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AUFBAU/364: Llano del Rio, eine sozialistische Utopie


aufbau nr. 74, sept/okt 2013
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Llano del Rio, eine sozialistische Utopie



UTOPISCHER SOZIALISMUS Vor fast 100 Jahren gründeten Sozialistinnen im ländlichen Kalifornien/USA eine Kolonie, um eine sozialistische Utopie zu verwirklichen. Das erste Projekt scheiterte bereits nach 3 Jahren. In New Llano im Staat Louisiana/USA, wohin die Gemeinschaft umsiedelte, existierte die Kolonie weitere 20 Jahre.


(agfkzh) Einer der Gründer der "Kolonie"(1), wie sie das Projekt nannten, war Job Harriman. Er wuchs in einer äusserst religiösen Familie auf, stellte aber als junger Erwachsener fest, dass kritische Zweifel den Menschen befreien und nicht der religiöse Glaube, den er als Falle und Gefängnis bezeichnete, welcher intellektuelle Fähigkeiten zerstöre. Er las Karl Marx und Literatur über Sozialismus, was grossen Einfluss auf ihn hatte. Er wurde Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei SLP (Socialist Labor Party) und zog 1896 nach Los Angeles.


Die Vorgeschichte

Nach einem Jurastudium wurde er Anwalt und verteidigte revolutionäre Linke, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Er wurde bald zum bekanntesten Anwalt für die Redefreiheit im Staat Kalifornien. Gegen ihn machte sich der Besitzer der Los Angeles Times, Harrison Gray Otis, stark. Er versuchte, in der Stadtverwaltung ein Versammlungsverbot und ein Verbot für öffentlichen Protest zu bewirken. Otis war ein massiver Gegner der sich formierenden ArbeiterInnen-Bewegung, was sich noch verstärkte, als 1890 die Times-Schriftsetzer ihre Arbeit niederlegten. Otis war unermüdlich in seinen Anstrengungen, die wachsende Organisierung der ArbeiterInnen zu bekämpfen. Im Oktober 1910 wurde ein Bombenanschlag auf das Gebäude der Los Angeles Times verübt, der zwanzig Menschen tötete und das Gebäude vollständig zerstörte. Angeklagt wurden die zwei McNamara Brüder, zwei Gewerkschafts-Aktivisten, die sich für unschuldig erklärten. Job Harriman übernahm ihre Verteidigung. Harrison Gray Otis wies alle Schuld an dem Bombenattentat den Gewerkschaftern zu.

1910 kandidierte Harriman für das Bürgermeisteramt in Los Angeles und hatte für seine Kandidatur die Unterstützung der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften. In der Times konnte man lesen, ein Bürgermeister wie Harriman bedeute "eine Orgie des Bösen". Harrimans Mit-Verteidiger Clarence Darrow sprach sich ohne Harrimans Wissen mit der Anklage und Harrison Gray Otis ab und überredete die McNamara Brüder, sich schuldig zu bekennen. Nur wenige Tage vor den Bürgermeisterwahlen bekannten sich die McNamara Brüder Schuldig. Dies machte Harrimans Chance, gewählt zu werden, zunichte, obwohl er davor der erfolgreichste Kandidat gewesen war.


Der Beginn von Llano del Rio

Desillusioniert durch die erfolglosen Versuche, in einem politischen Amt eine Veränderung zu bewirken, wandten sich Harriman und eine Gruppe gleichgesinnter SozialistInnen der Verwirklichung der Idee zu, in einer autarken(2), sozialistischen Gemeinschaft zu leben. 1914 kauften sie ein 8 km2 grosses Grundstück im Antelope Valley, Kalifornien, um dort eine Kolonie zu gründen, der die Gruppe den Namen "Llano Del Rio" gab. Zum Land gehörten ebenfalls Wasserrechte, ein wichtiger Faktor in der Wüste. Die Gruppe gab Anzeigen in der sozialistischen Presse auf und bot interessierten Leuten Aktien für 500 Dollar an, um Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Darüber hinaus sollte jede Familie ein Minimum von 2000 Dollar zum Nutzen der gesamten Gemeinschaft beitragen. Damit auch mittellose Leute die Möglichkeit dazu haben sollten, konnten diese Beträge auch später durch den Llano-Lohn bezahlt werden.

Etwa 100 mehrheitlich junge Leute kamen im Mai 1914 in die Kolonie. Im folgenden Frühling hatte sich die Anzahl Leute mehr als verdoppelt und altersmässig diversifiziert. Llano hatte einen Vorstand, der von Harriman geleitet wurde. Aber die Tagesgeschäfte wurden in Vollversammlungen und in etwa 60 Ausschüssen besprochen, die mit einer eigenen Verwaltung und Agenda funktionierten. Zwischen Ende 1914 und Anfang 1917 wuchs die Kolonie auf fast 900 Menschen. Es konnten jedoch nicht schnell genug genügend Häuser und Strukturen aufgebaut werden. Neue KolonistInnen kamen teilweise unvorbereitet in die neue Umgebung und hatten wohl nicht mit einer rauen Umgebung und den Mühen eines neuen Aufbaus gerechnet.

Trotz der Schwierigkeiten war Llano del Rio ein lebendiges HandwerkerInnen-Dorf mit vielen Kindern. Im Jahre 1916 beherbergte es eine der ersten und grössten Montessori-Schulen(3) in Kalifornien. Es gab eine Theatergruppe, Buchclubs und einen Chor, und es wurde eine Zeitung, der "Llano Colonist" herausgegeben. Die Kolonie verfügte über eine Molkerei, eine Bäckerei, ein Sägewerk, eine Konservenfabrik, einen Kalkofen, eine Seifenfabrik, eine Gerberei, eine Färberei, eine Werkstatt und sogar ein Hotel. Auf den Feldern wurde Luzerne, Mais und Getreide angepflanzt und es gab einige Birnenplantagen. An Feiertags-Paraden in Palmdale (der nächst grösseren Stadt) war das Llano Strassenorchester eine Attraktion und das rot gekleidete sozialistische Baseball Team von Llano soll bei Gastspielen in anderen Ortschaften unschlagbar gewesen sein.

Nach einiger Zeit zeigte sich, dass aufgrund einer unterirdischen Erdbeben-Verwerfung Wasser abfloss und das vorhandene Wasser für die immer grösser werdenden Bedürfnisse der Kolonie nicht mehr genügte. Die begrenzte Wasserversorgung wurde ein kritisches Thema. Die Kolonie wurde ein Opfer ihres eigenen Erfolgs, denn das schnelle Wachstum verschärfte die bestehenden organisatorischen und strukturellen Probleme. Die KolonistInnen beschlossen, einen neuen Ort zu suchen. 1917 kauften sie im ländlichen Louisiana etwa 17 km2 Land.

Nach Ausbruch des ersten imperialistischen Krieges mussten viele Männer ins Militär einrücken. Ende 1917 verliessen etwa zweihundert KolonistInnen, mit allem was sich transportieren liess, Llano del Rio und zogen nach Stables in Louisiana, um dort die neue Kolonie, "New Llano" aufzubauen. Nur wenige blieben in der alten Kolonie zurück, um sich vor allem um die Birnenplantagen zu kümmern. G.P. McCorkle, ein wohlhabender links orientierter Bankier und Llano-Investor, wollte jedoch aus den Birnenplantagen Gewinn herausschlagen und er begann, gegen Barzahlung Aktien von anderen KolonistInnen zu kaufen. Er wollte den Obstgarten als eigenes Projekt und ohne das sozialistische Element führen. Harriman wehrte sich gegen McCorkles Pläne und erkämpfte einen juristischen Sieg, aber McCorkles Aktivitäten hatten Llano del Rio in den Bankrott getrieben.


New Llano, ein zweiter Versuch

Die Kolonie New Llano war langlebiger als Llano del Rio. Obwohl das Leben nicht einfach war, darbte niemand, weder physisch noch intellektuell. So warb New Llano in "The Colonist" um neue Mitglieder: "Liebe/r FreundIn, wie würde es dir gefallen, in einer Gemeinschaft zu leben, wo man keine Miete bezahlen muss, keine Lebensmittelrechnungen, Wasser, Strom oder Benzinrechnungen, wo man kein Geld für den Arzt oder die Krankenschwester ausgeben muss? Wo du gratis zur Musik eines guten Orchesters auf einem der schönsten Tanzböden in Louisiana tanzen kannst? Wo jede Anstrengung unternommen wird, um dir eine Arbeit oder Position zu bieten, die dir am besten gefällt und in der du gut funktionieren kannst? Wo du gleichberechtigte/r BesitzerIn von diesem weiten Land und allem, was sich darauf befindet, bist?"


Ähnliche Strukturen wie in Llano del Rio

Es gab viele Tiere auf New Llano: Kühe, Schweine, Ziegen, Hühner, Pferde und Maultiere. Aber die Menge der produzierten Landwirtschafts-Produkte war klein, kleiner als in Llano del Rio. Es wurde eine Menge Energie in die Entwicklung der Handwerke und der Industrie investiert: eine Konservenfabrik, eine Schreinerei, eine Druckerei, eine Korbfabrik und eine Eisfabrik, in der die Lebensmittel des ganzen Gebietes gelagert werden konnten. Ein Hotel wurde eingerichtet, Feuerholz wurde geschlagen und verkauft.

Politisch positionierte sich New Llano nicht mehr so klar für den Sozialismus. Dies hatte damit zu tun, dass neue Mitglieder nicht selektiv ausgewählt wurden. Es kamen MarxistInnen, PazifistInnen (eine der ideologisch organisiertesten Gruppen), ChristInnen und auch Liberale. Um 1930 gehörte zwar das ganze Land der Kolonie. Trotzdem war New Llano permanent in grossen finanziellen Schwierigkeiten und benötigte die Spenden dringend, die von UnterstützerInnen auch ausserhalb von New Llano kamen. In der Zeit der Wirtschaftskrise kamen sehr viele enttäuschte und arbeitslose Menschen nach New Llano mit der Hoffnung, an einer sozialistischen Alternative zum gescheiterten Kapitalismus mitarbeiten zu können. Die wirtschaftliche und finanzielle Lage wurde immer schwieriger. In den folgenden Jahren gab es viele Diskussionen und Streitigkeiten über die politische und wirtschaftliche Führung der Kolonie, die schlussendlich zum Auseinanderfallen der Gemeinschaft führte.

In den späten 1930er Jahren löste sich die Kolonie auf und es folgten teilweise jahrelange Prozesse betreffend New Llanos Finanzen.


ANMERKUNGEN

(1) Das Wort Kolonie hängt mit dem Begriff Kolonisation zusammen und bedeutet im Kern eine Landnahme. Es ist ein wesentliches Instrument der Machtausdehnung imperialistischer Staaten. Die Llano Gemeinschaft verwendete diesen Begriff für eine Siedlung innerhalb der USA mit einer von der Struktur der USA verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Form.

(2) Organisationseinheit oder Ökosystem, in der sie alles, was sie ver- oder gebrauchen, aus eigenen Ressourcen selbst erzeugen oder herstellen.

(3) Pädagogisches Bildungskonzept nach Maria Montessori, welches das Kind als "Baumeister seiner Selbst" sieht und deshalb die Form des offenen Unterrichts und der Freiarbeit verwendet. Sie kann insofern als experimentell bezeichnet werden, als die Beobachtung des Kindes den Lehrenden dazu führen soll, geeignete didaktische Techniken anzuwenden, um den Lernprozess maximal zu fördern.


KASTEN
 
DIE EMANZIPIERTE STADT

Die Pläne für die Stadt Llano del Rio wurden von Alice Constance Austin entworfen. Sie war Architektin, Stadtplanerin, Sozialistin und radikale Feministin. Austin wurde im Frühjahr 1910 von Job Harriman beauftragt, eine kooperative Gemeinschaft in der Mojave Wüste in der Nähe von Palmdale, Kalifornien zu planen. Austins Pläne zeigen eine kreisförmige Stadt mit sechs Sektionen für Wohnräume mit einem Kreis in der Mitte, in dem sich eine Aula und Verwaltungsräume befinden. In einem weiteren Kreis im Zentrum befinden sich ein Restaurant, eine Kirche, eine Schule, und ein Markt. Die Stadt sollte später einmal für mehr als 10000 Menschen Platz bieten, enthielt in ihrem Entwurf aber erst 900 Wohneinheiten.

Die Häuser der Stadt waren moderne feministische Entwürfe, küchenlose Häuser, zu denen warme Mahlzeiten durch unterirdische Tunnels von einer zentralen Küche geliefert werden sollten. Es gab Bereiche mit kommunalen Kindertagesstätten.

Austin minimierte die Innenausstattung in den Häusern, um die Menge der Hausarbeit zu verringern. Die Häuser hatten Einbaumöbel, Rollbetten und beheizten Fliesenboden, und es war geplant, später eine U-Bahn zu bauen, um PendlerInnen, Wäsche und Warenlieferungen zu transportieren. Ihre Stadt würde die Hausarbeit minimieren, die Kinderpflege erleichtern, und Frauen von traditionellen Haushaltspflichten befreien, damit sie wie die Männer in öffentlichen Bereichen arbeiten und sich bewegen konnten. In der Privatsphäre plante sie Komfort, Effizienz, Funktionalität und kollektive Hausarbeit. Die Minimierung der häuslichen Arbeit betrachtete Austin als zentral, da sie sie für ein Hindernis für die Emanzipation der Geschlechter hielt.

Austins feministisches Konzept ergänzte Harrimans sozialistische Ideen, da beide die patriarchale Geschichte des "sozialen Status" in Frage stellten. Sie wollten einen konzeptionell völlig neuen Typ Stadt. In ihren Plänen stellte Austin Sicherheit im öffentlichen Bereich in den Vordergrund. Auch plante sie bezahlbare Wohnungen für Frauen, die nach einer Scheidung in Not geraten waren.

Alice Austins feministische Entwürfe und Ideen haben noch heute einen Einfluss auf Diskussionen zu Stadtplanungsprojekten aus frauenspezifischer Sicht.

Ob Llano del Rio oder New Llano tatsächlich gemäss Austins Plänen erbaut wurden, konnten wir leider nicht in Erfahrung bringen.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau nr. 74, sept/okt 2013, Seite 10
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Basel@aufbau.ch
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2013