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AUFBAU/290: Geopfert auf dem Altar des Wirtschaftswachstums


aufbau Nr. Nr. 65, Mai/Juni 2011
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Geopfert auf dem Altar des Wirtschaftswachstums

INDIEN - Der kollektive Kampf gegen Landenteignungen durch den Staat oder Konzerne wie Tata Motors, dem grössten Automobilhersteller Indiens, wird an einem beispielhaften und mutigen Kampf einer Frau erzählt. Ein Beispiel unter Tausenden.


(agkkz) Tapasi Malik(1) ist in einem kleinen Bauerndorf in Singur, im indischen Bundesstaat West Bengalen aufgewachsen. Da ihre Familie sehr arm war, musste sie nach dem 8. Schuljahr die Schule verlassen, um ihrer Mutter zu Hause zu helfen, trotzdem war sie in ihrer Familie diejenige mit der besten Bildung.

Anfangs 2006 kündigte die in diesem Bundesstaat regierende CPM(2) an, dass rund 1000 Hektar Land von Tata Motors gebraucht würden, um darauf eine Autofabrik zu bauen. Tapasi und ihre Familie waren nicht die Einzigen, die das nicht so ohne weiteres hinnehmen wollten. Denn dieses fruchtbare Land gehörte den ansässigen Bauern, niemand wollte eine Riesenfabrik anstelle des Dorfes. So organisierte sich die Bevölkerung des betroffenen Gebietes, zumeist Bauern und arme Handwerker, um Aktionen durchzuführen, darunter auch Tapasi. Sie half mit, Demonstrationen in den Dörfern zu koordinieren, nahm an Hungerstreiks teil und entwickelte sich so zu einer Exponentin der Protestbewegung gegen den Landraub. Auch nachdem sie von einem Funktionär der CPM bedroht wurde, liess sie in ihren Aktivitäten nicht nach; sie nahm an Kongressen teil und baute Jugendorganisationen auf, die an Demonstrationen und Blockaden beteiligt waren. So war es denn auch am 17. Dezember 2006, als Tapasi die Jugend der umliegenden Dörfer zu einer Demonstration mobilisiert hatte. "When you sing, never hold back, give it all!" habe sie die Leute angefeuert, die Parolen lauter zu rufen. Am nächsten Morgen früh, als ein paar Bauern aus der Nachbarschaft in ihr Dorf kamen, sahen sie über dem eingezäunten Gebiet, wo dereinst Tata seine Motorenwerke aufbauen will, Rauch aufsteigen. Sie fanden Tapasis Leiche in einer ausgehobenen Grube. Sie war vergewaltigt worden, bevor man sie bewusstlos prügelte, man hatte sie in diese Grube geworfen, mit Benzin übergossen und anschliessend lebendig verbrannt. Diese grausame Hinrichtung löste eine Welle von Protesten aus, die weit über die lokale Bevölkerung hinausging. Progressive Frauenorganisationen, MenschenrechtsaktivistInnen, StudentInnen-organisationen, alle forderten die rasche Aufklärung des Mordes. Die regierende CPM liess zuerst verlauten, Tapasi habe Selbstmord begangen. Anschliessend hiess es, es habe Streit in der Familie gegeben und ihr Vater und Bruder hätten sie umgebracht. Nach grossem öffentlichem Druck wurde eine unabhängige Untersuchungskommission eingesetzt. Diese Ermittlungen führten letztendlich zur Verurteilung zweier Politiker der CPM selbst, die gestanden, 4 Männer mit der Ermordung Tapasis beauftragt zu haben, mit dem Ziel, die lokale Bevölkerung, insbesondere die Jugend und die Frauen, einzuschüchtern und damit die Proteste zu schwächen.


Tschernobyl - Fukushima - Jaitapur?

Trotz Japan: Der französische Industriekonzern Areva investiert in den Bau neuer AKWs in einer hochriskanten Erdbebenzone Indiens. Dabei soll das weltweit grösste AKW entstehen.

Im Lichte der Atomkatastrophe in Japan erhält ein ähnliches Grossprojekt des indischen Staates eine noch weitaus grössere Tragweite. In Jaitapur, im Bundesstaat Maharashtra, ist das weltweit grösste Atomkraftwerk geplant. Letzten November unterschrieben Premier Manmohan Singh und Frankreichs Premier Sarkozy einen Vertrag über rund 25 Milliarden Dollar, wonach Frankreichs Konzern AREVA Indien 6 Kernreaktoren liefern wird. Weitere Kraftwerke sollen zu einem späteren Zeitpunkt folgen.

Die Sorgen der Anwohner gehen dabei über die rund 950 Hektar Land hinaus, die für sie verloren gehen würden. Sie befürchten einen starken Einfluss aufs lokale Ökosystem. So soll das AKW beispielsweise mit Meerwasser gekühlt werden, das anschliessend heiss wieder ins Meer geleitet wird. Dies in einer Region, wo Tausende vom Fischfang leben.

Enorm heikel ist auch die seismologische Lage Jaitapurs - Experten stufen die Region auf einer Erdbebenrisikoskala von 5 auf Stufe 4 ein. Das direkt an der Küste liegende Jaitapur, das nur knapp 300 km von Mumbai(3) entfernt liegt, wurde zwischen 1985 und 2005 von 92 stärkeren Beben erschüttert. Welche verheerenden Folgen die Kombination von Atomkraft und Erdbeben in Küstengebieten haben kann, dürfte uns mittlerweile allen klar sein.

Von all diesen Dingen will Premier Singh und seine Congress Party, die in Maharashtra regiert, nichts wissen. Obwohl alle anderen bürgerlichen Parteien, von Umweltorganisationen und den AnwohnerInnen ganz zu schweigen, schwere Bedenken anmelden, wurde das Milliardenprojekt durchgewunken. Dabei mögen auch politische Faktoren eine entscheidende Rolle gespielt haben. So stellte Frankreichs Premier Indien einige Leckerbissen in Aussicht, beispielsweise eine Beteiligung Indiens am Französischen Raumfahrtprogramm, oder dass Frankreich sich für einen ständigen Sitz Indiens im Uno Sicherheitsrat einsetzen wolle.

Diese kritiklose Zustimmung der indischen Regierung ist umso bedenklicher, als dass AREVA, die den Aufbau der Reaktoren übernehmen wird und später das AKW mit Brennstoff versorgt, in anderen Ländern wiederholt in der Kritik stand. Im afrikanischen Niger beispielsweise haben Umweltorganisationen in der Umgebung von Uranminen der AREVA stark erhöhte Strahlenbelastungen gemessen, sei es in Gewässern oder in nahe liegenden Städten. Unzählige Arbeiter, die in T-Shirts und Shorts in den Uranminen arbeiten, erleiden teils schwere Strahlenschäden, da sie nicht mit Schutzausrüstung ausgestattet werden. Viele Arbeiter aus diesen Minen sterben frühzeitig an Krankheiten wie Lungenkrebs, das - von AREVA gesponserte Krankenhaus prognostiziert AIDS oder Malaria.

Ähnlich rücksichtslos geht AREVA mit der Umwelt in ihrer Heimat um. In der Wiederaufbereitungsanlage "La Hague" werden täglich 400 Kubikmeter radioaktiv verstrahltes Wasser in den Ärmelkanal geleitet. Das ist zwar schädlich für die Umwelt, aber nicht illegal, da eine derartige Entsorgung von radioaktivem Müll ins Meer nur dann verboten ist, wenn der Müll in Behältern, z.B. Fässern, verpackt ist. Wenn die Strahlung direkt ins Meer gelangt, ist das erlaubt.

Kein Wunder also, dass sich die betroffene Bevölkerung in Indien wehrt. Bereits Anfang Dezember letzten Jahres gingen Tausende auf die Strasse, nachdem Frankreich und Indien den Vertrag unterschrieben hatten. Mitte Dezember dann wurde ein Aktivist der Anti-AKW Bewegung in einem "Autounfall" von einem Polizeijeep totgefahren. Seitdem finden ununterbrochen Hungerstreiks, Kundgebungen und Demonstrationen statt. So wurde der Präsident der Regierung des Bundesstaates Ende Februar von Tausenden DemonstrantInnen empfangen, als er den Standort des Atomkraftwerkes besichtigen wollte. Die Regierung antwortete mit Repression. An einer einzelnen Aktion, als Tausende eine Menschenkette um das Gelände bildeten, nahm die Polizei rund 1500 Menschen fest. Gemäss der Aussage des indischen Umweltministers sei das Projekt Jaitapur eine beschlossene Sache, die Verträge seien bereits unterschrieben, Beschlüsse gefasst.

Diese Beispiele von Landaneignung durch den indischen Staat direkt, oder mit seiner Genehmigung durch Grosskonzerne, spiegeln wider, was in Indien im Moment in grossem Massstab vor sich geht. Rund 500 Sonderwirtschaftszonen gibt es bereits in Indien, weitere folgen. Jedes einzelne dieser Projekte, die im Namen des Fortschritts und der wirtschaftlichen Entwicklung vorangetrieben werden, vertreibt Tausende von Menschen aus ihren Häusern und aus ihrem Alltagsleben.


Operation Green Hunt geht immer noch weiter

Diese Politik, die die grundlegendsten Menschenrechte der untersten Klassen des indischen Volkes so krass missachtet, findet ihre offensichtlichste Manifestation in der Militäroperation "green hunt", die seit Mitte 2009 läuft und für geplante 5 Jahre andauern wird. 100.000 Soldaten und Paramilitärs, unterstützt von 100.000 bis 300.000 Polizisten (je nach Quelle) wurden aufgeboten, um "die grösste Bedrohung der inneren Sicherheit" (Premier Singh) - die CPI(Maoist) zu vernichten.

Das ist jedoch de facto eine Kriegserklärung an die Bevölkerung ganzer Landstriche. Denn die CPI(Maoist) und die mit ihr verbundenen Massenorganisationen sind ja nicht eine von aussen kommende Besatzungsmacht, die man mit militärischen Mitteln vertreiben könnte. Sie sind selber zu 99% Adivasi und Dalits, Bauern und Landarbeiter, die zu den Waffen gegriffen haben, um ihrem Elend zu entfliehen, um Grossgrundbesitzer und Fabrikbesitzer, ja die indische Staatsmacht, unter der sie verhungerten, zu verjagen.

Green Hunt soll diese Gebiete, in welchen die Einwohner teilweise ihre eigenen Volksregierungen aufgebaut haben, nun wieder unter die Kontrolle des indischen Staates bringen. Wohl nicht zuletzt, da diese weitläufigen Waldgebiete oft sehr reich an Bodenschätzen wie Bauxit, Diamanten oder Eisen sind. Sonderwirtschaftszonen und Kohleminen sollen da aufgebaut werden, wo zurzeit Volkskomitees Hunger und Armut bekämpfen. Hunderte von Bauerndörfern werden niedergebrannt, um die Bauern zu zwingen, in sogenannte "Peace Camps" umzusiedeln. Wer sich weigert zu gehen und weiterhin seine eigenen Reisfelder bebaut, wird automatisch zum Maoisten, "Kill on Sight": Zum Abschuss freigegeben.


Anmerkungen:

(1) "woman martyrs of the indian revolution", bd. 2, s. 104, entnommen aus einer zweibändigen Zusammenstellung von 500 Biographien von verstorbenen Kämpferinnen, herausgegeben von der CPI(maoist)

(2) Communist party of india (marxist), reformistische Partei, welche in diesem Bundesstaat seit 34 Jahren an der Macht ist. Wird von der CPI(Maoist) als faschistisch bezeichnet.

(3) Ehemaliges Bombay, die Metropolregion hat geschätzte 23 Millionen Einwohner.


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur), Arbeitsgruppe Jugend (agj)


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Quelle:
aufbau Nr. 65, Mai/Juni 2011, Seite 11
HerausgeberInnen:
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Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2011