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ARBEITERSTIMME/291: Vor 40 Jahren - Portugal im revolutionären Aufbruch 1974/75


Arbeiterstimme Nr. 185 - Herbst 2014
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Vor 40 Jahren:
Portugal im revolutionären Aufbruch 1974/75

Anmerkungen und Notizen zur "Nelkenrevolution"



25 de Abril

Als in der ersten Morgenstunde des 25. April 1974 das dadurch berühmt gewordene Lied "Grandola, vila morena" (Grandola, braungebrannte Stadt) über den katholischen Sender Radio Renascenca erklang, war es das verabredete Zeichen für eine Reihe bereitstehender zuverlässiger Militäreinheiten, in Kolonnen von Transport- und leichten gepanzerten Fahrzeugen aus ihren Kasernen auszurücken und in der Hauptstadt Lissabon und anderen größeren Städten des Landes und Kasernenstandorten binnen weniger Stunden strategische Punkte (Straßen, Plätze, öffentl. Gebäude, Ministerien, Radio- u. Fernsehsender, Verkehrsknoten, Flughäfen usw.) zu besetzen und kontrollieren. Überall im Land wurden Militärkommandanten festgesetzt, das Gros der Armee verhielt sich defensiv, einzelne mobilisierte Truppenteile liefen spontan auf die Seite der militärisch unterlegenen Minderheit der revoltierenden Militärs über. Die Stimmung war auf einen Führungswechsel eingestellt. Vor allem vom Diktatursystem unbelastete jüngere Nachwuchsoffiziere und Unteroffiziere aus dem Kleinbürgertum, militärisch "sozialisiert", trainiert und geprägt in der portugiesischen Armee besonders durch die in Portugals afrikanischen "Überseeprovinzen" (Angola, Mozambique, Guinea-Bissau u. a.) schon seit über zehn Jahren tobenden Befreiungskriege, hatten sich in Absprache mit einer Reihe von Generälen dazu entschlossen, der bestehenden Diktatur des Marcelo Caetano und dem salazaristischen "Estado Nuevo" (Neuer Staat) ein Ende zu setzen und damit auch den "schmutzigen" Kolonialkrieg zu beenden.

Generalstabsmäßig

Der Plan dazu war minutiös und intelligent durchdacht und hatte wahrhaft humanitäre Ziele: er sollte nach Absetzung der bestehenden diktatorischen Regierung und Einsetzung einer vorübergehenden "Junta der Nationalen Errettung" (JSR; bestehend aus fünf Generälen des Heeres und zwei Admirälen mit General Spinola an der Spitze als provisorischem Staatspräsidenten) den Weg freimachen für grundlegende politische Veränderungen und bedeutende soziale und wirtschaftliche Reformen. Mit den Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegungen sollten Waffenstillstände vereinbart und ihnen Zusagen für ein rasches: Ende der Kolonialherrschaft auch in den Minikolonien der Inselgruppen Sao Tome und Principe (Golf von Guinea) und Kapverde gemacht werden. Erwähnt sei noch der pazifische Kolonialbesitz Portugals, Ost-Timor, wo es drei konkurrierende Befreiungsbewegungen gegen das koloniale Stammland gab, darunter als bedeutendste die marxistische FRETILIN. Ab Ende des Jahres 1975 - kurz nach dem Besuch des us-Präsidenten Ford und seines Außenministers Kissinger im November in Indonesiens Hauptstadt Djakarta - befand diese sich jedoch in der neuen Situation des Kampfes gegen eine einsetzende, von us- und australischer Seite gestützte Invasion durch indonesische Truppen, noch während die wenigen letzten portugiesischen Militäreinheiten ohne Widerstand dagegen das Land verließen.

Die aktuelle Macht der Stunde im Zentrum des alten, überlebten Kolonialstaats Portugal kam buchstäblich aus den Gewehrläufen, die diesmal kalt blieben. Bekannt, ja geradezu populär wurde dieser "Staatsstreich" eines "progressiven" Militärs, weil ihm die Bevölkerung spontan mit einem historischen Zeichen, wie sie die Geschichte kurioserweise immer wieder in solchen "Sternstunden der Menschheit" bereithält, antwortete. Man "verbrüderte" sich auf der Straße schnell mit den angerückten Soldaten, indem (so zumindest geht die mythenbildend kolportierte Kunde) ihnen zuerst von den Marktfrauen der Blumenstände weiße und rote Nelken überreicht wurden, Symbol der Arbeiterbewegung, die sich die Soldaten an ihre Uniformen hefteten oder kurzerhand in die Läufe ihrer Gewehre steckten. In öffentlichen Kommuniques der rebellierenden Armee wurde die Bevölkerung aufgeklärt und zum Ruhe bewahren aufgefordert. Zusammen mit den Fotos von jubelnden Menschen auf Panzern war es die Geburtsstunde von um die Welt gehenden Bildern einer friedlichen "Nelkenrevolution", wie sie danach fortan in romantischem Anklang genannt wurde. Diktator Caetano, der sich handlungsunfähig mit Gefolge in eine Kaserne geflüchtet hatte, wurde von belagernden Soldaten und Volksmenge zur Aufgabe gezwungen und durch General Spinolas Vermittlung unter Militärgeleit außer Landes gebracht, von wo ihn der Weg über einen Zwischenaufenthalt auf der portugiesischen Atlantikinsel Madeira weiter ins brasilianische Exil führte (dort verstarb er 1980).

MFA, POVO - POVO, MFA

Hinter den Generälen, Offizieren, Unteroffizieren und einfachen Soldatenmannschaften stand die bereits im Spätsommer 1973 konspirativ gebildete "Bewegung der Streitkräfte" (Movimento das Forcas Armadas, MFA), als Folgezusammenschluss des etwa 2 bis 300 Offiziere umfassenden "Movimento dos Capitaes" (Bewegung der Hauptleute), zur Koordinierung und Absicherung der Aktivitäten und Maßnahmen. Sogleich war auch eines der vielleicht eingängigsten modernen "Logos" aus der Feder des portugiesischen politischen Karikaturisten Joao Abel Manta für eine politische Bewegung geboren, das die enge Verbundenheit zwischen Streitkräften (MFA) und Volk (POVO) symbolisieren und ausdrücken sollte: ein Bauer mit Soldatenmütze, Uniformhose, Soldatenstiefeln und Forke, umarmt von einem bartstoppligen Soldaten mit Bauernschlappmütze, Uniformjacke, Bauernpluderhose, Holzschuhen und Gewehr. Die Symbolik war klar: es sollte eine mit Waffen geschützte politische Initiative des Volkes sein, die nach dem Willen der Militärs als handelndes Subjekt der neuen Zeit Richtung und Ton angeben sollte. Der weitere Text des von lose "Zeca" Afonso bereits 1964 komponierten und getexteten und von der Zensur verbotenen Liedes Grandola lautete eindeutig: terra da fraternidade / o povo e quem mais ordena / dentro de ti, o cidade! (etwa: Heimat der Brüderlichkeit, das Volk ist es, das am meisten bestimmt in dir, o Stadt), war gleichzeitig Signal und Programm. (F. J. Degenhardt lieferte alsbald eine frei übersetzte, klangvolle deutsche Version.) Es wird inzwischen wieder bei Protesten und Kundgebungen gegen die Spar- und Austeritätspolitik der portugiesischen Regierung und EU-Troika gesungen, so bei den landesweiten Protesten Hunderttausender am 2. März 2013. MFA POVO, POVO MFA wurde damals auch als Parole bei vielen Demonstrationen gerufen. Zunächst erwies sich diese Verbindung als wirksamer Anstoß, die Ereignisse anzuschieben und voranzutreiben. Zeitweilig betätigten sich die MFA und die von ihr entsandten Einsatz- und Pionierkräfte der Armee als "technisches Hilfswerk" beim Strassen- und Brückenbau und in der Strom- und Wasserversorgung im stark unterentwickelten Norden des Landes (wovon man sich heute kaum noch eine Vorstellung machen kann) und als Berater und Instrukteure im Gesundheitsbereich, in der Landwirtschaft und bei der "kulturellen Dynamisierungskampagne" (Kultur und Bildung fürs Volk).

Charakter, Struktur und Programm der MFA

Die Bewegung der Streitkräfte bestand als eine Art organisiertes "Forum" mit exekutiven Befugnissen aus einigen hundert Offizieren und Unteroffizieren, z. T. mit Zugang zu Schlüsselpositionen der Befehlshierarchie innerhalb der regulären Streitkräfte (200.000 Mann, ca. 5.000 Offiziere). Wichtige Funktions- und Entscheidungsebenen waren die zentrale Versammlung und die sog. "Koordinierungskommission" (auch mit Weisungsmacht für den zivilen Bereich), sowie der "Rat der Zwanzig". Die MFA gab auch eine Zeitschrift "Movimento" heraus. Es existierte weiterhin die reguläre Militärhierarchie mit den Befehlshabern und Ressorts der drei Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine und zentralem Generalstab, aus denen hochrangige Repräsentanten der MFA angehörten. Allein schon dieser Umstand führte zu inneren Spannungen, Konfliktlinien und Angriffspunkten für Einflussnahmen von außen. In ihrer inneren Struktur war die MFA keine geschlossene einheitliche Formation, die nur zu Beginn mit einer Stimme, einer Zielrichtung auftrat. Sie vereinigte in sich verschiedene organisierte Strömungen, die auch Parteiorientierungen widerspiegelten, von ganz links bis reformistisch (Sozialistische Partei, PSP) und rechts, zwischen denen es ein Geflecht von koalitionären bis gegnerischen Beziehungen gab und die zeitweise auch jeweils mehrere Minister in den provisorischen Kabinetten stellten. Ohne Berücksichtigung dieses Faktums ist nicht zu verstehen, wie es schließlich auch in der MFA unter der Einwirkung gegenrevolutionärer Stimmungen und Bestrebungen zu den Konflikten kam, in deren Folge der gemäßigte bis rechte Flügel die linken und radikallinken Teile ausschaltete.

Das linke MFA-Mitglied, Oberst (General) Vasco Goncalves, benennt in persönlichen Notizen an den Buchautor Klaus Steiniger (siehe Abschn. üb. "Neuere Literatur") diese Strömungen genauer und ordnet sie einander zu. Demnach gab es "die Gruppe um Spinola, die zwar das Regime ändern, aber vom System so viel wie möglich bewahren wollte". In der zweiten Strömung, so Goncalves weiter, hätte sich ein großer Teil der Offiziere mit einer gemeinsamen Position (Einhaltung des MFA-Programms, Einstellung der Kolonialkriege, Demokratisierung des Lebens), gesammelt, die auch ein besonderes offenes Verständnis für die Volksbewegung gezeigt hätten. "Diese Strömung kann aber nicht als revolutionär-demokratisch bezeichnet werden. Zu ihr gehörten Revolutionäre (...). Sie verkörperten aber bei weitem nicht die Mehrheit". Die erste Strömung sei zerfallen in "radikale Antikommunisten/Klientel der bürgerlichen und gemäßigt-konservativen Parteien. Es gab dort auch Leute, die einer der Sozialistischen Partei (SP) nahestehenden Linie folgten" Zur zweiten Strömung bemerkt Goncalves, "dass es außer (...) der reformistischen, revolutionären und ultralinken Linie auch noch eine vierte Linie gab, die ebenfalls den bürgerlichen und gemäßigt-konservativen Kräften nahestand" (Zit. nach handschriftl. Notizen von Goncalves vom 28.6.1983 in: K. Steiniger, Portugal im April, Berlin 2011, S. 434f.). Allgemein hat sich in der Literatur die Dreiteilung der Streitkräftebewegung eingebürgert in "Gemäßigte" (PSP u. bürgerl. Liberale/Rechte), "Revolutionäre" (kommunistisch) und "Populisten" (radikal links).

Der ursprünglich in der westafrikanischen Provinz Guinea-Bissau als Militärbefehlshaber und Gouverneur gegen die dort operierende PAIGC (unter Amilcar Cabral, ermordet '73) eingesetzte und von Beginn an mit Führungsanspruch auftretende General Antonio de Spinola (1910-1996), Markenzeichen Monokel vorm rechten Auge, hatte Anfang '74 sein Buch "Portugal e o Futuro" (Portugal und die Zukunft) vorgelegt, dessen nüchterne Bilanz, der Kolonialkrieg sei militärisch nicht zu gewinnen und demokratische Reform-Vorschläge in Militärkreisen schnell die Runde machten. Man handelte freilich nicht nur uneigennützig. Unter den Offizieren und Unteroffizieren im Antiguerillakampf gab es um sich greifenden Unmut wegen unerledigter interner Besoldungs- und Beförderungsfragen. Außerdem verschlang der Kolonialkrieg in den verschiedenen Überseeregionen 40 % und mehr der portugiesischen Staatsausgaben, Geld, das im eigenen Land für notwendige wirtschaftliche Investitionen und Förderungen etwa im Bildungsbereich (im Schnitt um die 35 % der portugiesischen Bevölkerung waren Analphabeten) und auch bei der Modernisierung der Armee fehlte. Angestrebt mit dem Aufstand wurde möglichst rasch eine neue gesetzgebende Nationalversammlung und die Neuwahl eines Präsidenten durch die gesamte Nation. Bemerkenswert neben den im Programm formulierten bürgerlichen Grundfreiheiten wie Rede-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit sowie der Forderung nach unabhängiger Gerichtsbarkeit, waren die Abschnitte zu einer neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sie waren keineswegs nur "geduldiges Papier", sondern beinhalteten u. a. eine angestrebte Verbesserung der Lage bisher benachteiligter Bevölkerungsschichten, den Kampf gegen die Inflation und die Senkung der Lebenshaltungskosten im Rahmen einer "antimonopolistischen Strategie" und im Sinne der "Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse"! (siehe Programm der Bewegung der Streitkräfte vom 25.4.1974; Anhang z. Gesetz Nr. 3/74 vom 14.5.74, Provisorische Verfassung). Außenpolitisch galt die Orientierung an den bestehenden internationalen Verträgen und Vereinbarungen (Prinzip der Unabhängigkeit und Gleichheit aller Staaten, Nichteinmischung in Angelegenheiten anderer Länder, Respektierung der Verpflichtungen aus international geltenden Abkommen). Im Unterschied zur Tendenz rechter Kräfte, die Einheit MFA und Volk zu schwächen und zerstören, ging es den linken und extrem linken Kräften mehr darum, diese Einheit zu betonen und stärken und die MFA ggfs. mit weiteren Eingreif-, Kontroll- und Wächterfunktionen ausgestattet zu sehen. Ein zentraler Konflikt war damit programmiert.

Die Nelkenrevolution im ausgewählten linkspublizistischen Spiegel

Das Ereignis der portugiesischen Nelkenrevolution hat publizistisch im deutschsprachigen Veröffentlichungsspektrum über die Jahrzehnte keine besondere Resonanz hinterlassen. Vieles erschien damals aktuell in Form von Broschüren, Berichten und Sonderausgaben politischer Zeitungen. Beachtenswert neben Arno Münsters früher "analytischer Reportage" "Portugal im Jahr 1 der Revolution" (Berlin 1975) etwa die vom Sozialistischen Büro hrsg. Schrift "Portugal - Auf dem Weg zum Sozialismus? - Analysen und Dokumente"; Offenbach, Mai 1975, 160 S.). Genannt sei neben einem im Mai 1975 erschienenen längeren Analyse-Artikel der Zeitschrift "Arbeiterstimme" (ARSTI), "Portugal am Scheideweg", Heft 2/3, 5. Jg., der die Bedeutung der politischen Kräfte und die Motive der handelnden politischen Parteien untersuchte, besonders auch ein umfangreicher, gründlich erarbeiteter Sonderdruck der Informationsbriefe "Arbeiterpolitik" "Ursachen und Triebkräfte der Klassenkämpfe in Portugal", 24 S., relativ spät im Dezember 1975 (unter www.arbeiterpolitik.de). Nach einem ersten Beitrag "Portugal: Revolution oder Konterrevolution?" in Heft 5, 20.9.75, geht die ARPO darin in ihrer genauen Analyse und weithin zutreffenden Einschätzung noch von einem unentschiedenen Ausgang zwischen Revolution und Konterrevolution aus. Auch wenn m. E. der Faktor Bewegung der Streitkräfte, obwohl naturgemäß weit entfernt davon, insgesamt klassenbewusst handelnde Kraft widerzuspiegeln, als wichtige Garantin des grundlegenden Veränderungsprozesses von der ARPO unterschätzt wird, was sich besonders zeigte, als der vorwärts drängende linke Teil der MFA im späten Verlauf des Jahres 1975 politisch immer mehr zurückgedrängt und dann ausgeschaltet wurde. Die Reaktion konzentrierte ihre anhaltenden Angriffe besonders auf die linke Streitkräftebewegung. Zu ihr gehörte Otelo Saraiva de Carvalho (Jg. 1936, geb. in Mozambique), Gründungsmitglied der "Hauptleutebewegung", Hauptorganisator des Aufstands des 25. April und dann Befehlshaber der im Juli 1974 per Dekret Spinolas geschaffenen ca. 5.000 Mann starken MFA-Sicherheitseingreiftruppe COPCON (Operationskommando Kontinent). Er hatte unter Spinolas Befehl in Guinea-Bissau gedient und genoss dessen Vertrauen. Unlängst bekannte er in einem Interview offen, dass er den Aufstand des 25. April nie mit geplant und umgesetzt hätte, wenn er geahnt hätte, was aus Portugal bis heute werden würde (wikipedia, zit. nach Internetportal destak.pt vom 13.4.2011).

Gleichsam wie in einem anderen Revolutionslogo des schon erwähnten Zeichners Manta, das eine Reihe bekannter Gestalten der Weltgeschichte zeigt, darunter Lenin, Marx, Stalin, Che Guevara, Bakunin, Engels, Ho Chi Minh, Fidel Castro, Trotzki, Gandhi, Mao, Bertrand Russell, Sartre, Luxemburg, Gramsci, Kropotkin, Kissinger usw., wie sie auf der Schulbank sitzen und auf die Umrisse einer Karte von Portugal auf einer Schultafel blicken und eifrig mitschreiben, mag man den Titel der Karikatur "Uma problemo difficil" (Ein schwieriges Problem) im übertragenen Sinn auch als Hinweis darauf verstehen, dass auch die klügsten Revolutionäre aus der Nelkenrevolution quasi als harter Nuss noch neue Erkenntnisse und Schlüsse ziehen können oder gar müssen.

Portugiesisches Volk und europäische Kultur begegnen einander, so könnte man ein anderes bekannt gewordenes Revolutionslogo von I. A. Manta aus der "kulturellen Dynamisierurzgskampagne" (Campanha de dinamizacao cultural) der MFA bezeichnen. Es zeigt, sich gegenseitig die Hand reichend, auf der einen Seite einen Militärvertreter und barfüssigen Bauern mit Familie, auf der anderen ein "Who is Who" von Repräsentanten aus europäischer Kultur und Wissenschaft, allen voran Sokrates, Einstein und Beethoven, gefolgt u. a. von Shakespeare, Picasso, Marx, Chaplin, Goethe, Darwin, Descartes, Freud, Armstrong, Voltaire (und man darf raten wer noch alles). Eine symbolische Willkommensgeste des einfachen Volkes an die europäische Welt der Wissenschaften und Künste, in das neue Portugal Einzug zu halten.

Neuere Literatur zum Thema

Vereinzelt gab und gibt es Beispiele, die das magere Ergebnis wiss. Aufarbeitung aufbessern, etwa mit dem 1997 von Dietrich Briesemeister und Axel Schönberger hrsg. opulenten Standardwerk "Portugal heute. Politik, Wirtschaft, Kultur" (Vervuert, Frankfurt/M.), in dem besonders die beiden Hrsg. im Politikteil differenzierte Einzelbetrachtungen zu bestimmten Verlaufsaspekten der Revolutionsthematik, einschließlich verfassungs- und außenpolitischer Erörterungen, nachliefern. Als ein aufarbeitender Versuch ist neben der 2012 von Baer/Dellwo hrsg., bereits wieder vergriffenen Studie (Neuauflage in Planung) "25. April 1974 - Die Nelkenrevolution. Das Ende der Diktatur in Portugal" in der Reihe "Bibliothek des Widerstandes", Laika Verlag) auch Urte Sperlings 1987 als Diss. vorgelegte wissenschaftliche Arbeit zu verstehen: "Portugal - Von Salazar zu Soares. Krise der Diktatur und Systemstabilisierung in einem europäischen 'Entwicklungsland'" (Marburg, Verlag Arbeiterbewegung und Geschichtswissenschaft GmbH). Sie lieferte wohl auch die materialreiche Grundlage für das jetzt von ihr nachgereichte kleine Bändchen "Die Nelkenrevolution in Portugal" (siehe die Rezension von Dieter Nake in: Marxistische Blätter 3/2014, S. 150f.), das aktuell in der verdienstvollen Reihe "Basiswissen" des PapyRossa Verlags anlässlich der 40. Wiederkehr des Umsturzes in Portugal erschienen ist und einen guten fundierten Überblick bietet. Als "einen der wenigen weitreichenden, die sozial-ökonomischen Strukturen des Kapitalismus tatsächlich antastenden Befreiungsversuche, die seit den Tagen der Pariser Commune in Westeuropa unternommen wurden", bezeichnet der damals als Zeitzeuge und DDR-Korrespondent (Neues Deutschland) im Land anwesende Klaus Steiniger in seinem nach fast drei Jahrzehnten wieder veröffentlichten Report "Portugal - Traum und Tag" (Leipzig 1982; neu unter dem Titel: "Portugal im April: Chronist der Nelkenrevolution", im W. Heinen Verlag, Berlin 2011) das denkwürdige Geschichtsereignis. Ein Buch, das bei aller spannenden Authentizität des Berichteten hinsichtlich der Fakten mit etwas Vorsicht zu genießen ist. Sein Verfasser, verantw. Redakteur der politischen Zeitschrift RotFuchs, neigt dazu, sich vorrangig und mitunter etwas plump Partei ergreifend dem Auftreten und der Politik der PCP und ihr nahestehender Repräsentanten des revolutionären Prozesses wie des MFA-Mitglieds Vasco dos Santos Goncalves (1921-2005) zu widmen, der zwischen Mai 1974 und September 75 der 2. - 5. Provisorischen Regierung unter kommunistischen Beteiligungen führend vorgestanden hat und im Anhang als Freund des Autors eine Reihe ergänzender und korrigierender Anmerkungen zum Buchtext macht. Gleichzeitig werden etwa andere revolutionäre linke Gruppierungen und MFA-Mitglieder wie z.B. der Umsturzstratege Major/Brigadegeneral Otelo Saraiva de Carvalho in Motiven und Wirken nicht nur kritisiert, sondern teils diffamierend als "pseudo-/ultralinks/revolutionaristisch" und verfälschend dargestellt und der Eindruck erweckt, als sei die portugiesische Revolution eng und wesentlich allein nur mit den Zielen und dem Handeln der kommunistischen Partei identisch und verbunden gewesen, was den Gebrauchswert als glaubwürdige historische Informationsquelle schmälert und die Chronistenpflicht unterläuft. Eine weitere interessante Neuerscheinung stammt von Ismail Küpeli: "Nelkenrevolution reloaded? Krise und soziale Kämpfe in Portugal" (Reihe Systemfehler, Bd. 4, Edition Assemblage, Münster 2013, 96 S.). Küpeli, Mitglied im BUKO Internationalismus, richtet das Augenmerk, wie der Titel schon vorgibt, aktuell auf die schwierige Situation im Land, geht aber auch Bezügen zur Revolution in den 70er Jahren und den Entwicklungen seither nach. Eine schnelle erste Übersicht lässt sich aus Svenja Schells Studienarbeit "Die Ursachen und Folgen der Nelkenrevolution" gewinnen (Grin-Verlag 2007, Books on Demand; Zwischenprüfungsarbeit, 24 S.).

Portugalsolidarität der deutschen Neuen Linken

In einer Reihe größerer bundesdeutscher Städte und Westberlin entstanden Portugal-Solidaritätskomitees. Wer nach dem Niedergang der 68er-StudentInnenrevolte weder die Ausgänge in die neugegründete DKP oder straffe K-Gruppen-Organisierung noch den "Langen Marsch" durch die gerade noch kritisierten und bekämpften Institutionen mit vollziehen wollte, suchte nach anderen Betätigungsfeldern und Identifikationen und fand sie z.B. in "Dritte-Welt"-Gruppen oder der sich anbietenden Solidarisierung mit der Nelkenrevolution in Portugal. Der größere Teil der Portugalkomitees setzte sich aus eher undogmatisch eingestellten Linken zusammen, die oft die ersten Initiativen ergriffen: Spontis, Anarchos, Antifas (Autonome im spezifischen Wortsinn gab es noch nicht), Unorganisierte, in örtlichen Bündnissen mit Gruppierungen wie dem Sozialistischen Büro (SB), Kommunistischen Bund (KB) und trotzkistisch-internationalistischen Gruppen, die zusammenarbeiten konnten unter Hintanstellung ihrer ideologischen Differenzen. Außer interner Information, Flugblattaktionen und oft kontroversen Diskussionen auf Veranstaltungen mit Beteiligung portugiesischer GenossInnen, organisierte man die "Entsendung" von Einzelnen und kleinen Gruppen nach Portugal, die dort als Erntehelfer, technisch Mitarbeitende in Landkooperativen (viele davon im besetzten Status) oder anderswo in Arbeitskollektiven tätig wurden. Auf dem Land trafen sie auf z.T. abgeordnete oder freiwillig anwesende portugiesische Soldaten und Studenten, die sich an der Besetzung von Landgütern beteiligt hatten. Nach den bewaffneten Interbrigaden im spanischen Bürgerkrieg war es wieder das erste Mal, dass sich kleine Solidaritätsgruppen als Helfer und Unterstützende mit eindeutig sozialistischer Motivation ins Land selbst begaben. Sie kamen und beteiligten sich diesmal jedoch ohne Waffen, um eine weithin ohne Gewalt sich vollziehende gesellschaftliche Veränderung tatkräftig zu unterstützen. Es war die Vorwegnahme dessen, was dann nur wenige Jahre später in weit größerem Umfang mit den Solidaritätsbrigaden für Nicaragua stattfinden sollte.

Wünsche und Realitäten

Nicht selten waren die Beweggründe auf Seiten der dt. Neuen Linken bei der Portugalsolidarität von idealistisch motiviertem Wunschdenken und gewissen voluntaristischen Vorstellungen über eine revolutionäre Veränderung unter dem Banner eines "freiheitlichen (libertären) Sozialismus" und Rätemodellen beeinflusst. Die Analysen und Einschätzungen, wie sie etwa in dem bereits erwähnten Sonderdruck der ARPO (a.a.O.) vom Klassenstandpunkt aus vorgenommen werden, liefen auf eine realistische Bewertung der Lage, politischen Kräfte und Klassenorgane hinaus, auf die dabei gesetzt werden konnte (musste), wie etwa die PC, Gewerkschaften und sozialistisch orientierten "Massenorgane" wie die Arbeiterkommissionen usw. Der Kampf verlief zwar schwerpunktmäßig auch im ökonomischen Bereich, vollzog und entschied sich im Kern aber auf der Ebene der politischen Macht. Es gab, so sinngemäß die von der ARPO vorgetragene Einschätzung, nur zwei wirkliche Optionen: entweder gelang den für eine grundlegende Veränderung angetretenen und sich weiter herausbildenden politischen Kräften in den sich zuspitzenden Klassenauseinandersetzungen (auch gegen die außenpolitischen Kontrahenten von USA, NATO und EG) gemeinsam die erfolgreiche Durchführung der sozialen Revolution mit der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung oder die politische Reaktion und Restauration in dieser oder jener bürgerlichen (,demokratischen') Form würde am Ende den Sieg davontragen. Einen "dritten Weg" in eine eigenständige, "sozial gerechtere", "demokratisch-pluralistische", sozialmarktwirtschaftliche Zukunft (Option der PS nach BRD-Vorbild) würde es unter den herrschenden imperialistischen Bedingungen demnach nicht geben können, bzw. früher oder später in die zweite Option restaurativer Krisen-Realitäten münden, was dann schließlich auch geschah. So gesehen trug die strategische Zerstrittenheit unter der portugiesischen Linken und fehlende revolutionäre Aktionseinheit ihren Teil mit dazu bei, dass sich die erste Option nicht durchsetzen konnte.

Prozess in drei Phasen

Die entscheidende revolutionäre Dynamik entwickelte und vollzog sich in einem Zeitraum von nur etwa 22 Monaten von April 1974 bis gegen Ende des Jahres 1975. Der besseren Übersicht wegen und weil hier aus Platzgründen keine ausführliche Verlaufsbeschreibung gegeben werden kann, soll hier der Ablauf des Geschehens in drei ineinander greifende bzw. aufeinander folgende Phasen skizziert und zusammengefasst werden.

1. Zeitraum bis Frühjahr 1975

Die initialzündende Anfangsphase mit dem geschickten Versuch rechtskonservativer Militärs um General Spinola und Verbündeter Armeekräfte im Hintergrund, im Schatten der Militärerhebung der MFA selbst an die Macht zu gelangen und ein präsidiales Regime mit Spinola an der Spitze ein- und durchzusetzen, das den Übergang am Ende zweier Diktaturen zur parlamentarisch-bürgerlichen Demokratie sofort einleiteten sollte (Spinolas Mobilisierungsversuch im Sept. '74 einer "Manifestation der schweigenden Mehrheit" aus dem ganzen Land für ihn auf der Straße; Bevölkerung in und um Lissabon mobilisierte mit Strassenbarrikaden dagegen, MFA verbot Demonstration und Kundgebung; erste Massenstreiks von Textil- und Chemiearbeitern, Eisenbahnern, Werftarbeitern mit massiert vorgetragenen sozialen Forderungen; offener rechter Putschversuch im März '75 unter Beteiligung der Luftwaffe). Diese Pläne sahen keine militärgestützte Revolution des Volkes vor und wollten sie von vorneherein blockieren und verhindern. Bereits zwei Jahre vor dem 25. April 1974 hatte Spinola versucht, Caetano zum Rücktritt zu bewegen, eine erste Militärrevolte war 1973 fehlgeschlagen. Während der Erhebung des 25. April verhielt sich Spinola abwartend im Hintergrund. Gegenüber dem MFA-Programm hatte er mäßigende Korrekturen geltend gemacht, vor allem ging ihm die Garantie der Unabhängigkeit für die Kolonien zu weit. Als Spinola Ende September 1974 einsehen musste, dass er mit seinen verdeckt putschistischen Vorhaben gegen Militär und demonstrierendes Volk legal nicht durchkam, musste er abdanken. Nach seinem endgültigen Scheitern im Frühjahr 1975 begab er sich zunächst nach Spanien, das er von seiner Zeit als Kämpfer an der Seite Francos im spanischen Bürgerkrieg noch gut kannte, von wo aus er noch weiter Kontakte zu rechten und profaschistischen Gruppierungen unterhielt, wechselte dann ins Exil in Brasilien.

2. Zeitraum bis ca. November 1975

Die in eine Zwischenphase fallende Durchkreuzung dieser Pläne durch das Eingreifen von Teilen des Volkes und der MFA selbst und Vereiteln des Spinola-Putsches vom März 1975, die - was zunächst nicht beabsichtigt war - nun ihrerseits in die Offensive ging mittels einer Selbstinstituationalisierung (Oberster Revolutionsrat mit Exekutivfunktion und Vetorecht gegen Regierungsbeschlüsse) und Verwirklichung eines präsozialistischen Programms (Enteignungen, Verstaatlichungen von Banken, Schlüsselindustrien und Versicherungen, Preisstop für Grundnahrung, Mindestlohnfestsetzung, Agrarreform, "kulturelle Dynamisierungskampagne"). Dies führte die MFA und die sich rasch formierende, z.T. stark kommunistisch bis linkssozialistisch bestimmte "Volksbewegung" (poder popular) enger zusammen, für die die MFA zeitweise zu einer Art "Flankenschutz" wurde (sog. "heißer Sommer" 1975; Betriebs- und Landbesetzungen, Kämpfe gegen Entlassungen, um Löhne und Arbeits-/Produktionsgestaltung, Soldatendemonstrationen, Bildung der radikalen Soldatenvereingung SUV/Soldados Unidos Vencerao, Massenkundgebungen, z.B. der PCP im September 1975, Parole "Die Revolution verteidigen!"; provozierter, gescheiterter Aufstand linker Militärs im November 1975). Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung vom 25. April 1975 mit einer Beteiligung von 92% erhielten die PSP 37,9 % (2,15 Mio. Stimmen / 116 Sitze), PPD (Volksdemokratische Partei; "Reformkapitalisten", Liberale) 26,4 % (1,5 Mio./80), PCP 12,5 % (710 Tsd./30), CDS (Demokratisch-Soziales Zentrum; offen rechts auftretend) 7,65 % (433 Tsd./16), MDP (Demokratische Bewegung; Bündnis von Kommunisten, Sozialisten bis Liberale und Katholiken) 4,1 % (233 Tsd./5), FSP (Sozialistische Volksfront; "PSP-Abspaltung") 1,2 % (66 Tsd./1), MES (Bewegung der Sozialistischen Linken) 1,0 % (58 Tsd./-), übrige, einschl. versch. linksradikaler Org. (Maoisten, Trotzkisten) alle unter 1 %. Die bürgerliche und rechte Presse hierzulande (BZ, BILD, FAZ) wertete dies unmittelbar als hoffnungsvollen "Sieg der Gemäßigten" gegen die "prokommunistischen Militärs" und Beweis für die Qualität der Sozialisten als Volkspartei und Erfolg bei der Ansprache von "überzeugt antikommunistischen Wählern". Stellt man allerdings aus anderem Blickwinkel in Rechnung, dass sich im Votum für die PS auch ein noch undeutlicher Wunsch vieler ihrer WählerInnen nach "Sozialismus" und damit Verbesserung der Lebensverhältnisse widerspiegelte, kann man von einer Mehrheit für Parteien mit erklärtem Ziel des "Sozialismus" ausgehen. Gleichzeitig offenbarte sich in dem Ergebnis die starke Polarisierung der portugiesischen Gesellschaft, der die Neigung der PS nach rechts ein Übergewicht gegen links verlieh (Angaben nach "Portugal auf dem Weg z. Sozialismus?", a.a.O, S. 21 u. 152).

3. Zeitraum ca. Sommer 1975 bis Juli 1976

Eine dritte Phase bereits schon ab Mitte 1975 verstärkt einsetzender "Gegenrevolution", die nun schon wesentlich mit bestimmt und getragen wurde von einer organisatorisch gefestigten Sozialistischen Partei (PS) und anderen bürgerlich-konservativen bis rechten Parteien. Sie machten sich nun ermutigt durch die Wahlergebnisse vereint daran, den sich verstärkenden "revolutionären Prozess" aufzuhalten und umzukehren (Parteien-Forderung "Armee zurück in die Kasernen!"; linkes MFA-Manifest "Für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft", Gegenentwurf von MFA-Hauptmann Melo Antunes von der "Gruppe der Neun"; der Fall der im Besitz PSP-naher Eigner befindlichen Zeitung "Republica", bei dem kommunistisch orientierte Drucker und Setzer und linke Redakteure und die Leitung/Verwaltung in Fragen der Parteilichkeit, Zensur, "Pressefreiheit" und Beschäftigung/Entlassungen im Mai '75 exemplarisch aneinander gerieten. Die Belegschaft besetzte die Zeitungsräume, woraufhin die MFA einschritt und mit Panzerwagen anrückte, den Betrieb schloss und die Belegschaft ausgesperrt wurde; Warnung von Soares an die "Gegner und Feinde" der Demokratie, Massenaufmarsch der PS im Oktober '75, Parole "Reinen Tisch" machen). Die Linke Mitte/Rechts-Offensive zielte auf stabile politische Verhältnisse im demokratisch-pluralistischen Sinn unter Zuhilfenahme des propagandistisch nach innen weitergeleiteten Drucks des Auslands (Bindung von Investitionen und finanziellen Krediten an "demokratische" Auflagen). So waren im Vorfeld eines im Mai 1975 beschlossenen Investitionsprogramms der Brüsseler EG-Kommission politische Interventionen (durch Vertreter des Europabundes sozialistischer Parteien) an die Adresse von Ministerpräsident Goncalves erfolgt, die vor der Gefahr des Kurses der PCP für die Entwicklung zu Demokratie und Sozialismus warnten und für den Weg dahin die Geltung der "Grundsätze der Industrienationen Europas" betonten. Bis auf die Sprecher der Marine wurden auf einer MFA-Versammlung Anfang Sept. 1975 die Vertreter der militärischen Linken aus dem Revolutionsrat entfernt. Am 19. September wurde General Goncalves als Ministerpräsident entlassen. An der letzten PS-dominierten 6. Provisorischen Regierung von Sept. 1975 bis Juli 1976 unter Premier Admiral Pinheiro de Azevedo war nur noch ein kommunistischer Minister beteiligt. Bei der Ausschaltung rebellierender Fallschirmjägerkompanien am 25. November spielte das gemäßigte MFA-Mitglied Ramalho Eanes als Befehlshaber einer Spezialeinheit der Streitkräfte eine zentrale Rolle. Etwa gleichzeitig wurde die "kulturelle Dynamisierung" aufgegeben, die 5. Abt. des Generalstabs, wo diese angesiedelt war, faktisch aufgelöst und der linke MFA-Flügel vollständig entmachtet. Im Juni 1976 unterlag Carvalho (14,4 %) eben diesem Eanes, inzwischen Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Chef des Generalstabs, bei den Präsidentenwahlen, der 61,6% für sich verbuchen konnte. (Punkte 1.-3. z. T. zusammengest. nach M. v. Rahden: "Portug. Zeitgeschichte: von der Nelkenrevolution bis z. Jahr 1997", in: Briesemeister/Schönberger, a.a.O., S. 213 ff. und K. Steiniger, a.a.O.)

Keine vollendete Revolution, keine faschistische Diktatur und Kolonialherrschaft mehr!

Was kann man - historisch - als vielleicht wichtigste Ergebnisse und Folge der Nelkenrevolution verbuchen, außer den wertvollen Erfahrungen und bleibenden Erkenntnissen, die die Arbeiterklasse und Teile der Bevölkerung in den sozialen und politischen Klassenauseinandersetzungen gesammelt haben? Die hier vertretene These ist: Unter den Bedingungen der West-Ost-Blockkonfrontation des Kalten Krieges und der NATO-Einbindung Portugals (bereits Gründungsstaat 1949) sowie der schwierigen ökonomischen Ausgangslage der portugiesischen Wirtschaft/Landwirtschaft außerhalb der EG (der Beitritt erfolgte nach jahrelangen Verhandlungen erst zum Beginn von 1986), in Verbindung mit dem außer in einigen größeren Städten und der Hauptstadt relativ schwach entwickelten Potential der portugiesischen Arbeiterbewegung, hatte die als Militärerhebung begonnene politische Befreiung von fast 50jähriger Diktatur - objektiv - keine große Aussicht, den Weg einer revolutionären Entwicklung hin zu einer dauerhaften sozialistischen Umgestaltung des Landes zu nehmen. Die MFA hatte den Verbleib in der NATO öffentlich wohlweislich nie in Frage gestellt. Wäre es dennoch mit maßgeblicher Beteiligung von Kommunisten und anderen Linkskräften in einer neuen Volksregierung vorzeitig oder absehbar zu einem Austritt aus der NATO gekommen, hätten die USA mit Sicherheit nicht tatenlos daneben gestanden und zugesehen, wie ihnen an der Südwestflanke des Militärbündnisses ein Partner abhanden kommt. In der einen oder anderen geeigneten Weise musste "ordnungspolitisch" reagiert werden, us-Militär- und NATO-Basen waren ja im Land bzw. auf den portugiesischen Azoreninseln (us-Luftwaffenstützpunkt) vorhanden. Im Februar 1975 fanden keineswegs zufällig vor Portugals Küste NATO-Seemanöver statt zur Übung der Sicherung der Öltransportwege. Dass hier Szenarien durchgespielt wurden, man wohl vorher auch "informiert" war, lassen etwa einzelne Details in den Erinnerungen Willy Brandts ("Erinnerungen", 2003, und "Begegnungen und Einsichten 1960-1975", 1978), zu der Zeit Vorsitzender der in den 1950er Jahren wiederbelebten Sozialistischen Internationale ("Traditionsverein", so W. Brandt) plausibel vermuten. Demnach zeigte man sich, Brandt eingeschlossen, seitens der USA und wichtiger europäischer NATO-Verbündeter sehr besorgt, es könnte in Portugal mithilfe sowjetischer Unterstützung zu so was wie einer "kommunistischen Lösung" kommen und, wie es die "fixe Idee" (Brandt) des us-Außenministers Kissinger war, sogar dazu, dass angeregt durch das portugiesische Beispiel am Ende ganz Südeuropa (Spanien, Italien, Griechenland) "marxistisch" werden könnte. (Vorsorglich hatte man schon mal ranghohen portugiesischen Militärs den weiteren Zugang zur Nuklearen Planungsgruppe der NATO verwehrt und ihnen keine internen Dokumente mehr zugeleitet). Das belegen im Land selbst aber auch die schleichenden bis offenen Putschversuche - es gab derer drei - von "rechts" unter Führung von General Spinola und seiner Gefolgsleute in der Armee. Wir hätten dann womöglich in der Geschichte in Westeuropa erstmals so was wie ein Ungarn 1956 oder Prag 1968 als "Lissabon 1974" erleben können. Wie hätten sich die portugiesischen Streitkräfte und MFA dazu gestellt und verhalten? Eine hochbrisante Frage.

Sozialistische Partei und Internationale als Erfüllungsgehilfen

Das Geschäft von notfalls intervenierendem us-Militär/CIA und NATO, ohnehin im Land präsent und subversiv aktiv, haben dann andere auf den Plan getretene und schnell an Einfluss gewinnende politische Kräfte moderater auf "zivile" Art besorgt, interne Absprachen dazu vorausgesetzt, was zwischen den Zeilen in Brandts erinnernden Aussagen ebenfalls anklingt. Brandt war es auch, dem die Aufgabe zufiel, bei einem Besuch in Moskau 1975 gegenüber der sowjetischen Führung eine eindeutig warnende Note vorzubringen, sich aus den Abläufen in Portugal herauszuhalten. Der "Fall" Portugal war mit oberster Priorität Sache der USA/NATO und westeuropäischen Sozialdemokratie (tatkräftig am Werk W. Brandt, O. Palme, B. Kreisky). Am deutlichsten war wohl die Rolle der Sozialistischen Internationale (SI) und ihres Ablegers im Land, der gerade erst im April 1973 in Münstereifel im Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung mit SPD-Hilfe von Rechtsanwalt Mario Soares (Jg. 1924) und engsten Vertrauten gegründeten Sozialistischen Partei Portugals (PSP). Diese trat propagandistisch bei den ersten freien Wahlen mit einem bei der CDU entlehnten, nur entsprechend umgestellten, Slogan "Sozialismus in Freiheit" an. Der zuvor zeitweilig in verschiedenen Exilrefugien weilende Soares, besonders von ausländischen Medien alsbald zur Symbolfigur des "demokratischen Aufbruchs" stilisiert (in Wirklichkeit erwies er sich als antirevolutionärer "Totengräber"), definierte das Ziel der "demokratischen Sozialisten" allgemein so: "Wir wollen einen Sozialismus, der die bürgerlichen Freiheiten und den Pluralismus der Parteien respektiert" (SPIEGEL v. 3.5.75, zit. nach ARPO, Nr.5, 20.9.75). SI und PS waren es jedoch vornehmlich, die den antikommunistischen Angst-Komplex erst richtig ins Land importierten und parallel zum rechten Lager unter den zugeneigten Massen schürten, der bis dahin im Salazarsystem zwar als latentes Feinbild genährt und kultiviert worden, aber genuin kein portugiesisches Phänomen wie vergleichsweise in der BRD war.

E.K., Bremen


Der zweite Teil des Artikels erscheint in der nächsten Nummer der Arbeiterstimme.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 185 - Herbst 2014, Seite 9 bis 16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2014