Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

AUFBAU/219: Frankreich - Generalstreik, Und nun?


aufbau Nr. 57, Mai/Juni 2009
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

KLASSENKAMPF
Generalstreik, Und nun?


FRANKREICH - Die Krise hat auch Frankreich fest im Griff. Während die Regierung von einem zu reformierenden Kapitalismus spricht, stehen immer mehr ArbeiterInnen und Angestellte auf der Strasse.


(rabe) Zum Protest gegen die Politik der Regierung Sarkozy gab es dieses Jahr bereits zwei eintägige Generalstreiks. Wir hatten Ende März Gelegenheit mit einem Aktivisten zu sprechen.

FRAGE: In Frankreich fanden in diesem Jahr bereist zwei eintägige Generalstreiks statt, über die hier zwar berichtet wurde, aber über die gesamte Situation in Frankreich erfährt man weniger. Wie sieht die Situation in Frankreich in der aktuellen Krise aus?

ANTWORT: Die Arbeitslosigkeit nimmt rasant zu: in den ersten beiden Monaten von 2009 haben sich zusätzlich je 80.000 bis 90.000 als arbeitslos angemeldet. Gegenüber dem Vorjahr ist nach den offiziellen Zahlen der Regierung die Arbeitslosigkeit um 19% höher, das entspricht mittlerweile knapp 2,4 Millionen Arbeitslose. Laut einer unabhängigen Stelle, die auch Teilzeitarbeitslose mitzählt, sind in Frankreich über 3,5 Millionen Menschen als arbeitslos gemeldet. Das INSEE (institut national des statistiques et des études économiques) rechnet damit, dass von Januar bis Mai in Frankreich 3.860.000 Stellen verschwinden.

Gleichzeitig versuchen Unternehmensleitungen, unter Berufung auf die Krise und die verschärfte Konkurrenz die Arbeitszeiten auszudehnen bei gleich bleibendem Lohn. Für besonderes Aufsehen hat die Schliessung eines Werks des Reifenfabrikanten Continental in Clairoix gesorgt, wo schon vor zwei Jahren die Wochenarbeitszeit erhöht worden ist mit der Angabe, damit würde der Verschiebung der Produktion nach Osteuropa vorgebeugt. Überall stellen die Patrons Prekarisierung des Arbeitsverhältnisses und die Steigerung der Ausbeutungsrate auf die Tagesordnung. Beim Thermostate-Hersteller PME in Grenoble, der den ArbeiterInnen ohne Prämien nicht einmal der Mindestlohn (rund 1300 Euros im Monat) ausbezahlt, hat der Direktor im März die Streichung des 13. Monatslohns angekündigt. Die Belegschaft hat sich wie auch im Fall von Continental gewehrt.

Verschärft werden die Probleme der Krise durch die Reformprojekte der Regierung Sarkozy. Diese führen zu Stellenabbau im Service Publique. Jährlich werden zehntausende von Stellen nur schon im Bildungsbereich gestrichen. Gleichzeitig bewirken die Reformen Verschlechterungen, z. B. was den Zugang zur Gesundheitsversorgung oder eben zur Bildung betrifft. Im Bereich der Post, der Bahn, der Spitäler und der Bildung sind Protestbewegungen aktiv.

FRAGE: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in der momentanen Bewegung?

ANTWORT: Die grossen Gewerkschaften haben sich zusammengetan und die Mitglieder zwei Mal zum eintägigen Generalstreik aufgerufen. Gemeinsamer Nenner ist die Gegnerschaft zur Krisenpolitik der Regierung Sarkozy. Die reformistischen Gewerkschaften fordern eine Stärkung der Kaufkraft, soziale Massnahmen, insbesondere Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit. Nach dem 29. Januar mit 2,5 Millionen DemonstrantInnen hat die Regierung Geld für völlig unzureichende, soziale Massnahmen ausgeschüttet, die insgesamt ein Bruchteil dessen darstellen, was die Regierung für Banken und Unternehmen locker gemacht hat. Nach dem 19. März mit sogar 3 Millionen Protestierenden hat die Regierung ein Eingehen auf die Forderungen kategorisch abgelehnt. Die Gewerkschaften ihrerseits wollen erst am 1. Mai wieder gemeinsam zu Protesten aufrufen, nicht einmal zum Generalstreik also, denn der Tag der Arbeit ist in Frankreich ein Feiertag.

Das Paradox, dass sie trotz grösserer Mobilisierung sich mit gar nichts abspeisen lassen, ohne zu neuen Kampfmassnahmen zu greifen, ruft weit herum Unverständnis und Häme hervor. Die beiden Streiktage haben bei der überwiegenden Mehrheit Sympathien genossen.

Ihre Ratlosigkeit vermögen die französischen Gewerkschaften kaum zu kaschieren. Der eintägige Generalstreik ist das härteste Kampfmittel, zu dem die meisten von ihnen zu greifen bereit sind. Wenn die Regierung darauf nicht reagiert, sind sie mit ihrem Latein am Ende.

Die bisherige Mobilisierung der Gewerkschaften wird auch von der Basisgewerkschaft SUD und den Parteien und Gruppierungen weiter links unterstützt. Wobei von ihnen radikalere Mittel gefordert werden, etwa der unbefristete Generalstreik nach dem Vorbild der Übersee-Departemente. Dort wurde mit einem sechswöchigen Streik ein Teil der dortigen Forderungen durchgesetzt.

FRAGE: Wie sieht die Bewältigungsstrategie der französischen Regierung gegenüber der Muse aus, wie reagiert sie auf die soziale Bewegung?

ANTWORT: Die Regierung Sarkozy hat keine Bewältigungsstrategie gegenüber der Krise. Sozial beschränken sich die Massnahmen auf kosmetische Einmalzahlungen von 200-500 Euro, die nicht geeignet sind, den von der Krise am härtesten Getroffenen wirklich aus der Patsche zu helfen. Ernsthafte Zuwendungen erhalten Unternehmen und Banken, was die Regierung als Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit verkauft. Was davon zu halten ist, ist den oben genannten Arbeitslosenzahlen zu entnehmen.

Die Reformwut, mit der Sarkozy angetreten ist, hat auch nach dem vollen Ausbruch Krise nicht nachgelassen. Reform ist dabei gleichbedeutend mit Abbau: Stellenabbau, Abbau von kulturellen und sozialen Einrichtung, Einschränkung von Rechten und von der relativen Eigenständigkeit der Forschung und der Medien. Am schwerwiegendsten ist der Bildungsbereich vom Abbau betroffen.

Empfindlich gestört zeigte sich die Regierung von der Blockadebewegung gegen die Reformprojekte an den Gymnasien (lycées) Ende 2008 und die mittlerweile 9 Wochen anhaltenden Streiks an den Universitäten. Sarkozy droht es sieh mit den künftigen Eliten zu verscherzen. Diese Bewegungen waren die ersten, die mit ihren Protesten der Regierung einzelne Zugeständnisse abringen konnten.

Das Vorgehen der Regierung ist dabei immer etwa dasselbe. Zuerst versucht sie, den Widerstand gegen die Reform auszusitzen, wenn das nicht klappt, werden möglichst geringe Teilforderungen erfüllt, die Reform wird um ein Jahr hinausgeschoben und - Gipfel des gouvernementalen Entgegenkommens - einE VerantwortlicheR für einen oder mehrere Problembereiche ernannt. Schliesslich wird Druck auf die Streikenden durch die Administration oder die Rektoren ausgeübt. Auf diese Weise sind die Blockaden an den Gymnasien zusammengebrochen, und die Reformen werden dort nun munter weiter umgesetzt.

Nicht aufgegangen ist diese Taktik bisher an den Universitäten. Hier tritt die Auseinandersetzung Anfang April in eine heisse Phase. Die Ministerin für höhere Bildung Valérie Pécresse will die Streiks beendet sehen, und hat damit gedroht, den Studierenden das Semester andernfalls nicht anzurechnen. Einige Rektoren haben sich dem angeschlossen und die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs anberaumt, teils in offenem Widerspruch zum demokratischen Beschluss der Generalversammlungen von StudentInnen, ProfessorInnen und Universitätspersonal, die Blockaden fortzusetzen. Daneben setzt die Regierung seit einigen Wochen aber auch auf verschärfte und gezielte Repression. Besonders engagierte StudentInnen werden verhaftet, Demonstrationen niedergeknüppelt, besetzte Unis wie in Toulon, Paris oder Strassburg gewaltsam geräumt.

Offenbar geht es dabei um ein neues Vorgehen der Regierung Sarkozy, das auch für die Bekämpfung der Gewerkschaftsbewegung richtungsweisend werden könnte. Die Regierung geht auf Forderungen nicht mehr ein. Sie vertraut darauf, dass der Widerstand sich auf ideologische oder repressive Art brechen lässt.

FRAGE: Hier hört man ab und zu von Aktionen wütender ArbeiterInnen gegen "ihre" Patrons, was kannst du uns darüber berichten?

ANTWORT: Im März ist es in mehreren Betrieben zu Konflikten gekommen. Der Fabrikdirektor vom bereits genannten Ableger von Continental in der Picardie, der die Einstellung der Produktion und die Entlassung der 1120 ArbeiterInnen denselben verklickern wollte, hat nähere Bekanntschaft mit rohen Eiern gemacht. Gleich eine Nacht lang festgehalten wurde der Generaldirektor von Sony Frankreich von der aufgebrachten Belegschaft einer Produktionsstätte, die geschlossen werden soll. Noch länger unter Obhut der ArbeiterInnen befand sich der Direktor einer Fabrik des profitablen Pharmaherstellers 3M, der sich weigerte, auf einen sog. "Sozialplan" zurückzukommen, der die Streichung von knapp der Hälfte der Stellen vorsieht. Das zeitweilige Festhalten von Firmenbossen, das immer häufiger wird, kann in der Bevölkerung und selbst in den Medien mit Verständnis rechnen, während die Bestreikung von Firmen in Frankreich ohnehin als selbstverständlich gilt. Die Aktionen sind jedoch oft auf einzelne Betriebe beschränkt, eine effiziente Vernetzung der Kämpfe ist noch kaum vorhanden.

FRAGE: Die StudentInnen und ProfessorInnen scheinen keine Berührungsangst mit der ArbeiterInnenbewegung zu haben. Gibt es gemeinsame Aktionen/Forderungen? Wie war die Beteiligung der StudentInnen am Generalstreik?

ANTWORT: Die meisten Universitäten wurden ohnehin bereits bestreikt, an den Tagen des Generalstreiks blieben auch einige sonst streikbrecherische Unis geschlossen. Die Zahl der StudentInnen auf den Strassen am 19. März wird auf über 100.000 geschätzt.

Die Bewegung an den Universitäten sieht sich selbst als eine soziale Bewegung und erhebt Forderungen, die im Interesse vieler StudentInnen sind, aber auch die darüber hinausgehen. Es wird mancherorts aus der Universitätsbewegung heraus auch zu interprofessionellen Komitees und Aktionsgruppen aufgerufen. Diese vermögen tatsächlich sehr aktive Leute aus verschiedensten Bereichen zusammenzuführen, bleiben als Gruppen aber doch relativ klein. Nachdem die gewerkschaftliche Forderung nach Steigerung der sogenannten Kaufkraft nicht erfüllt wurde, haben StudentInnen in mehreren Städten Picknicks in grossen Warenhäusern veranstaltet. In der Regel beteiligt sich die Kundschaft der Warenhäuser gern am geselligen Anlass. Diese Aktionen, wie auch die verbreiteten Blockadeaktionen gehen den meisten Gewerkschaften zu weit und werden von diesen nicht unterstützt, vereinzelt sogar bekämpft. Dabei bleiben die Forderungen selbst radikalerer Komitees bisher allzu zurückhaltend. Hinter Forderungen wie "Anhebung der Kaufkraft" oder "Erhaltung des Service publique" können sich zwar sowohl ArbeiterInnen, als auch StudentInnen und ProfessorInnen stellen. Als systemimmanente Forderungen weisen sie aber über das kapitalistische Gesellschaftsmodell nicht hinaus.


*


Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Arbeitsgruppe Winterthur (agw), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur)


*


Quelle:
aufbau Nr. 57, Mai/Juni 2009, S. 4
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Bern, Postfach 87, 3174 Thörishaus
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich, Fax 0041-(0)44/240 17 96
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org

aufbau erscheint fünfmal pro Jahr.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
aufbau-Jahresabo: 30 Franken, Förderabo ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2009