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ARBEITERSTIMME/234: Revolution am Nil?


Arbeiterstimme, Frühjahr 2011, Nr. 171
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Revolution am Nil?


Von Tunesien nach Ägypten

Am Anfang stand, so kann man es überall nachlesen, die Selbstverbrennung eines jungen Mannes aus Tunesien, der trotz seiner akademischen Bildung keinen Job gefunden, es als Obstverkäufer versucht hatte und sich den Schikanen der Polizei ausgeliefert sah.

"Die Flammen, die ihn umbrachten, entzündeten aber buchstäblich die Herzen von Millionen von Tunesiern, deren Demonstrationen wiederum Millionen von Ägyptern zur Rebellion ermutigten."
(Mumia Abu-Jamal)

Die Ägypter, die sich zu Hunderttausenden auf Kairos Platz der Befreiung(!) und in vielen anderen Städten seit 25. Januar immer wieder zusammenfanden, um ihrer Verzweiflung und lange aufgestauten Wut über ihre miserablen Lebensbedingungen Ausdruck zu geben, mögen je nach Klassenzugehörigkeit und sozialer Lage von unterschiedlicher Motivation bewegt gewesen sein. Mag es bei einem Teil der Protestierenden der Frust über die Wahlfälschungen bei der Parlamentswahl im November gewesen sein, für die Mehrheit dürfte aber eher die Kluft zwischen der eigenen Notlage und dem immensen Reichtum einer kleinen herrschenden Schicht den Ausschlag gegeben haben.


Ein Regime geht über Leichen

Denn im Januar/Februar des Jahres 2011 in Ägypten auf der Straße zu demonstrieren, hieß nicht weniger, als das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Die weit über 300 Toten belegen die Härte, mit der das Regime anfangs versuchte die Revolte im Keim zu ersticken. Wenn aber die Verelendung und die Ausweglosigkeit eine bestimmte Grenze überschreitet - das zeigt die Geschichte der Völker immer wieder - versagt oftmals die härteste Repression. Mit dem reichlich vorhandenen Personal von Polizei, Geheimdienst und Spitzeln und dem gnadenlosen Einsatz von brachialsten Methoden bis hin zu Folter und Ermordung, war es der ägyptischen Militärdiktatur jahrzehntelang erfolgreich gelungen, soziales Aufbegehren und oppositionelle politische Regungen zu unterbinden. Bei den Herrschenden musste der Eindruck entstehen, man könnte so in bewährter Manier weitermachen. "Der lange Arm des Staates" sei allgegenwärtig, aber nicht greifbar, die Polizei unfassbar brutal. Patronage und Korruption gehörten "zum Alltag wie Fladenbrot und Tee", beschreibt Christiane Schlötzer in einem Kommentar die Situation in Ägypten und fährt fort:

"Es sind frustrierte Gesellschaften. Besonders unzufrieden sind die jungen Leute, die sich mit all dem nicht mehr klaglos abfinden wollen, die sich nicht mehr fügen in ein von wem auch immer vorbestimmtes Schicksal."
(SZ, 29.1.11)

Michael Krätke, Professor für Ökonomie an der Universität Lancaster, sieht die "galoppierenden Lebensmittelpreise" der letzten Jahre als "Brandbeschleuniger der Wut" und verweist auf die Welthungerkrise von 2008, die in der aktuellen Berichterstattung selten erwähnt wurde, aber schon damals "zu blutigem Aufruhr in armen und ärmsten Ländern, nicht nur in Haiti, auch in Ägypten geführt" habe. Wie sich Preiserhöhungen für Lebensmittel in nordafrikanischen Ländern konkret für die Masse der Bevölkerung auswirken, erläutert Krätke wie folgt:

"In Tunesien, Algerien und Ägypten müssen durchschnittliche Haushalte 40 bis 50 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, so dass ein Preisaufschwung von 20 bis 25 Prozent seit November kaum zu verkraften ist. Schon gar nicht, wenn eine überwiegend junge Bevölkerung unter einer unvorstellbaren Arbeitslosigkeit leidet. Ohne Job - kein Einkommen, wenig Brot, noch weniger Fleisch. Kein Wunder, dass die Leute ihrer Verzweiflung auf der Straße Luft machen."

Auch die SZ-Journalisten Silvia Liebrich und Tim Neshitov benennen die steigenden Lebensmittelpreise als eine Ursache für das massive Aufbegehren:

"Auch die andauernden Proteste in Tunesien, Algerien, Ägypten und Jemen könnten als Kartoffel- oder Brotrevolutionen in die Geschichte eingehen. Die Demonstranten fordern zwar vordergründig einen Regimewechsel, aber der Zusammenhang zwischen hohen Lebensmittelpreisen und Konflikten. in der Region ist offensichtlich, spätestens seit 1977. Da versuchte Ägyptens damaliger Präsident Anwar el-Sadat, staatliche Subventionen für einige Lebensmittel zu streichen. Er löste damit eine Welle heftiger Proteste aus, die ihn zwang, seine Entscheidung rückgängig zu machen."

Bis heute werde Brot vom ägyptischen Staat hoch subventioniert. Das reiche aber nicht mehr aus, um die Bevölkerung ruhig zu halten. Bereits 2008 hätten aufgebrachte Ägypter den Rücktritt des Präsidenten gefordert. Fleisch, Brot und Obst seien seitdem noch teurer geworden. An Beispielen aufgezeigt heißt das:

"Rindfleisch etwa, das noch im Spätsommer umgerechnet drei Dollar pro Kilogramm kostete, wird in diesen Tagen für mehr als fünf Dollar angeboten. Gurken, Kartoffeln und Bohnen kosten heute das Doppelte und Äpfel sogar das Dreifache. Der Preis für Tomaten, ein unverzichtbarer Bestandteil der ägyptischen Küche, stieg um das Neunfache."
(SZ, 8.2.11)

Nun ist für explodierende Weltmarktpreise bei Lebensmitteln nicht das Mubarak-Regime verantwortlich zu machen. Goldman Sachs, JP Morgan, Barclays und die Deutsche Bank handeln

"... mit dem Geld von Investoren, denen sie höchst erfolgreich Zertifikate auf Warentermingeschäfte verkaufen. Hoch attraktiv für die Vermögensbesitzer, weil etliche solcher Spezialfonds in wenigen Monaten um 20 Prozent und mehr zulegen. (...) Großspekulanten, einzelne Hedge- oder Investmentfonds, befinden sich so gut bei Kasse, dass sie ohne weiteres sieben, acht oder zehn Prozent der weltweiten Ernte aufkaufen können, sei es bei Kakao, Reis oder Weizen."
(Krätke)

Robert Bibeau, ein französischsprachiger Autor stellt die Frage: "Warum lodert die Flamme des Volksaufstands in den Straßen von Algier bis Kairo?" Seine Antwort:

"Weil die arabischen Völker unterdrückt, ausgebeutet, ohne Beschäftigung und manchmal ohne Brot sind. Alle diese nachweislich vorhandenen Motive sind schon oft betont worden. Meist unerwähnt bleibt dagegen ein anderes, das meines Erachtens einen noch wichtigeren Faktor der Veränderung darstellt. Alle arabischen Länder haben - schrittweise, aber langsamer als der Westen - den Übergang von der patriarchalischen, handwerklichen Gesellschaft, einer Welt der kleinen regionalen Unternehmer, zu einer Ökonomie der Belieferung der globalen Märkte mit natürlichen Ressourcen und für den Export hergestellten Waren vollzogen. Eine Schicht von Milliardären, Millionären, großen Kapitalisten hat, gestützt auf die Staatsmacht und ihre Mittel, auf die Plünderung der öffentlichen Haushalte, nach und nach die Grundbesitzer und Basarhändler aus der Verwaltung des Staatsapparates verdrängt." Seit 30 Jahren hätten "diese Entwicklungen, einschließlich der Herausbildung einer Kaste der Großkapitalisten, Handelsmonopolisten und Kleinbürger im Handels- und Kommunikationsbereich, die soziale Landschaft der arabischen Länder tiefgreifend verändert (dies weniger in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten wegen der immensen Öleinnahmen)".
(junge Welt, 15.2.11)

Es sind die Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen Weltmarktes, die diese Ergebnisse hervorbringen.

Da die Akteure dieser Entwicklung für die betroffenen Menschen weder sicht- noch greifbar sind, richtet sich deren Wut gegen die heimischen Repräsentanten dieser Ordnung. Die allerdings waren gelehrige Schüler einer Wirtschaftsideologie, die als alternativlos galt und zum Teil immer noch gilt:

"Eine neoliberale, auf Steuersenkungen und forcierte Privatisierung setzende Wirtschaftspolitik, die dem Land 2007 den von der Weltbank verliehenen Titel des 'weltweit besten Reformers' eintrug."
(K. Knipp, Freitag, 10.2.11)

Und Nomi Prins, Mitarbeiterin einer Nichtregierungsorganisation aus New York, ergänzt mit Verweis auf eine Broschüre des ägyptischen Ministers für Investitionen - mit ihr hatte er noch im März 2010 versucht, internationales Kapital mit der Begründung anzulocken, für die Weltbank gelte sein Land als Reformland:

"Das Prädikat 'Reformer' der Weltbank hat nichts mit der Lage der Bevölkerung zu tun, sondern dreht sich nur um die Leichtigkeit, mit der 'heißes' internationales Geld in ein Land geworfen und wieder herausgezogen werden kann. Ägypten hat sich den Platz unter den ersten 10 'Reformern' in den letzten fünf Jahren viermal verdient." (SOZ 3/11)


Das System Mubarak

An der Spitze des Landes stand bis vor wenigen Wochen Husni Mubarak als Präsident und das seit über 29 Jahren. Einem kleinen Ort 60 km nordwestlich von Kairo entstammend, hatte sich der Sohn eines Gerichtsschreibers für die militärische Laufbahn entschieden. Als Offizier der Luftwaffe brachte er es nach einigen Auszeichnungen im Einsatz als Kampfpilot bis zum Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte und seine Ernennung zum Vizepräsidenten im April 1975 war nicht überraschend erfolgt. Nach der Ermordung des Präsidenten Anwar al Sadat wurde Mubarak 1981 Staats- und Ministerpräsident Ägyptens. Er regierte das Land bis zuletzt im Ausnahmezustand. (http://de.wikipedia.org/wiki/Ausnahmezustand)

Unter der Herrschaft Mubaraks war nicht mehr viel zu spüren vom Mythos der Bewegung der Freien Offiziere, die 1952 König Faruk gestürzt hatte. Nichts mehr vom sozialrevolutionären Programm des Gamal Abdel Nasser, der das Land bis 1970 regiert und Ägypten innerhalb der Bewegung der blockfreien Staaten weltweit hohes Ansehen verschafft hatte. Zwar war Mubaraks Nationaldemokratische Partei bis zu seiner Entmachtung Mitglied der sozialdemokratischen Sozialistischen Internationale, also eine Schwesterpartei der hiesigen SPD. Das verbindet diese Partei und deren Vorsitzenden mit der tunesischen Staatspartei des geflüchteten Präsidenten Ben Ali und sagt einiges über die Verkommenheit sozialdemokratischer Parteien aus. Der verspätete Ausschluss der beiden Parteien aus der Internationale nach der Flucht des jeweiligen Vorsitzenden muss nicht extra kommentiert werden. Für die US-Administration war Mubarak das, was gemeinhin als verlässlicher Partner bezeichnet wird. Washington konnte sich auf ihn in jeder Hinsicht verlassen. Dafür gab es Finanzhilfen, die unter den Staatsfunktionären, den Militärs und der nationalen Bourgeoisie aufgeteilt wurden. "Seine politische Langlebigkeit hat Mubarak dem Bündnis mit Amerika zu verdanken, das Ägypten seit 1979 rund 60 Milliarden Dollar einbrachte." (Rudolph Chimelli, SZ, 2.2.11) Wenn es zutreffen sollte, dass Mubarak in den drei Jahrzehnten zwischen 40 und 70 Milliarden US-Dollar zusammenraffte, übersteigt die Größenordnung jedes Vorstellungsvermögen.

"Wenn wir wollten, dass jemand gefoltert werden sollte, dann schickten wir ihn nach Ägypten, um ihn dort foltern zu lassen.", wird der US-Journalist Ron Suskind in der trend-online Zeitung zitiert. Dafür zuständig war General Omar Suleiman, langjähriger Geheimdienstchef, der von Mubarak zum Vizepräsidenten befördert wurde. Suleiman, durch seine Ausbildung in Fort Bragg über enge Beziehungen zur US-Army verfügend, soll auch persönlich bis zuletzt an Folterungen teilgenommen haben.

Das Mubarakregime genoss aber nicht nur bei den US-Verbündeten hohe Anerkennung, auch die Regierungen der EU-Staaten ließen sich gerne in Kairo sehen. So auch Kanzlerin Merkel und ihr Außenminister Westerwelle, der im Mai 2010 bei Mubarak seine Aufwartung machte und nach eigenen Angaben "auch stets die Bürgerrechte und die Menschenrechte angesprochen" haben wollte, wovon die mitreisenden Journalisten und die Beamten des Auswärtigen Amtes nichts mitbekamen. Mitbekommen hätten sie, dass er ihn nach dem Empfang als "Mann mit enormer Erfahrung, großer Weisheit und die Zukunft fest im Blick" gepriesen habe. (SZ, 1.2.11) Von dieser Warte aus ist es nicht verwunderlich, wenn sich die westlichen Staatschefs nur zögerlich von Mubarak absetzten, während Fidel Castro schon am 1. Februar erklärte: "Das Schicksal von Mubarak ist besiegelt, und nicht einmal die Hilfe der Vereinigten Staaten wird seine Regierung noch retten können."


BRD und Ägypten: Ein besonderes Kapitel

Apropos deutsch-ägyptisches Verhältnis, ein eigenes Thema, das hier nur knapp angerissen werden kann. Nicht erst die etwa eine Million deutsche Touristen, die jährlich die historischen Sehenswürdigkeiten am Nil und die Badestrände am Roten Meer aufsuchen oder die laut Recherche des WDR 120 deutschen Firmen, die hier Niederlassungen haben und etwa 25.000 Leute beschäftigen, stehen für ein besonderes Verhältnis. Auch nicht die Parteistiftungen der Bundestagsparteien, die seit längerem in Kairo ihre Dependancen eingerichtet haben und schon seit einiger Zeit ihre Fühler ausstrecken, um in der politischen Übergangsphase ein gewichtiges Wort mitzureden und auf das künftige Machtgefüge Einfluss zu nehmen. Vor allem die FDP nahe Friedrich-Naumann-Stiftung soll wieder mal recht rührig sein. Und wo die FDP-Stiftung mitmischt, ist auch Vorsitzender Westerwelle nicht weit. Auf dem Platz der Befreiung soll er, wie die Süddeutsche Zeitung am 25.2.11 berichtete, geäußert haben, dass Deutschland hier so einen guten Ruf genieße, das habe ja mit der friedlichen Revolution vor 20 Jahren zu tun. Ob ihm da nicht ein paar Dinge durcheinander geraten? Das besondere deutsch-ägyptische Verhältnis gründet vor allem in der Sympathie, die das Deutsche Reich, das dritte wohlgemerkt, während des II. Weltkrieges genossen hatte. Man hatte einen gemeinsamen Feind: Großbritannien, die frühere Protektoratsmacht Ägyptens. Das war noch zu Zeiten des Königs Faruk I. Auch nach der Niederlage der faschistischen Wehrmacht blieben die engen Kontakte erhalten. Zu Beginn der 50er Jahre ließ die Kairoer Führung ihre Armee von 600 ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und SS-Leuten - darunter mehr als ein halbes Dutzend Generale - auf Vordermann bringen. Die Zusammenarbeit hatte einen nicht unwichtigen Nebenaspekt. Noch vor der Gründung der Bundeswehr konnten Vorarbeiten - vergleichbar den illegalen Manövern der Reichswehr in den 20er Jahren in der Sowjetunion - in aller Verschwiegenheit geleistet werden. Man beließ es aber nicht bei Zusammenarbeit im militärischen Bereich. Auch für die Polizei und den Geheimdienst standen Spezialisten zur Verfügung. Leute, die damals das Licht der Öffentlichkeit tunlichst zu meiden hatten. Etwa Hans Eisele, Chefmediziner im KZ Buchenwald oder SS-Sturmbannführer Alois Brunner, verantwortlich für die Deportation zehntausender Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager. Wenn in den vergangenen Wochen Vertreter der deutschen Bundesregierung bei den Regierenden in Kairo auf Verzicht von Gewalt insistiert hatten, ist das mehr als scheinheilig, denn die Zusammenarbeit deutscher Stellen mit den berüchtigten ägyptischen Repressionsorganen war nach einer mehrjährigen Unterbrechung seit 1978 stark intensiviert worden.


Die Protestbewegung: Wer steht dahinter?

In einer "ersten kurzen Stellungnahme" kommt die Zeitschrift Arbeiterpolitik zu dem Ergebnis: "Es sind die kleinbäuerlichen und proletarischen Schichten, die den Aufstand der 'Straße' tragen, dort aber nicht als eigenständige politische Kraft auftreten." Als am besten organisierte politische Opposition in Ägypten gelte die Muslimbruderschaft, die insbesondere auch Klein- und Mittelunternehmer und Vertreter akademischer Berufe vereine und nach eigenen Worten jederzeit in der Lage sei, eine funktionierende Regierung zu stellen. (Arbeiterpolitik, 10.2.11) Diese Muslimbruderschaft "die stärkste und am besten organisierte Opposition" (Avenarius, SZ, 2.2.11) - da sind sich alle Beobachter einig - war nicht die Initiatorin der Revolte. Ursprünglich eine staatenübergreifende Befreiungsorganisation, die sich auf die Werte des Islam bezog, kann sie auf eine lange und wechselvolle Geschichte zurückblicken und soll im Volk über hohes Ansehen verfügen, was sich unter Bedingungen von freien Wahlen zeigen wird. Sie unterhält einen eigenen Wohlfahrtsapparat mit Kliniken, Suppenküchen und Schulen. Die Bruderschaft darf nicht mit den auf individuelle Terrorakte setzenden Gruppen Dschihad Islami (Islamischer Heiliger Krieg) und Gamaa al-Islamija (Islamische Gruppe) verwechselt werden. Letztere zeichnete für die Ermordung Sadats im Jahre 1981 verantwortlich.

Eine bedeutend wichtigere Rolle spielten in den aktuellen Auseinandersetzungen die Bewegung Kifaya (Genug!) und die Jugendbewegung 6. April, beide im Zeitraum von 2004 bis 2008 aus verschiedenen Protestaktionen und Klassenauseinandersetzungen entstanden. Einen gewaltigen Schub bekam die Jugendbewegung, als im Juni 2010 ein Student der Universität Alexandria von Polizisten auf offener Straße erschlagen worden war. Erfreulich an der jüngsten Entwicklung ist nicht zuletzt, dass es den reaktionären Kräften nicht gelungen ist, den Widerstand durch das Hineintragen religiöser Differenzen zu spalten. Vor allem nach dem mörderischen Anschlag vor einer koptischen Kirche zu Beginn des Jahres mit 23 Toten bestand die Gefahr real.

Unterbelichtet war in der Berichterstattung die Rolle oppositioneller Gewerkschaftsgruppen vor allem in den Teilen des Landes, die stärker industriell geprägt sind. Schon in den 90er Jahren hatte durch die Privatisierungspolitik das seit der Nasser-Zeit traditionelle Bündnis zwischen Staat und Arbeiterbewegung deutliche Risse bekommen. Sich daraus entwickelnde Streikbewegungen waren niedergeknüppelt worden. Als dann im Januar dieses Jahres die Revolte begann, traten ganze Belegschaften der modernen Industrien, in der Textilarbeiterstadt Mahalla, am Suezkanal und im öffentlichen Dienst in den Streik und beteiligten sich kämpferisch an den Aktionen zum Sturz des Mubarakregimes. Ob sich aus der gegenwärtigen Situation eine starke, d.h. klassenbewusste Arbeiterbewegung entwickeln wird, kann derzeit ebenso wie die generelle Entwicklung des Landes nur schwer prognostiziert werden. (Mehr dazu unter http://www.egyptworkersolidarity.org)

Georg Polikeit gibt zu bedenken, es

"könnte sich das Fehlen eines organisierten linken Kraftzentrums mit klaren programmatischen Vorstellungen in der nun entstandenen Situation doch als ein Mangel erweisen, der es erleichtert, die Bewegung in 'freie Wahlen' einmünden zu lassen, bei denen lediglich eine Gruppierung der ägyptischen Oberschicht durch eine andere bourgeoise Gruppierung abgelöst wird, ohne dass sich Grundlegendes zugunsten des Volkes ändert."
(UZ, 6/2011)

In westlichen Medien wurde schon frühzeitig Mohammed el-Baradei, langjähriger Generaldirektor der in Wien ansässigen Atomenergieorganisation, als möglicher Nachfolgekandidat des angeschlagenen Präsidenten ins Gespräch gebracht. Der Karrierediplomat ist - in diesen Zeiten keine Nebensächlichkeit - kein biederer Befehlsempfänger der US-Administration. Im Atomstreit mit dem Iran ist er für Verhandlungen eingetreten. Deshalb ist seine Wiederwahl 2005 von den USA nicht unterstützt worden. Der deutliche Versuch, vor allem von europäischer Seite, ihn von außen zu implantieren, hatte bei der Protestbewegung nicht den erhofften Erfolg. Was aber nicht heißt, dass im Parlamentarisierungsprozess der nächsten Monate in Vorbereitung auf Neuwahlen, Leute wie el-Baradei und der ehemalige Außenminister Amr Musa nicht eine bedeutende Rolle spielen werden. Die Muslimbruderschaft soll in der personellen Frage zu erheblichen Kompromissen bereit sein.


Volksaufstand, Revolte oder gar Revolution?

Der kleinste gemeinsame Nenner in den Forderungen der ägyptischen Protestbewegungen war: Mubarak muss weg! Auch seinem Sohn Gamal sollte die Nachfolge nicht übertragen werden. Am 11. Februar, bereits einen Tag nach der alle irritierenden Rede des angezählten Präsidenten wurde von Vizepräsident Suleiman der erhoffte Rücktritt verkündet. Laut Verfassung hätte in dieser Situation entweder der Parlamentspräsident oder der Vorsitzende des Verfassungsgerichts Mubaraks Nachfolge übernehmen müssen. Dem war aber nicht so. Die Macht übernahm der Oberste Militärrat unter der Führung des Oberkommandierenden, des Feldmarschalls Tantawi. Ein paar Stimmen dazu:

Für Angelo Del Boca, italienischer Historiker und ehemaliger Partisan, bedeutet das:

"In Kairo liegt die Macht in den Händen der Streitkräfte, die das Parlament aufgelöst und die Verfassung 'eingefroren' haben. Sicher, sie haben versprochen, auf die Opposition zuzugehen und die Abhaltung eines Verfassungsreferendums zugesichert. Es bleibt allerdings eine Tatsache, daß es sich im Moment um einen Militärputsch handelt. Genauso klar ist, daß die Straßenproteste nicht aufhören und neben Lohnerhöhungen auch weiterhin demokratische Garantien gefordert werden."
(jW, 23.2.11)

Khaled Al-Khamissi, Kairoer Schriftsteller, der sich an den Protesten auf dem Tahrir-Platz beteiligt hatte, nach der Zukunft des Landes befragt:

"Das erkunden wir gerade. (...) Ich habe mit vielen Kollegen gesprochen. Dabei fiel mir ein Satz des türkischen Dichters Nazim Hikmet ein: 'Wir fühlen, dass das Morgen besser wird als das Heute.' Wir alle haben großes Vertrauen in die Zukunft."

Und er schränkt ein:

"Ich vertraue nicht den Politikern, sondern dem ägyptischen Volk. Wir wissen, dass es hier einen Staat gibt, der seit 10.000 Jahren dieselben Grenzen hat. Das war immer ein starker Staat, der seine Bewohner unterdrückt hat."
(SZ, 16.2.11)

Der Schriftsteller Robert Misik, der sich und die Leser im Freitag vom 10.2.11 mit der Frage quälte, ob die Revolten in den arabischen Ländern schon als Revolution zu bezeichnen seien, kommt in Anlehnung an Michel Foucault zu dem Ergebnis:

"Ob wir das jetzt Revolution nennen oder nicht, ist dem historischen Prozess schnurzegal. Aber vielleicht sollten wir bedenken: Es sieht aus wie eine Revolution, es riecht wie eine Revolution. Es wird wohl eine Revolution sein."

So einfach können es sich Marxisten nicht machen. Gerade weil in den Medien für die Vorgänge in Tunesien und Ägypten auffällig häufig der Begriff Revolution bemüht wird, ist Vorsicht geboten. So schreibt etwa Dr. Andreas Jacobs, der Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo, von der "Revolution des 25. Januar". Und Dr. Ronald Meinardus, Repräsentant der Friedrich-Naumann-Stiftung titelt seinen aktuellen Bericht aus Kairo vom 14. Februar: "Ägypten nach der Revolution". Gerade die im Zusammenhang mit konterrevolutionären Putschversuchen in Lateinamerika einschlägig bekannte Naumann-Stiftung der FDP ist eine ungeeignete Kronzeugin für eine Revolution, vor allem, wenn sie den Vorgang mit Sympathie beurteilt. Damit sich in Ägypten nach dem Volksaufstand wieder(!) eine EU-kompatible politische Struktur entwickeln kann, hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Kairoer Stiftungsfilialen mit zusätzlich drei Millionen Euro ausgestattet (German Foreign Policy, 23.2.11)

Der Historiker Eric Hobsbawm wagte in seiner umfangreichen Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts (1994) einen Ausblick auf mögliche revolutionäre Veränderungen in Ländern der Dritten Welt und kam zu der Einschätzung:

"Sozialer Zusammenbruch eher als revolutionäre Krise prägt die Welt am Ende des 'Kurzen 20. Jahrhunderts'. Natürlich gibt es Länder, wo die Bedingungen für den Sturz eines verhassten Regimes, das seine Legitimität verspielt hat, gegeben sind und ein Volksaufstand unter der Führung von Kräften möglich scheint, die in der Lage wären, das Regime zu ersetzen (...). Zur Zeit ... zählte beispielsweise Algerien dazu."
(S. 570)

Dass der Stein in Tunesien ins Rollen kommen würde, um dann über Ägypten auch Gaddafis Libyen zu erfassen und welchen Verlauf die Volksaufstände nehmen würden, konnte niemand voraussehen. Die Regierungschefs der EU-Staaten wähnten sich in trauter Zusammenarbeit mit den Potentaten auf der sicheren Seite. War da nicht erst die EU-Mittelmeerunion als stabilisierendes Projekt von Frankreichs Präsident Sarkozy aus der Taufe gehoben worden? Sollten da nicht die Herren Ben Ali für Tunesien und Hosni Mubarak für Ägypten für eine stabile Südschiene in der Flüchtlingsabwehr sorgen? Alles bereits Geschichte. Die sich überstürzenden Ereignisse in zentralen Maghreb-Staaten haben die ehrgeizigen Pläne Makulatur werden lassen. Der Generalsekretär der Union ist zurückgetreten. Ob unter den gegenwärtigen Bedingungen die Planungen zum Konzept DESERTEC, also mit Hilfe von Sonnenwärmekraftwerken in den nordafrikanischen Wüsten Strom zu erzeugen und nach Europa zu transportieren, fortgeführt werden können, ist fraglich.


Plötzlich gehen die Uhren anders! Gehen sie anders?

Man hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Mit dem Verlauf der Geschäfte konnte man bisher mehr als zufrieden sein. Nicht wenige Firmen hatten Niederlassungen aus dem fernen Asien und aus Osteuropa abgezogen, um die günstigen Investitionsbedingungen in den nordafrikanischen Staaten zu nutzen.

Für Ägypten ist das im Detail in der aktuellen Länderanalyse der Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing mbH "Germany Trade and Invest" nachzulesen. Die in Bonn ansässige Gesellschaft wird von der deutschen Bundesregierung finanziell gefördert, ist also als regierungsnah einzustufen. Erstellt wurde die Studie zum Jahreswechsel 2010/11 von Michael Marks, der die Gesellschaft in Kairo vertritt. Ägyptens Wirtschaft habe, so Marks, die globale Krise gut überstanden. Zwar werde sich die sukzessive Aufwärtsbewegung 2011 (!) nur leicht beschleunigt fortsetzen, die Vielfalt der Infrastrukturmaßnahmen mache Ägypten aber zu einem interessanten Partner. Marks räumt ein, dass ein Wachstum von 6% nötig wäre, um Erfolge bei der Armutsbekämpfung zu erreichen und den Arbeitsmarkt zu entlasten, sieht jedoch aktuell keine Voraussetzungen dafür. Trotz dieser Einschränkung, die er nicht weiter problematisiert, geht er von einer insgesamt positiven Entwicklung des Landes aus und verweist auf die OECD, die Ägypten eine Reihe von Fortschritten bescheinige. Die aktuellen Ereignisse haben den Wirtschaftsexperten blamiert. Weitaus näher an der Realität lag Ende 2010 der Verfasser des Quartalsberichts der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung mit seinem Hinweis:

"Ägyptens Inflationsrate wird auch 2011 im zweistelligen Bereich liegen. Insbesondere bei den Lebensmitteln gibt es aber immer wieder Preissteigerungen von über 30 % - ein sozialer Sprengstoff für das Jahr 2011."

Tomas Avenarius zeichnet ein düsteres Bild und sieht aktuell "Ägyptens Wirtschaft, geprägt von Korruption und Missmanagement, ... nach dem Umbruch am Boden". Er beruft sich dabei auf den eben genannten Michael Marks, der seine gerade erst veröffentlichte Prognose nach dem Mob, was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, ignoriert und jetzt zu einer entgegengesetzten Einschätzung kommt: "Diese Revolution verwandelt sich gerade von einer politischen in eine soziale." Dann erlaubt er sich die Warnung: "Das ist Sprengstoff für Ägyptens Wirtschaft." Denn Ägypten sei "ein Billiglohnland in einer globalisierten Weltwirtschaft." (SZ, 16.2.11) Und ein Billiglohnland kann sich wegen der ausländischen Investoren natürlich keine höheren Löhne leisten. Dabei weiß Marks um die Problematik ägyptischer Löhne, die sich am Mindestlohn von monatlich 50 orientieren.

Zu der Frage ob in Ägypten nach der Frühjahrsrebellion die bisher bekannten Weichenstellungen angesichts der vielfältigen sozialen, ökonomischen und politischen Probleme schon Anlass zur Hoffnung geben, soll Mumia Abu-Jamals vorsichtige Prognose nicht unerwähnt bleiben:

"Niemand kann heute sagen, wie weit sich dieser Flächenbrand in Nordafrika und der arabischen Welt noch ausbreiten wird. Die ägyptische Bevölkerung ist nun erwacht und in eine neue Zukunft aufgebrochen, aber sie befindet sich noch ganz am Anfang dieses langen Weges."
(jW, 19.2.11)

Die Staaten Nordafrikas werden auf diesem Weg nur dann eine echte Chance haben, aus dem Desaster herauszukommen, wenn sie ihre Rolle innerhalb des kapitalistischen Weltmarktes bewusst verändern. Die Anregungen könnten sie sich von den lateinamerikanischen ALBA-Staaten holen. Die gerade sich zuspitzende Einmischung der imperialistischen Mächte in die inneren Angelegenheiten Libyens bedroht die Entwicklung der gesamten Region und gibt zu äußerster Besorgnis Anlass.

Stand: 1.3.11, hd


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 171, Frühjahr 2011, S. 3-7
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2011