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ARBEITERSTIMME/373: Volksparteien in der Krise


Arbeiterstimme Nr. 200 - Sommer 2018
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Volksparteien in der Krise


Die Wahlen in Deutschland und Europa zeigen schon seit einigen Jahren eine ähnliche Tendenz an: Die großen Volksparteien, die früher für klare Regierungsverhältnisse in den einzelnen Ländern sorgten, haben alle mit einem ähnlichen Problem zu kämpfen. Sie scheinen in den jeweiligen Gesellschaften nicht mehr verankert zu sein, ihnen laufen die Wähler davon. Europas Parteiensysteme dröseln sich auf. Waren früher Regierungen aus zwei oder drei Parteien eher die Regel, so sind heute Parlamente mit acht Parteien schon keine Seltenheit mehr.

Parteien, die noch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mehr als 40 bis 50 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten, rutschen heute unter die 30-Prozent- oder gar 20-Prozent-Marke. Deutschland bildet da keine Ausnahme, man betrachte sich nur die Ergebnisse der SPD in Bayern oder im Osten Deutschlands.

Bei der Bundestagswahl 2017 kamen die beiden Volksparteien nur noch auf 53,4 Prozent der Wählerstimmen. In ihrer Hochzeit 1972 waren es 91,2 Prozent.

Was ist geschehen? Der Verlust an Zustimmung ist allerdings keine Erscheinung der Neuzeit; er zeichnet sich schon länger ab. Ein Blick auf die Entstehung und die Geschichte der Volksparteien ist da hilfreich.

Mit den Volksparteien ist nach 1945 in vielen Ländern Europas ein Parteitypus entstanden, der den sozialen und strukturellen Veränderungen entsprach. Wirtschaftswachstum, Massenkonsum und "Wohlfahrtsstaat" ließen sowohl religiöse Bindungen auf der einen, wie sozialistische, klassenkämpferische Ausrichtungen auf der anderen Seite in den Hintergrund treten.

Es entstand nach bürgerlichem Verständnis und Sprachgebrauch eine "Mittelschicht". Die Volksparteien hatten, wie es schon der Name sagt, den politischen Anspruch, sich an das ganze Volk zu wenden und nicht nur an bestimmte Klassen, Konfessionen oder soziale Milieus. Im Anspruch einer Volkspartei schwingt meist auch die Idee des Allgemeinwohls mit, sowie die Absicht, die Polarisierung zwischen sozialistischen Kräften einerseits und konservativ religiösen Kräften andererseits in den Hintergrund treten zu lassen. Der Klassencharakter des kapitalistischen Staates sollte verschleiert werden. (siehe die letzten Ausgaben von Arsti und Arpo)

Ganz sind diese sozialen Verankerungen in den Volksparteien jedoch nicht verschwunden; sie drücken sich nicht zuletzt darin aus, dass wir bis heute von Mitte-links- oder Mitte-rechts-Volksparteien sprechen. Erstere wurden typischerweise von der Sozialdemokratie, letztere von christlich-konservativen Parteien repräsentiert. Der Wahlerfolg von Mitte-links- und Mitte-rechts-Volksparteien basierte vor allem darauf, dass diese Parteien zum einen ihre Stammklientel auf der Rechten wie auf der Linken weiter an sich banden und zum anderen Wähler aus benachbarten sozialen Milieus der Mitte gewinnen konnten.

1961 hatten die beiden großen Parteien 81,5 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigt, 1969 waren es 88,8 Prozent und 1972 91,2 Prozent.

Volksparteien wurden in dieser Periode sozusagen zum Garanten und Nutznießer der kontinuierlichen Wohlstandsmehrung, der sozialen Sicherheit sowie der Verschleierung und Entschärfung ideologischer und religiöser Gegensätze.

Damit war damals der Gipfel erreicht. Seitdem haben beide große Parteien in Deutschland wie in Westeuropa an Zuspruch verloren.

Als Symptome hierfür können der Rückgang der Mitgliedschaft durch den biologischen Schrumpfungsprozess, ohne deutliche Neuzugänge; ein hohes Durchschnittsalter unter den Parteimitgliedern, anhaltender Vertrauensverlust der Volksparteien bei den Bürgern und letztlich der kontinuierliche Verlust an Wählerzuspruch angeführt werden.

In Deutschland machten sich die beiden großen Parteien seit den sechziger Jahren schrittweise auf den Weg in die Mitte des Parteiensystems. Bei der CDU wurde das als schleichende "Sozialdemokratisierung", bei der SPD als zunehmende "Verbürgerlichung" beschrieben. Die erfolgreichere unter den Volksparteien war meist die CDU/CSU. Eine Ursache lag darin, dass die deutsche Christdemokratie, stärker als die SPD, in nahezu allen sozialen Milieus verankert war. Die SPD hatte ihre Anhängerschaft hauptsächlich in der Arbeiterschaft und bei den kleineren und mittleren Angestellten. Sie konnte die Union nur dreimal in der Wählergunst überflügeln: 1972 in der Aufbruchstimmung einer kulturellen Umwälzung der Republik unter Willy Brandt, 1998 als Folge der bleiernen Endzeit der Kohl-Regierungen, und 2002, als der Osten der Republik überschwemmt wurde und Bundeskanzler Schröder sich erfolgreich als Krisenmanager präsentieren konnte.

Im europäischen Maßstab ist der Wählerverlust der Mitte-rechts und Mitte-links Volksparteien annähend gleich groß.

Für Mitte-links begann der Abstieg 1973 auf einem westeuropäischen Niveau von etwa 37 Prozent der Wählerstimmen und endete vorläufig 2015 bei knapp 23 Prozent. Der bis jetzt anhaltende Niedergang begann Ende der 1990er Jahre, als die wichtigsten sozialdemokratischen Parteien die Ideen des Neoliberalismus übernahmen und ihren alten sozialen, angeblich ideologischen, Ballast abwarfen. Für die sozialdemokratisch geprägten Parteien wirkte sich die Preisgabe ihres sozialen, ideologischen Markenkerns längerfristig nicht in Gewinnen, sondern in Wählerverlusten aus.

Dramatisch ist der Verfall z.B. in den Niederlanden, wo die kosmopolitisch gewendete Partij van de Arbeid (PvdA) 2017 nur noch 5,7 Prozent der Stimmen erhielt und in die politische Bedeutungslosigkeit abrutschte.

Ähnlich verheerende Entwicklungen mussten die sozialdemokratischen Parteien in Italien, Frankreich und auch in Österreich hinnehmen. Nicht ganz so schlimm geht es ihnen in den ehemaligen sozialdemokratischen Vorzeigeländern Skandinaviens.

Der starke Drang der sozialdemokratischen Parteien zur Mitte öffnete Teile des linken politischen Raums. Zunehmend siedelten sich dort linksökologische oder linkssozialistische Parteien an. Dieser politische Raum ist heute für die sozialdemokratischen Parteien kaum mehr zurückzuerobern.

Auch bei den konservativen Volksparteien begann der Wählerverlust in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als diese Parteien noch 47 Prozent der Wähler gewinnen konnten. Er endete vorläufig im Jahr 2015 auf einem Durchschnittsniveau von unter 30 Prozent.

Der langsame Abschied der Mitte-rechts-Parteien aus dem rechtskonservativen politischen Raum hin zur die Mitte des Parteienspektrums führte zu einer Beschädigung des konservativen Markenkerns. Er Öffnete einen nun verwaisten rechten Raum, in dem sich seit etwa zwei Jahrzehnten verstärkt rechtspopulistische Parteien etablieren.

Die von den Parteien nicht verschuldeten Ursachen des Wähler-, Mitglieder- und Vertrauensverlustes der Volksparteien dürften u. a. in der seit Mitte der 1970er Jahre beginnenden Individualisierung der Gesellschaft, dem Bildungsanstieg zu suchen sein, wie auch in der Erosion der sozialen Milieus. Das ging einher mit dem Mitgliederrückgang und dem Schwinden der Bedeutung, des Vertrauens in die und des Ansehens von Gewerkschaften auf der einen wie auch der Kirchen auf der anderen Seite.

Selbstverschuldet ist das Einlassen auf neoliberale Ideologien, mit dem die Volksparteien selber einen Paradigmenwechsel in ihrer Politik vorantrieben, mit dem sie ihre eigenen Erfolgsbedingungen untergruben. Vorgeblich unter dem Druck der Staatsverschuldung forderten nicht nur konservative Volksparteien mehr Markt und weniger Staat, dazu Deregulierung und "Eigenverantwortung". Besonders unter den transferabhängigen Schichten führte dies zu Verunsicherung, Enttäuschung und Abwendung von der Politik. Diese marginalisierten Schichten, die ihre Interessen bei den konservativen Volksparteien am besten aufgehoben glaubten, sahen sich nun nicht mehr durch diese Volksparteien vertreten, was sich anfangs in sinkenden Wahlbeteiligungen ausdrückte. Seit den neunziger Jahren verstärkt sich die Tendenz, dass diese Schichten sich rechtspopulistischen Parteien zuwenden.

Im sozialdemokratischen Milieu entstand Ende der 1970er Jahre das Bedürfnis der gebildeteren Mittelschichten nach einer weniger wachstumsorientierten Ökonomie und einer ressourcenschonenden Ökologie. Die selbst verschuldete Vernachlässigung des ökologischen Milieus durch die Sozialdemokratie führte zur Gründung grüner Parteien. Die Sozialdemokratie musste den Alleinvertretungsanspruch als systemkonforme Partei im linken politischen Raum aufgeben. Diese Entwicklung und das Erstarken der Grünen Partei vollzog sich in vielen Ländern Westeuropas, aber in Deutschland in besonderem Maße.

Der größte Sündenfall der Sozialdemokratie war das nahezu komplette Einschwenken auf neoliberale Politik, in England unter Blair mit New Labour und in Deutschland unter Schröder mit der Agenda 2010 und den Hartz IV Gesetzen. Damit hatte sich die SPD nun endgültig von einer sozialen Politik für die Lohnabhängigen, die Arbeitslosen und die sog. kleinen Leute verabschiedet. Sie betrieb nun unverhohlen die Interessen des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die Quittung dafür ließ nicht lange auf sich warten.

In Deutschland führte das zur Abspaltung der WASG von der SPD, die sich dann mit der PDS zur Partei Die Linke zusammenschloss.

Auf der rechten Seite stärkte das den rechten Rand und führte schließlich zur Bildung der AfD und natürlich zu weiterem Wählerverlust.

Im Zuge der europäischen Flüchtlingskrise 2015 verloren die Volksparteien weiter an Zustimmung zu ihrer Politik. Dieses Mal waren es vor allem christlich-demokratische Volksparteien wie die CDU, die den politischen Raum zu ihrer Rechten räumten und damit den Rechtspopulisten in ganz Europa unfreiwillig Hilfestellung leisteten. In Fragen der europäischen Integration, von Minderheitenrechten, Multikulturalismus, Flüchtlingen und Immigration bewegten sich die konservativen und christlich-demokratischen Parteien zur kosmopolitischen Mitte und waren von den sozialdemokratischen Parteien in diesen Fragen kaum mehr zu unterscheiden. Sie lösten damit einen beachtlichen Teil ihres konservativen Markenkerns auf, was zu weiteren Wählerverlusten im konservativen Lager führte.

Die Integrationskraft der politischen Parteien, besonders der Volksparteien, hat deutlich nachgelassen. Das geschieht in einer Zeit, wo die Solidarität der Bürger in der Gesellschaft abnimmt, die Kriegsgefahr weltweit zunimmt und die Schere zwischen arm und reich immer weiter aufgeht.

Aktuelle Einschätzungen

Die Hans-Böckler-Stiftung hatte im letzten Jahr eine repräsentativen Befragung "Was verbindet, was trennt die Deutschen?" in Auftrag gegeben. Mit dieser Studie über Werte und Konfliktlinien in der deutschen Wählerschaft möchte die Stiftung einen Beitrag dazu leisten, die Debatte über die gesellschaftlichen Veränderungen und die Einstellung der Wähler zu erkunden.

Mit Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse heißt es, "der Status von CDU und SPD als Volksparteien ist bedroht" und "die SPD hat keine Hochburgen mehr." In der verunsicherten Mitte spielten linke Parteien keine Rolle mehr, und in dem Bevölkerungsteil, den die Forscher "abgehängtes Prekariat" nennen, liegt unangefochten die AfD vorn.

In bester Soziologenmanier und einer ebensolchen Sprache haben die Forscher insgesamt neun verschiedene politische Typen unter den bundesdeutschen Wählern ausfindig gemacht und diesen drei Richtungen zugeordnet. Eine Richtung bestehe dabei aus dem "engagierten Bürgertum", der "kritischen Bildungselite" und den "konservativen Besitzstandswahrern" mit insgesamt 43 Prozent der Wahlberechtigten. Daneben gebe es Gruppen wie die mit der "sozialen Marktwirtschaft" Zufriedenen, die "verunsicherten Leistungsindividualisten " sowie die "gesellschaftsfernen Einzelkämpfer" mit zusammen 32 Prozent der Wählerschaft. Eine dritte Richtung setze sich zusammen aus der "desillusionierten Arbeitnehmermitte", den "missachteten Leistungsträgern" und dem "abgehängten Prekariat" mit insgesamt 25 Prozent Wähleranteil.

Trotz der guten Wirtschaftslage haben unter den bundesdeutschen Wählern "Gefühle von Ohnmacht, Frustration und Enttäuschung insgesamt zugenommen", stellen die Autoren der aktuellen Studie fest. Danach sind knapp 60 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung in der Bundesrepublik besonders von der Politik verunsichert und enttäuscht. Hier haben die Volksparteien stark an Zuspruch verloren.

Die verunsicherten und enttäuschten Gruppen unter den Wählern seien vor allem in der Mittelschicht und den unteren Schichten zu finden. Sie hätten ein Gefühl von "Kontrollverlust", bedingt durch "wahrgenommene Fehlentwicklungen in Arbeitswelt und Lebensumfeld" und durch den gewachsenen Anteil atypischer Beschäftigung. Hinzu kämen die Bedrohung von Qualifikationen durch Digitalisierung, stark steigende Mieten oder die erhöhte Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen.

Obwohl sich die Ökonomischen Rahmenbedingungen seit 2006 deutlich verbessert haben, ist die Sicht der Bevölkerung auf ihre persönlichen Lebensumstände und ihr gesellschaftliches Umfeld negativer geworden. Globalisierung, Digitalisierung und die Migrationsbewegungen lösten erhebliche Ängste aus, die Kontrolle über das eigene Leben und die eigene Zukunft zu verlieren. "Insgesamt ergibt sich heute - teils quer zum sozialen Status - eine Dreiteilung der Gesellschaft in zufriedene, verunsicherte und enttäuschte Gruppen."

Die Gruppe der mit der "sozialen Marktwirtschaft" Zufriedenen

Drei politische Typen, von denen zwei gemessen an Selbsteinschätzung und Bildungsstatus zur Ober- und einer zur Mittelschicht zählen, sind mit ihrer persönlichen Situation und der gesellschaftlichen Lage überwiegend zufrieden. Dieses Cluster, zu dem 43 Prozent der Wahlberechtigten zählen, ist vergleichsweise "libertär" eingestellt. Es besteht einerseits "aus Kosmopoliten, die Chancen der Globalisierung und Vorteile der neuen Technologien für sich nutzbar machen können, andererseits aus Teilen der älteren Generation, die die sozialen Leistungsversprechen eingelöst sehen, in bescheidenem Wohlstand leben und wenig Sorgen vor einer Verschlechterung ihrer Lage haben."

Die Gruppe der Verunsicherten

Das Cluster der Verunsicherten umfasst ebenfalls drei Typen, einen aus der Ober-, zwei aus der Mittelschicht. Es macht 32 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung aus. Den Forschern zufolge sehen sie "das ihnen wichtige gesellschaftliche Leistungsversprechen durch Globalisierung, neue Technologien und den Anstieg der Zuwanderung in Frage gestellt. Sie plädieren insgesamt für eine härtere und kompetitivere Gesellschaft".

Die Gruppe der Enttäuschten

Die drei Typen im Cluster der Enttäuschten stellen 25 Prozent der Wahlberechtigten. Einer gehört zur Mittel- und zwei zur Unterschicht. Die Menschen in dieser Gruppe "bemängeln sowohl ihr eigenes Schicksal als auch den Zustand der Gesellschaft insgesamt - sozial wie politisch", schreiben die Experten. "Ungerechtigkeitsgefühle und die Wahrnehmung, politisch kein Gehör zu finden, sind hier sehr stark ausgeprägt."

Den größten Zuspruch - zusammengenommen über 60 Prozent - finden Union und SPD in zwei der drei "zufriedenen" Milieus. Das dritte, die "kritische Bildungselite", wählt neben SPD vor allem Linkspartei und Grüne. Insgesamt ist der Stimmenanteil der AfD im "zufriedenen" Cluster deutlich unterdurchschnittlich. In den "verunsicherten" und "enttäuschten" Gruppen kommen die Volksparteien dagegen in der Regel auf maximal 50 Prozent, der AfD-Anteil liegt meist deutlich über dem Durchschnitt des Bundestagswahlergebnisses. Im "abgehängten Prekariat", das zu den Enttäuschten zählt, gingen sogar 39 Prozent der Stimmen an die AfD. Union und SPD kamen zusammen auf 41 Prozent.

Die gewachsene Distanz zwischen Volksparteien und großen Teilen der Wählerschaft beruhe auf Gegenseitigkeit, analysierten die Autoren. Die Union ist sozioökonomisch wie kulturell an die SPD herangerückt. Die Parteiführungen von SPD und CDU verstehen und bedienen primär zufriedene politische Typen im libertären politischen Spektrum. Verunsicherte Gruppen werden vernachlässigt. Einen Beitrag zu einer Wiederannäherung könnte eine Politik leisten, die für mehr Stabilität in der Arbeitswelt sorgt.

Darauf weist etwa ein Befund aus einer Vorläuferstudie hin: Für eine Teilgruppe beobachteten die Forscher, dass Personen in einem festen beziehungsweise tarifvertraglich geregelten Arbeitsverhältnis signifikant weniger zu Rechtspopulisten tendierten als Beschäftigte mit atypischen oder tariflosen Jobs.

Parteien bezahlen für soziale Entwicklung

Diese Stimmungen schlagen sich in den Stimmen für die Parteien nieder. Die Zufriedenen würden eher für Union und SPD sein, während die "kritische Bildungselite" sich auch für Grüne und Linkspartei entscheide. Bei den Verunsicherten und Enttäuschten kommen die sogenannten Volksparteien auf höchstens 50 Prozent. Die AfD habe unter ihnen Zustimmungswerte "meist deutlich über dem Durchschnitt des Bundestagsergebnisses". Im "abgehängten Prekariat" seien sogar 39 Prozent der Stimmen an die AfD gegangen.

Das trifft sich mit ähnlichen Ergebnissen früherer Untersuchungen über die Stimmungen unter den Wählern. In der aktuellen Studie wird auf die Rahmenbedingungen hingewiesen. So haben sich der Aufschwung und die wirtschaftlichen Gewinne der letzten zehn Jahre "nicht gleichmäßig in alle Bevölkerungsteile" verteilt übersetzt, sprich: nur wenige haben davon profitiert.

Die Macher der Studie kommen zu dem Schluss, dass die Befunde der Studie zeigen, welch gewaltige Anstrengungen auf die CDU/CSU und SPD zukommen würden, wollten sie das Vertrauen der mehrheitlich Verunsicherten und Enttäuschten in der Mitte und am unteren Ende der Gesellschaft zurückgewinnen. Dabei blenden sie aus, dass die Parteien das Dilemma nicht lösen können. Ihre sozialen Versprechen erweisen sich oft als Betrug an den Wählern, was kein Wunder ist, sind sie doch die Interessenvertretung der Reichen und Mächtigen.

Die materielle Lage ist's ...

Noch deutlicher sind die Ergebnisse einer internationalen Forschergruppe um den französischen Ökonomen Thomas Piketty, die sie in ihrem "Weltreport über Ungleichheit" dargestellt haben (das Datenmaterial steht auf der Website wid.world zur Verfügung)

Demnach ist die soziale Kluft in Deutschland wieder genauso groß wie kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Im Bericht wird belegt, dass die materielle Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten weltweit rasant zugenommen hat.

Wobei nach Piketty in der Bundesrepublik und den anderen europäischen Ländern noch vergleichsweise harmlose Zustände herrschen.

Weitaus extremer gestalten sich Piketty und Co. zufolge die Verhältnisse in den autoritär regierten Staaten China und Russland - sowie in den USA. In den Vereinigten Staaten verdoppelte das reichste eine Prozent seit 1980 seinen Anteil am nationalen Gesamteinkommen von zwanzig auf vierzig Prozent. Und in den kommenden Jahren wird sich die Entwicklung dort noch weiter zuspitzen, begünstigt von der Steuerreform, die Präsident Donald Trump jüngst auf den Weg gebracht hat. Sie stellt ein gewaltiges Umverteilungsprojekt von unten nach oben dar.

Das deckt sich auch mit dem diesjährigen Bericht von Oxfam zum Auftakt des Weltwirtschaftsforum in Davos mit dem Titel "Reward Work, not Wealth" (Belohnt Arbeit, nicht Reichtum). Danach geht die Schere immer weiter auseinander. Die Zahl der Milliardäre ist auf 2043 angewachsen, jeden Tag habe es einen Milliardär mehr gegeben. 9 von 10 Milliardären sind Männer. Mit 762 Milliarden US-Dollar gingen 82 Prozent des weltweiten Vermögenswachstums 2017 ans reichste Prozent der Bevölkerung.

Dazu kommt, dass seit den Achtzigerjahren öffentliche Vermögen in fast allen Ländern durch Privatisierungen in Privatvermögen umgewandelt wurden. Inzwischen liegt das öffentliche Vermögen in den reichen Ländern nahe null oder gar im negativen Bereich. Dadurch verringert sich der Spielraum der Regierungen, der Ungleichheit entgegenzuwirken; wenn sie denn überhaupt wollten.

Die Gewalt des besseren Arguments

Von der wachsenden Ungleichheit und der demokratischen Repräsentationskrise profitieren nicht in erster Linie linke, sondern vor allem autoritäre Bewegungen. Das zeigt auf, dass es der Rechten gelungen ist, mit einer Gegenwartsbeschreibung Gehör zu finden, die die sozialen Widersprüche ausblendet: Die Front verläuft demnach nicht zwischen oben und unten, bzw. arm und reich, sondern zwischen "drinnen" und "draußen", also zwischen der eigenen, nationalen Gemeinschaft und dem Fremden.

In der fortwährenden Debatte über Nationalismus und Rechtspopulismus werden deren materielle Ursachen kaum thematisiert. Betrachtet man etwa die medialen Diskussionen der vergangenen Monate, so lag deren Schwerpunkt vielmehr auf der Frage, wie genau denn nun mit den auf einmal allerorten präsenten Rechten geredet werden müsse.

Dahinter steht die Annahme, dass den Populistinnen und Populisten der Wind aus den Segeln genommen werden könne, indem man sie nicht moralisch ausgrenze und dadurch zu politischen Underdogs adle. Stattdessen müsse man die offene Auseinandersetzung mit ihnen suchen. Am Ende, so das Kalkül, werde sich die sanfte Gewalt des besseren Arguments durchsetzen und dem reaktionären Spuk ein Ende bereiten.

Reaktionäre Bewegungen fußen aber nicht einfach auf Denkfehlern. Dass es den Autoritären nämlich gelingt, eine Gesellschaft zu polarisieren, hat vielmehr den einfachen Grund, dass diese tatsächlich sozialen Sprengstoff birgt. "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen", schrieb Max Horkheimer Ende der dreißiger Jahre. Der Satz hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren. (vgl. WoZ 21.12.17)

Aus diesem Grund besteht ein beinahe schon pathologischer Widerwille, diesen Zusammenhang zur Sprache zu bringen. Und genau das verschiebt das politische Koordinatensystem insgesamt nach rechts.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 200 - Sommer 2018, Seite 11 bis 14
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2018

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