und verneigt sich vor der Kundschaft. Es ist verrückt zu beobachten, wie schnell die ReinigungsarbeiterInnen arbeiten.

In Fukushima wurden wir von Doro-Chiba-AktivistInnen empfangen. Dort wirkt zunächst alles sehr normal, Weihnachtsschmuck hängt bei 20°C im November an den Geschäften und plötzlich steht da ein Schild, auf dem die aktuellen erhöhten Strahlenwerte zu lesen sind. Glaubwürdig sind diese Werte jedoch nicht. Wenn man mit eigenen Geräten misst - und das taten wir -, merkt man, dass die Schilder viel zu geringe Werte aufzeigen und so Lügen verbreiten. Daher wurde mit einer grossangelegten Spendensammlung auch eine unabhängige Fukushima-Klinik aufgebaut. Sie ist selbstorganisiert, ÄrztInnen kommen von überall aus Japan, um dort in ihrer Freizeit Dienst zu leisten und so unabhängige Therapien zu betreiben. Nur hier können sich die Leute kostenlos und unabhängig von staatlichen Stellen untersuchen lassen und erfahren, wie es wirklich um sie steht. Während die Regierung die Bevölkerung zur Rückkehr in die verseuchten Gebiet auffordern, sagen die unabhängigen ÄrztInnen, es müsste noch auf grösserer Fläche evakuiert werden und gerade Kinder müssten zur Erholung in nicht verstrahlte Gebiete gebracht werden.

Im Container-Dorf der Evakuierten sind die Verhältnisse sehr beengt. Auch haben wir die Strahlenwerte gemessen, die bis zum 83fachen des Normalwerts gehen. Die Evakuierten haben erzählt, dass sie nach der Reaktorexplosion vor Ort nicht informiert worden waren. Sie sahen nur, wie Politiker und deren Familien mit Autos aus dem Gebiet flohen. Dass das AKW beschädigt war, erfuhren sie jedoch erst Tage später, weil es sich herumgesprochen hatte. Wir in Europa wurden also in den ersten Stunden schon besser über die Gefahren informiert als die Betroffenen in der Region Fukushima.


Sich an der Katastrophe reichstossen

Um Fukushima herum verdienen sich nun die gleichen Bauunternehmen mit der Dekontaminierung der Dörfer und Gebiete eine goldene Nase, die zuvor die AKWs von TEPKO gebaut haben. Das ganze Erdreich wird abgetragen, jede Strasse neu bitumiert - der radioaktive Müll einfach in Deponien am Strassenrand aufgeschichtet - es sind Kolonnen von Bauarbeitern unterwegs. Sie müssen Handschuhe und Mundschutz tragen, geschützt sind sie dadurch natürlich nicht vor der weiterhin erhöhten Radioaktivität. Es ist ohnehin alles eine Täuschung, nach dem nächsten Regen wird selbst die dekontaminierte Erde wieder genauso verstrahlt sein wie vorher. Es geschieht nur, damit die Regierung behaupten kann, dass sie etwas unternehme und zudem, damit sich die Bauunternehmen an der Not der Menschen bereichern können. So gibt es nun viele Gewächshäuser, wo die BäuerInnen ihre Wirtschaft betreiben. Ihnen ist klar, dass alles verstrahlt ist, aber sie wissen nicht, was sie sonst tun sollen, sie können ja nicht 500 Jahre lang warten. Es ist ja auch seltsam, wie die Verstrahlung sich verteilt, der Zustand ist sehr wechselhaft, durch Wind und Regen verschiebt sich die Verstrahlung immer wieder. Manche Gebiete sind nicht verstrahlt, währenddessen das Nachbardorf ein Hot Spot ist.

Am Abend dieser sehr bedrückenden Rundfahrt durch die Region Fukushima haben wir noch BahnarbeiterInnen getroffen. Die sollten nach der Katastrophe die Züge kontaminieren und haben erkämpfen müssen, dass sie dafür Schutzkleidung bekommen. Sie konnten sich durchsetzen, das war immerhin eine gute Erfahrung, diesen Besuch in Fukushima so zu beenden..."

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 76, märz / april 2014, Seite 4
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2014