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ARBEITERSTIMME/303: Thüringer LINKE-Regierung - Konkretes und Grundsätzliches


Arbeiterstimme Nr. 187 - Frühjahr 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Thüringer LINKE-Regierung: Konkretes und Grundsätzliches

Von Ekkehard Lieberam


Die Bildung der Thüringer Landesregierung unter dem aus Rheinhessen stammenden 59jährigen ehemaligen Landesvorsitzenden der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) und charismatischen LINKEN-Politiker Bodo Ramelow berührt Grundfragen linker Politik und Strategie. Der Sinn einer Regierungsübernahme als vorgebliches Mittel progressiver Gesellschaftsgestaltung steht unter den spezifischen Bedingungen Thüringens auf dem Prüfstand. Nach mittlerweile bald 100 Tagen Amtszeit erwarten immer noch viele Menschen in Thüringen eine politische Wende weg vom neoliberalen Mainstream und hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit von der Regierung Bodo Ramelow.(1) Mit der Geschichte von Linksregierungen vertraute Sozialisten und Kommunisten befürchten, dass all dies sich schon mittelfristig wieder einmal als Illusion erweisen wird.

Die Linke in den ostdeutschen Landtagen versteht sich als Regierungspartei im Wartestand oder war bereits (als PDS) an Landesregierungen beteiligt. Dabei hat sie sich weitgehend zu einer zweiten sozialdemokratischen Partei entwickelt. Nach und nach kommen der LINKEN so ihre im Erfurter Programm vom November 2011 festgeschriebenen friedenspolitischen, linkssozialistischen und radikaldemokratischen Alleinstellungsmerkmale abhanden: insbesondere als Antikriegspartei, als Partei des Widerstandes gegen Hartz-IV, als Partei der Aufklärung über die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im entfesselten Kapitalismus und nunmehr mit der Thüringer Linksregierung auch als Partei einer gerechten und differenzierten Sicht auf die DDR-Geschichte.

Regierungschef: Verfassung und Wirklichkeit

Am 5. Dezember 2014 wurde Bodo Ramelow mit einer Stimme Mehrheit von den LINKEN, der SPD und den Bündnisgrünen im zweiten Wahlgang zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt. Zum ersten Mal stellt die LINKE damit einen Regierungschef in einem Bundesland. Nach der Thüringer Verfassung (Artikel 70 und 76) nimmt der Ministerpräsident eine herausragende Stellung in der Landesexekutive und in der Landespolitik ein. Er ernennt und entlässt die Minister. Er bestimmt die Richtlinien der Regierungspolitik. Er vertritt das Land Thüringen mit drei weiteren Ministern im Bundesrat. Seine Regierung kann über den Bundesrat Vorlagen für Bundesgesetze einbringen. Sie ist politischer Akteur auch auf Bundesebene.

Verfassungstext und Wirklichkeit sind dabei ziemlich weit auseinander. Ein allgemeiner Irrtum besteht darin, zu glauben, dass Richtlinienkompetenz mit der generellen Bestimmung der Grundlinien der Landespolitik und weitreichender Gestaltungssouveränität identisch ist. Der Regierungschef ist an den Koalitionsvertrag gebunden (auch an jeweilige Koalitionsabsprachen) und nicht an das Wahlprogramm seiner Partei. Im Regierungskabinett hat Bodo Ramelows Partei nicht einmal die Mehrheit. Die LINKE verfügt ungeachtet eines Verhältnisses von etwa drei zu zwei beim Wahlergebnis neben dem Ministerpräsidenten über vier weitere Minister (Bundes- und Europaangelegenheiten, Bildung und Jugend, Infrastruktur und Landwirtschaft, Arbeit und Soziales), die SPD über drei (neben der stellvertretenden Ministerpräsidentin die beiden Schlüsselministerien Wirtschaft und Inneres) und die Bündnisgrünen über zwei Minister (Umwelt und Energie, Migration und Justiz). Von den beamteten StaatssekretärInnen haben jeweils vier das Parteibuch der LINKEN bzw. der SPD und einer das der Bündnisgrünen.

Die Konstituierung der Linksregierung in Thüringen ist aus verschiedener Sicht politisch bedeutsam. Dies ist nicht der Fall, weil sie eine progressive Zeitenwende zu Gunsten der Lohnarbeiter herbeiführen wird, sondern vor allem, weil sie die Integrationskraft des parlamentarischen Regierungssystems deutlich macht: generell gegenüber systemoppositionellen Parteien und konkret gegenüber einer im Wahlkampf noch couragiert gegen den neoliberalen Mainstream auftretenden und erfolgreichen LINKEN, die schon jetzt dabei ist, als führende Regierungspartei vor diesem Mainstream einzuknicken.

Nach allen politischen Erfahrungen und nach der sich abzeichnenden Regierungspraxis steht in Thüringen nicht eine Wende der Regierungspolitik gegen den Neoliberalismus bevor, sondern eine Wende der LINKEN als Gesamtpartei in Richtung intensiver Anpassung, verbunden zunächst mit einigen nicht unwichtigen Verbesserungen der Landespolitik.

Wahlkämpfe und Regierungsübernahme stellen zwei sehr unterschiedliche Bereiche des politischen Lebens dar. Linke Wahlprogramme, die "ankommen" sollen, skizzieren eine wünschenswerte und werbewirksame politische Alternative zu den bestehenden Zuständen. Regierungstätigkeit dagegen ist der Bereich der Abschirmung, Verteidigung und Festigung dieser Zustände. Es ist unüblich geworden, über diesen Konflikt zwischen Wahlpropaganda und Regierungspolitik nachzudenken oder gar zu reden. Im politischen Alltagsbewusstsein allerdings wird dieser Widerspruch unvermeidlich zum politischen Konflikt. Einer Aufbruchstimmung vor und kurz nach der Wahl folgt dann angesichts einer frustrierenden Regierungspolitik allmählich eine Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise. Der SPD-Politiker Klaus Wowereit hatte 2001 die bewusste Herbeiführung einer derartigen Krise für die PDS in Berlin "Entzauberung" genannt. Die Thüringer Linksregierung hat dies noch vor sich.

Das Thüringer Wahlergebnis vom 14. September 2014 erbrachte den Beweis, dass die LINKE mit einem cleveren Führungspersonal, einem attraktiven Wahlprogramm, einem intelligenten Wahlkampf und einem sympathischen Spitzenkandidaten prozentual hinzu gewinnen kann (allerdings infolge der sinkenden Wahlbeteiligung absolut 11.000 Stimmen an die Nichtwähler verlor). Die LINKE hat mit 28,2 Prozent der gültigen Wählerstimmen ihr bestes Ergebnis bei Landtagswahlen in Thüringen erreicht und auch ansonsten (für sie stimmten 41 Prozent der Arbeitslosen, 27 Prozent der Arbeiter, 24 Prozent der Angestellten und 20 Prozent der Jungwähler) weitaus besser abgeschnitten als etwa in Sachsen (18,9 Prozent), wo sie ebenfalls seit 25 Jahren in der Opposition ist.

Nunmehr als führende Regierungspartei in Thüringen ist Die LINKE mit vielfältigen Grenzen des Regierens konfrontiert, die sie mittelfristig unglaubwürdig machen wird. Regieren bringt es außerdem mit sich, dass die Interessen der Führungsgruppe der regierenden Partei sich vom Wähler weg hin zum herrschenden Politikbetrieb orientieren und sich mit denen der herrschenden Klasse verflechten. Man wird sehen, wie sich beides in Thüringen konkret entwickelt. Die Passivität von Bodo Ramelow und den drei weiteren Thüringer Regierungsmitgliedern im Bundesrat am 6. Februar 2015 bei der Behandlung des Entwurfs des "Tarifeinheitsgesetzes" lässt Schlimmes befürchten.(2)

Wahlprogramm, Koalitionsvertrag, Regierungspolitik

Nicht zu übersehen sind die koalitionspolitischen Grenzen politischen Handelns der LINKEN, wenn man sich denn die Mühe macht, ihr 56 Seiten umfassende Wahlprogramm mit dem 106 Seiten umfassenden Koalitionsvertrag zu vergleichen. Vieles, was im Wahlprogramm versprochen wurde, taucht im Koalitionsvertrag nicht mehr auf. Vorhaben, die im Koalitionsvertrag stehen, sucht man im Wahlprogramm vergeblich.

Koalitionsverträge unterscheiden sich von anderen Verträgen dadurch, dass sie keineswegs politische "Willensübereinstimmung" der beteiligten Parteien sind oder die "Schnittmengen" der Wahlprogramme zusammenfügen. Sie sind durchaus eigenständige, auf das "Machbare" ausgerichtete Dokumente von Regierungsvorhaben. Der Koalitionsvertrag in Thüringen dokumentiert (ein Vergleich mit dem Wahlprogramm macht das deutlich), wie die LINKEN "in Regierungsverantwortung" sich "mäßigen" und dabei bereit sind, Politik konträr zu den programmatischen Grundsätzen des Erfurter Programms vom November 2011 zu machen.

Wäre das Wahlprogramm der LINKEN Regierungspolitik, so stünde in Thüringen tatsächlich das Ende der neoliberalen Kapitaloffensive, ein grundlegender Politikwechsel "hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, besserer und für alle zugänglicher Bildung, einer vielschichtigen und weltoffenen Kultur, zu mehr Demokratie durch Mitbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe" bevor.(3) Jede Arbeit, so heißt es z.B. im Wahlprogramm weiter, muss den Prekarisierten (derzeit etwa 35 Prozent der Erwerbstätigen im Freistaat), "so entlohnt werden, dass die Menschen davon selbstbestimmt leben können."

Als Ziele der Politik der LINKEN werden im Wahlprogramm unter anderem genannt: "Verbot der Leiharbeit", "Überwindung von Hartz IV", "flächendeckender Thüringer Mindestlohn", "umfassende Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie", "Kostenfreiheit von der Kindertagesstätte bis zur Hochschule", "bedarfsgerechte Finanzausstattung" der Kommunen, Abschaffung der Geheimdienste, Opposition gegen "jegliche Kriegseinsätze der Bundeswehr sowie gegen Rüstungsexporte" und gegen "die EU-Rettungsschirme zur Bankenrettung", Steuerpolitik, "welche Konzerne, Banken und große Vermögen ... angemessen beteiligt", Schaffung eines öffentlichen Beschäftigungssektors (ÖBS) "jenseits von Staat und Markt", Gestaltung einer menschenwürdigen Migrationspolitik.

Im Koalitionsvertrag ist davon wenig übrig geblieben. Vieles wurde abgeschwächt. Die Linke bekennt sich gemeinsam mit SPD und Bündnisgrünen zur Sozialpartnerschaft und zum Unternehmertum: "In der Stärkung von Mitbestimmung, Sozialpartnerschaft und verantwortlichem Unternehmertum sehen wir einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Thüringer Wirtschaft."(4)

Die Kostenfreiheit von Kindertagesstätten wird von entsprechenden Finanzierungsmöglichkeiten abhängig gemacht. Steuererhöhungen für die Konzerne und Reichen: Fehlanzeige. Vom "Öffentlichen Beschäftigungssektor" und von einem "flächendeckenden Thüringer Mindestlohn" ist nicht mehr die Rede (ein solcher wurde z.B. als "vergaberechtlicher Mindestlohn" Anfang 2014 von der SPD-geführten Landesregierung in Schleswig Holstein mit 9,18 Euro eingeführt). Hinsichtlich Hartz IV geht es nicht mehr um die Überwindung, sondern nur noch um höhere Leistungen. Leiharbeit wird nicht abgeschafft, sondern Beschäftigte in Leiharbeit werden mit den Stammbelegschaften "weitestgehend gleichgestellt". An die Stelle der "umfassenden ... Wirtschaftsdemokratie" tritt das Versprechen im Koalitionsvertrag: "Tarifbindung [soll] ausgebaut und betriebliche Mitbestimmung [soll] gestärkt werden". Statt Abschaffung der Geheimdienste heißt es nunmehr "Reform des Landesamtes für Verfassungsschutz".

Im Thüringer Koalitionsvertrag stehen immer noch viele sinnvolle Vorhaben: "Armut bekämpfen", "Gesundheitsversorgung" qualitativ "stärken", "Schulgeldfreiheit für die Ausbildung in der Pflege" und mehr "Zuweisungen für Investitionen in Sportanlagen" durchsetzen, "sozialen Wohnungsbau fördern", den "kommunalen finanziellen Finanzausgleich" erhöhen u. a. m. Das alles soll "angestrebt" oder "geprüft" werden. Das Wort "prüfen" steht "in zahlreichen Konjunktionen" im Text des Koalitionsvertrages 123mal. "An 55 Textstellen will sich die neue Regierung lediglich 'einsetzen', ohne sich festzulegen. Letzteres ist bei Themen, die im Bundesrat eingebracht werden müssen, nicht anders möglich. Aber auch in der Landespolitik bleiben viele Ziele eher unbestimmt. Hinzu kommen noch einige Punkte, bei denen die Regierung bisherige Ansätze verbessern, weiterentwickeln oder ausbauen will, ohne eine konkrete Zusage über den Umfang der jeweiligen Maßnahme zu machen."(5)

Auch die Projekte, die realisiert werden "sollen", werden unter Finanzierungsvorbehalt gestellt. Bodo Ramelow erklärte in seiner Regierungserklärung: "Die neue Landesregierung hat sich dem Ziel einer nachhaltigen Haushalts- und Finanzpolitik verschrieben. Deshalb haben wir gemeinsam beschlossen, Haushalte ohne neue Kredite vorzulegen. Die Schuldenbremse des Grundgesetzes und die Regelungen der Landeshaushaltsordnung werden von uns eingehalten. ... Ausgabensteigerungen durch neue Prioritätssetzung sind durch Einsparungen oder durch Generierung von Mehreinnahmen auszugleichen." (6)

Vor allem fünf Vorhaben zeichnen sich nach 100 Tagen für das Jahr 2015 ab.

  • Es gibt eine Änderung der Politik gegenüber den Asylsuchenden, die viel öffentliche Zustimmung findet. Bis zum 31. März gilt ein Abschiebestopp für Flüchtlinge. Für den Monat April wird von der Landesregierung ein Flüchtlingsgipfel vorbereitet.
  • Demnächst soll das von der ehemaligen CDU/SPD-Landesregierung eingeführte Landeserziehungsgeld abgeschafft werden. Die freiwerdenden Mittel werden eingesetzt, um das versprochene gebührenfreie Kita-Jahr zu finanzieren.
  • Die Landesregierung bringt einen "Gesetzentwurf zum Kommunalpaket 2015" in den Landtag ein, das eine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen vorsieht. Nach einer "Sofortinformation der Fraktionsvorsitzenden" vom 25. Februar 2015 sollen die Thüringer Kommunen "insgesamt 232 Millionen Euro extra erhalten."
  • 180 Lehrerinnen und Lehrer wurden in Thüringen bereits neu eingestellt. Bis zum Jahresende sollen es insgesamt 500 werden (100 mehr als dies von der CDU-geführten Regierung vorgesehen war). Geplant sind der Aufbau einer Lehrerreserve für den Unterrichtsausfall und eine Neufassung des Bildungsfreistellungsgesetzes, das den Lehrerinnen und Lehrern für fünf Tage im Jahr Freistellung für Bildung zusichert.
  • Von der Landesregierung werden ein "Mindestlohngipfel" und ein Gesetz zur Einführung von gemeinnütziger Arbeit mit Mindestlohn vorbereitet.

"Regierungsbeteiligungen der LINKEN sind nur sinnvoll", so heißt es im Erfurter Grundsatzprogramm (Abschnitt VI), "wenn sie eine Abkehr vom neoliberalen Politikmodell durchsetzen sowie einen sozial-ökologischen Richtungswechsel einleiten." Angesichts des Festhaltens der Landesregierung unter Bodo Ramelow an den Kürzungen im öffentlichen Dienst Thüringens und ihrem Bekenntnis zur Schuldenbremse sieht es danach aus, dass es lediglich um einige (nicht unwichtige, aber doch sehr begrenzte) kosmetische Operationen am "neoliberalen Politikmodell" gehen wird. Eine Abkehr vom Modell selbst ist nicht in Sicht.

Delegitimierung der DDR

CDU-Regierungen haben es in 25 Jahren nicht geschafft, einem großen Teil der Bevölkerung eine abgewogene Sicht auf die DDR-Geschichte auszureden.(7) Nunmehr in "Regierungsverantwortung", will Bodo Ramelow dies ändern und "neue Maßstäbe bei der Aufarbeitung setzen."(8)

Im Wahlprogramm der LINKEN gibt es dafür keinerlei Ansatzpunkte. Bereits im 2. Sondierungsgespräch am 23. September 2014 aber hatte Bodo Ramelow (zusammen mit drei weiteren Politikern der LINKEN und den Vertretern von SPD und Bündnisgrünen) die DDR in Grund und Boden verdammt. Der DDR habe "die strukturelle demokratische Legitimation staatlichen Handelns" gefehlt. Notwendig sei "die Aufarbeitung der SED-Diktatur in all ihren Facetten". Die DDR sei "Diktatur" und "Unrechtsstaat" gewesen. Es gehe besonders um "eine konsequente und schonungslose Aufarbeitung der Alltagsdiktatur".(9) In der Präambel des Koalitionsvertrages werden all diese Aussagen wiederholt. Katja Kipping, Bernd Riexinger, Gregor Gysi und die große Mehrheit des Parteivorstandes der LINKEN stellten sich hinter diese Positionen. Es gab Protest, aber lediglich von einer Minderheit. Sahra Wagenknecht widersprach. Sechs Mitglieder des Parteivorstandes (Ali Al-Dalami, Arne Brix, Judith Benda, Sabine Wils, Wolfgang Gehrcke, Johanna Scheringer-Wright) stimmten am 29. November 2014 gegen einen die DDR diskriminierenden Beschluss des Parteivorstandes. Diese "Einschätzung unserer Geschichte", so ihre Position, "wird von ungezählten Genossinnen und Genossen, Sympathisantinnen und Sympathisanten sowie Wählerinnen und Wählern nicht geteilt, sondern als demütigend empfunden. Zu Recht."(10)

Bodo Ramelow hat deutlich gemacht, dass er keineswegs etwa widerwillig (um eine "politische Wende" zu ermöglichen) mit seinem Kniefall vor dem Vokabular des Kalten Krieges eine "Kröte" geschluckt hat. Als Ministerpräsident erklärte er die "Aufarbeitung der DDR" zur Chefsache. Eine Staatssekretärin in der Erfurter Staatskanzlei ist dafür zuständig. Eine interministerielle Arbeitsgruppe wurde gebildet. Bodo Ramelow machte schon am 6. Januar einen förmlichen Antrittsbesuch bei Roland Jahn, dem Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, in deren Erfurter Außenstelle. Am 31. Januar nahm er an einem Podiumsgespräch auf der "Geschichtsmesse" in Suhl zum Thema "Gegenwart und Zukunft der Aufarbeitung der SED-Diktatur" mit Rainer Eppelmann, Vorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, teil. In allen Grundfragen war man ein Herz und eine Seele. Geklärt werden sollen noch Fragen eines "Opfergedenktages" in Thüringen und der Rückgabe des "SED-Vermögens".

Bodo Ramelow will erneut einige Selbstmorde in der DDR nachprüfen und die Behandlung von "Heimkindern" und die Verfahren bei "Zwangsadoptionen" untersuchen lassen. Das Letztere hatten schon die zwei Enquetekommissionen des Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur" (1992 bis 1994) und "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur" (1995 bis 1998) in Erwägung gezogen. Weil da wenig an Unrecht zu finden war, hatten beide Kommissionen davon Abstand genommen.

Übrig bleiben wird auf jeden Fall eine anhaltende Kampagne im Rahmen "der politischen Bildung", in der ahnungslosen Schulkindern, deren Eltern auch nicht mehr bewusst in der DDR gelebt haben, bei der Behandlung der "DDR-Geschichte im Unterricht" und beim Besuch von "Gedenkstätten" noch nachdrücklicher als bisher klar gemacht werden wird, dass die DDR (wie auch der nationalsozialistische Staat) "Diktatur" und "Unrechtsstaat" gewesen sei, wohingegen die Bundesrepublik Deutschland "Demokratie" verkörpere. Angesichts dessen, dass 61 Prozent der Bundesbürger meinen, in dieser Demokratie hätten "die Wirtschaft und nicht die Wähler" das Sagen",(11) wird das den Herrschenden sehr gefallen.

Damit geht ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal der LINKEN verloren: als Partei, die in ihrer Erinnerungspolitik die Delegitimierung der DDR als "Unrechtsstaat" oder "totalitäre Diktatur" ablehnt und deren Rechtmäßigkeit als Sozialismusversuch unter sehr schwierigen geschichtlichen Umständen verteidigt. Das war die Position im PDS-Programm vom Januar 1993. Das Erfurter Programm der LINKEN bekräftigte diese differenzierte Sicht auf die DDR. Der nunmehrige Kurswechsel der meisten Politiker der LINKEN dokumentiert ihre zunehmende Fügsamkeit gegenüber der herrschenden Klasse. Man will mit dabei sein beim Regieren und geht dabei bis zur demütigenden Selbstverleugnung. "Deren Verhalten (das führender Politiker der LINKEN - E. L.)", sagte Peter Michael Diestel (CDU), letzter Innenminister der DDR, in einem Interview, "ist für mich eine große substantielle Enttäuschung. Ich hatte nie gedacht, dass sie so weit gehen und ihre eigene Herkunft, die sie ja eigentlich - ich sage das mal konstruktiv-kritisch - betrachtet haben, jetzt unkritisch über Bord werfen."(12)

Weitere Grenzen von "Regierungsgestaltung"

Mit Blick auf die machtpolitischen Illusionen der sozialdemokratischen Politiker in der Weimarer Republik soll Kurt Tucholsky angemerkt haben: "Sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung." Offensichtlich, so lehren die geschichtlichen Erfahrungen, gibt es neben den koalitionspolitischen Grenzen von linkem Regierungshandeln, wie sie am Thüringer Beispiel deutlich werden, weitere Faktoren, die in die gleiche Richtung wirken.

Regierungspolitik ist nun einmal keine Willensfrage. Sie wird durch koalitionspolitische "Kompromisse", aber vor allem auch durch rechtliche und finanzpolitische sowie nicht zuletzt durch machtpolitische Grenzen der Staatspolitik im Kapitalismus bestimmt.

Sehr eng sind die Grenzen des Regierungshandelns rechtlicher und finanzpolitischer Art für die Landesregierungen. Die Verfügungsmöglichkeiten über die finanziellen Mittel des Landes sind bis zu 97 Prozent durch Bundesgesetze geregelt. Wenn die Regierenden, wie in Thüringen, die Regeln der neoliberalen Schuldenbremse nicht durchbrechen, sondern strikt einhalten wollen, unterwerfen sie sich diesem Diktat der leeren Kassen.

Aber auch das Argument, dann müsse man eben in der "Zentrale", in Deutschland auf Bundesebene, "die Macht" übernehmen, greift nicht. Unter den Bedingungen der in der Bundesrepublik derzeit gegebenen stabilen Klassenmachtverhältnisse zu Gunsten des Kapitals, die in der rechtlichen Ordnung wie auch in dem eng mit der "Wirtschaft" verbundenen bürokratischen Regierungsapparat ihren Ausdruck finden, ist das ein hoffnungsloses Unternehmen. In Deutschland gibt es weder eine linke politische Mehrheit in der Gesellschaft noch eine solche Mehrheit im Parteiensystem. SPD und Bündnisgrüne sind systemtreue Parteien, die eine maßgebliche Rolle dabei gespielt haben, die Sozial- und Arbeitsrechtgesetzgebung auf die neoliberale Kapitaloffensive auszurichten. Eine Beteiligung der LINKEN an einer "Rot-Rot-Grünen" Bundesregierung 2017 wäre ohne die Zustimmung zur Agenda 2010 und zum Einsatz der Bundeswehr in aller Welt nicht zu haben.

Regierungsbeteiligungen ohne veränderte Klassenmachtverhältnisse sind ein Weg, der die betreffende Partei in neuer Weise in den etablierten Politikbetrieb einordnet. Wohl kaum jemals zuvor hat es links von der Sozialdemokratie in Deutschland eine derartige Ignoranz gegenüber den machtpolitischen Zusammenhängen und den Gefahren der enormen Integrationskraft des parlamentarischen Regierungssystems gegeben wie heute seitens vieler Politiker der LINKEN.

"Die Vorstellung, dass (Mitte-)Linksregierungen notwendig oder auch nur im Regelfall progressive Politik nach sich ziehen, ist falsch."(13) Linksregierungen konnten nur dann substantielle Verbesserungen der Lebensverhältnisse für die Lohnarbeiter, für die einfachen Bürgerinnen und Bürger durchsetzen, wenn vorher einflussreiche außerparlamentarische Bewegungen dies "auf der Straße" erkämpft hatten, wie das in Deutschland in der Novemberrevolution, Anfang der zwanziger Jahre (im Reichstag, aber auch während der Thüringer Landesregierungen unter dem Leitendem Staatsminister August Frölich (SPD) von Oktober 1921 bis Februar 1924) oder unter den Linksregierungen Anfang der siebziger und achtziger Jahre in Frankreich unter Francois Mitterand der Fall war. Es waren im Übrigen zumeist konservative Regierungen, die in der Alt-BRD in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg soziale Verbesserungen zu Gunsten der abhängig Arbeitenden ohne größere Klassenkämpfe in Gang setzten - unter dem Druck der Systemauseinandersetzung mit dem Realsozialismus.

PDS und LINKE haben sich bereits, ohne den Regierungschef zu stellen, an mehreren Landesregierungen beteiligt: in Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg. Diese Erfahrungen sind wenig ermutigend. Mit diesen Regierungen wurde jeweils die Politik der entsprechenden Landesregierungen ein wenig besser (in Berlin nicht einmal das): In Mecklenburg-Vorpommern gab es dank der PDS eine gute Umweltpolitik. In Brandenburg konnte Die LINKE u.a. auf deutliche Fortschritte bei der Sportförderung verweisen. Aber durchweg wurde das Erscheinungsbild der Partei Die LINKE in diesen Ländern schlechter und unattraktiver. Die Wähler liefen ihr davon. Sie verlor ihre Glaubwürdigkeit als Partei der sozialen Gerechtigkeit und sie verlor die Fähigkeit, Protest gegen soziale und politische Verschlechterungen zu organisieren - keine guten Aussichten für die Linken in Thüringen.


Anmerkungen

(1) Eine Umfrage von INSA im Auftrag der Thüringer Landeszeitung zwei Monate nach der Regierungsbildung von Ende Januar/Anfang Februar 2015 ergab 29 Prozent für Die Linke, 11 Prozent für die SPD, 6 Prozent für die Bündnisgrünen, 40 Prozent für die CDU und 10 Prozent für die AfD.

(2) Vgl. Bundesrat, Stenografischer Bericht, 930. Sitzung, Berlin, 6. Februar 2015, S. 26. Von den Thüringer Mitgliedern wurden "keine Einwendungen" erhoben.

(3) Programm der Partei DIE LINKE. Thüringen zur Landtagswahl 2014, Beschluss des 4. Landesparteitages 2. Tagung, 22. März 2014 in Sömmerda, S. 4.

(4) Thüringen gemeinsam voranbringen - demokratische, sozial, ökologisch, Koalitionsvertrag zwischen den Parteien DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GÜNEN für die 6. Wahlperiode des Thüringer Landtags, Stand November 2014, S. 5.

(5) N. Böhlke, Rot-Rot-Grün: Linke Politik unter Haushaltsvorbehalt,
http://marx21.de/rot-rot-gruen-linke-politik-unter-haushaltsvorbehalt

(6) Regierungserklärung von Ministerpräsident Bodo Ramelow, 13. Dezember 2014, S. 4.
http://www.jenapolis.de/2014/12/13/, S. 4.

(7) Nach einer Umfrage von Anfang Oktober 2014 von Emnid für das Nachrichtenmagazin "Focus" hielten lediglich 30 Prozent der Befragten im Osten die DDR für einen Unrechtsstaat (in Westdeutschland 72 Prozent). (Auslassung)
http://www.huffingtonpost.de/2014/10/06/gysi-unrechtsstaat_n_5932.htm/712
Nach einer Umfrage von Mai und Juni 2014 in Thüringen zur Aussage "DDR war ein Unrechtsstaat" sagten 45 Prozent der Befragten Nein und 52 Prozent Ja (bei Arbeitern: 57 Prozent Nein und 41 Prozent Ja). Vgl. Politische Kultur im Freistaat Thüringen, Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2014, Friedrich-Schiller-Universität Jena, September 2014, Tabelle A10.

(8) Regierungserklärung, a.a.O., S. 3.

(9) Vgl. E. Lieberam , Der Kniefall von Thüringen, eine Dokumentation, Bergkamen 2014, S. 12.

(10) Vgl. junge Welt vom 2.12.2014.

(11) Vgl. Sudie: Linksexteme Einstellungen sind weit verbreitet, Presse und Kommunikation, Freie Universität Berlin, Nr. 44/2015, 24. 2. 2015, S. 1.

(12) P.M. Diestel, Die meisten Pappnasen waren gar nicht dabei, ND vom 10.2.2015.

(13) R. Zelik, Emanzipation und Reformpolitik, Elf Thesen zu Mitte-Links-Regierungen in Thüringen und anderswo, ND vom 1.6.2014.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 187 - Frühjahr 2015, Seite 8 bis 12
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2015

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