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ARBEITERSTIMME/223: Chinas Rückkehr auf die Weltbühne


Arbeiterstimme, Herbst 2010, Nr. 169
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Chinas Rückkehr auf die Weltbühne

Von Gerhard Armanski


In gewisser Weise operiert Geschichte wie eine Drehbühne. Völker, Aktionen und Ideen kommen in den Vordergrund, passieren über die Bühne der Geschichte und drehen wieder ab - bis zum nächsten Mal (freilich nicht immer). Der mentale Abdruck der entschwindenden Szenerie hält sich jedoch bedeutend länger, verflicht sich in die nächstfolgenden Perioden, über- oder unterlagert sie. In diesem Prozess werden nicht selten einst angemessene Urteile leicht zu Vorurteilen, welche die Erkenntnis der historischen Situation verzerren.

Im Falle Chinas und seines Verhältnisses zum Westen ist dies offenkundig im Verlauf seiner mehrtausendjährigen Geschichte immer wieder vorgekommen. Wie ein massiver Block liegt es im Süden Asiens, weist zwar ständig veränderte Grenzen, aber keine grundstürzenden siedlungsgeographischen und soziokulturellen Umbrüche auf - vom wiederkehrenden Zyklus von Herrschaft und Rebellion abgesehen. Am Anfang der Reichsbildung stand erfolgreich und bluttriefend der Kaiser "Alles unter dem Himmel", was bereits seinen universalen Machtanspruch ausdrückt. Dieser Gottkaiser von Qin (davon: China) agierte zur Zeit der punischen Kriege im Westen. Während aber das Römische Reich schließlich zerfiel und neuen feudalistischen Staats- und schließlich bürgerlichen Nationenbildungen Platz machte, überdauerte der, wenn auch oft territorial gespaltene, despotische chinesische Zentralstaat bis 1911. Zwischen dem Kaiser mit seinem Personal und der Bauernmasse befanden sich keine nennenswerten Gewalten; die im Westen so erfolgreiche kommerzielle Klasse blieb in China subaltern. Es ist das, was Marx die "asiatische Produktionsweise" nannte. Schon in der Shang-Zeit (2. Jt.) bildete sich, lange vor dem Aufkommen von Konfuzianismus, Daoismus oder Buddhismus, ein Staatskult heraus. Der Herrscher fungierte als oberster Priester, fungierte als Vermittler zwischen Himmel und Erde, dynastischen Ahnen und Untertanen; er selbst führte die zentralen Zeremonien des rituellen Opferkalenders in den Hauptstädten durch. Daher kommt auch der Name "Reich der Mitte", als Hauptachse der Welt gedacht.


Blüte des alten Reiches

Auf dem Höhepunkt seiner Macht (11.-17. Jh.) verfügte China über die größte Flotte der Welt und war dem Westen in vielen Aspekten, besonders technologisch und wirtschaftlich, weit überlegen (z.B. Seide, Seismograph, Schießpulver, magnetischer Kompaß, mechanische Papierherstellung, Staatskunst und Gelehrsamkeit), ohne je andere Völker und Zivilisationen unterjocht oder zerstört zu haben. Im Gegensatz zu vorhergehenden (und nachfolgenden) Dynastien, die sich in ihrem geographischen Umkreis genügt hatten, setzte China unter dem Ming-Kaiser Yongle zu groß angelegten maritimen Unternehmungen an. Der Aufsteiger Admiral Zheng He bestritt mit erstaunlich genauen Seekarten ein halbes Jahrhundert vor den iberischen "Entdeckern" insgesamt sieben Schiffsreisen zwischen Südostasien, Indien, Arabien und Ostafrika. Auf der ersten führte er 27.000 Mann Besatzung - neben den Matrosen auch Soldaten, Ärzte und Versorgungspersonal - mit sich. Man hielt bzw. zog auf den Seefahrzeugen Geflügel und Gemüse, sodass die damalige Geißel langer Meerfahrten, der Skorbut, ausblieb. Die größte Dschunke der Flotte war 150 Meter lang, besaß einen Hauptmast von 60 m Höhe, konnte 12 Segel mit beweglicher Takelage setzen und 1.500 Passagiere befördern. Das Flaggschiff war das größte bis dahin von Menschenhand gebaute Seefahrzeug. Es verfügte über ein wasserdichtes Schottensystem und Heckruder. Navigatorisch standen die chinesischen Seefahrer an der Weltspitze. Sie beherrschten die astronomische und kompaßgeleitete Routenführung, benutzten Anker mit Winde und das einholbare Kielschwert. Hinter dem Leitschiff segelten 100 weitere Dschunken, mit mannigfachen Gaben beladen.

Denn die Reisen dienten weniger der geographischen Neugier als der Anknüpfung von diplomatischen und händlerischen Banden. Kostbare Geschenke für die fremden Herrscher (nicht die lächerlichen Glasperlen und roten Stoffe Vasco da Gamas in Kalikut/Indien) bewegten sie in der Regel zu Gegengaben und gelegentlichen Besuchen in China - die traditionelle chinesische Geschenkdiplomatie, wie sie heute wieder in Schwung kommt. Das lief auch eine Weile ganz gut an, bis der Kaiser und bald darauf Zheng He (1435) starben. Es erfolgte eine radikale Kehrtwende nach innen, deren genaue Gründe nicht bekannt sind. Es darf vermutet werden, es war die Auffassung, dass, wie es ein späterer Kaiser einmal ausdrückte, China des Auslands nicht bedürfe, da es selbst alles besitze. In dem hoch zentralisierten Staatswesen konnten persönliche Schwenks der politischen Leitung weit reichende Folgen haben. Die Überseeschifffahrt wurde vollkommen eingestellt, die großen Dschunken abgewrackt und der größte Teil der Aufzeichnungen vernichtet. Der Bau von hochseetauglichen Schiffen wurde mit der Todesstrafe bedroht. Das entstehende Handelsvakuum füllten erst Portugiesen, dann Holländer und schließlich Engländer. Aber auch über sie blieb Südasien nur über Gewürze, Seide sowie später Porzellan - gegen europäisches, will sagen lateinamerikanisches, Silber - mit dem westlichen Wirtschaftsraum verbunden. China begann eine Politik der Isolation, die sich langfristig fatal auswirken sollte. Dieses Menetekel steht mental hinter der neuen maritimen Politik des heutigen China. Jedes Jahr werden in Taikang, dem Heimathafen Zheng Hes, Gedenkfeiern für seine Seefahrten abgehalten. Der historische Fehler des Schwenks ist nicht vergessen. Der beschleunigte Ausbau der eigenen Kriegsmarine orientiert sich erkennbar an dieser Folie. Das erste Schiff der Volksbefreiungsarmee, das 1989 den USA einen offiziellen Besuch abstattete, hieß denn auch "Zheng He". Es war ein Ausbildungsschiff, und man kann dessen Matrosen heute in den höheren Rängen des Personals der chinesischen Kriegsmarine wiederfinden.

Über 150 Jahre lang nach diesen Geschehnissen bildete China indes die stärkste Wirtschaftsnation der Erde mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen (ähnlich wichtig: Indien). In der Blüte der Qing-Dynastie (1644-1911) unter Kaiser Qianlong erreichte China in der ersten Hälfte des 18. Jhd.s seinen historischen Höhepunkt, innen- und außenpolitisch, politisch, gesellschaftlich und kulturell. Die heutigen Kunstsammlungen in Peking oder Taipeh stammen ebenso aus dieser Zeit wie die Ausstattung fürstlicher Residenzen im europäischen Absolutismus. Auf China entfiel ein Viertel der globalen Produktion (heute 7%). Es erregte auch unter den Gelehrten Europas Aufsehen. Leibniz etwa lobte die Gesetzestreue des weisen Herrschers Kangxi, Montesquieu holte sich Anregungen für seine Staatstheorie, während Hegel später schon die Kehrseite reflektierte; er hielt dafür, dass der chinesische Despotismus in einer Gesellschaft aus Unfreien unumgänglich sei. Vielleicht erfuhr er vom sinkenden Stern des Reichs der Mitte. Die immer schärfer angezogene Steuerschraube und die grassierende Korruption führten zu Bauernaufständen und der Bildung gefährlicher Geheimbünde. Wahrscheinlich ist auch das eine aus der Geschichte gezogene Lehre, welche die heutige KP-Führung beherzigt. Die Wohlfahrt des Landes und die Integrität seiner Funktionäre (daher die überaus scharfen Strafen bis hin zum Tod gegen die Korruption) sind ihr die beste Garantie für seine Stabilität.


Der Absturz

Schon der erste Zusammenstoß mit einer europäischen Macht (England) im Opiumkrieg endete für China militärisch und politisch demütigend. Es musste Land und Rechte an die Briten abtreten und die Einfuhr von Opium gestatten. Im Inneren brachen Hungerrevolten und schließlich der Taiping-Aufstand los, der zu einem mehrjährigen schreckensvollen Bürgerkrieg wurde. Es war die schlimmste politische und soziale Katastrophe der chinesischen Geschichte bis dato. Ca. 600 Städte wurden verwüstet und etwa 20 Millionen Menschen kamen auf barbarische Weise um. Wie konnte es dazu kommen? Während China nach innen gekehrt blieb und eine statische Produktionsweise betrieb, durchlief der Westen in der anbrechenden Moderne zwei riesige Umwälzungen: geistig-kulturell die Aufklärung, wirtschaftlich und sozial die Industrielle Revolution, die sich im internationalen Machtantritt Frankreichs und dann in erster Linie Großbritanniens niederschlugen. "Britannia rules the waves." Nun war ihre Flotte die größte der Welt. Während aus den oben erwähnten Gründen die chinesische Schifffahrtstechnik stagnierte, entwickelten sich Navigation, Schiffsbau und -ausrüstung im Westen in rasantem Tempo. Die - aus chinesischer Sicht - "Barbaren" entschieden eindeutig die erste Epoche der neuzeitlichen Globalisierung für sich. China schien in Opiumhöllen, einer anachronistisch gewordenen und ineffizienten Regierungsform sowie zunehmenden Übergriffen der Kolonialmächte (die USA kamen dazu und am Ende auch Deutschland) zu versinken. Der "Boxerkrieg", Plünderung und Zerstörung des Sommerpalastes und Knebelverträge waren dann nur noch das negative Tüpfelchen auf dem i.


Ziele, Mühen und Erfolge des Neubeginns

In dieser Zeit ist das (Vor)Urteil des bezopften rückständigen Chinesen, eines menschlich und moralisch weit abgeschlagenen Menschen, entstanden. So treten die "Chinamen" oder Kulis bei Karl May und anderen als schwatzhaft, unterwürfig oder heimtückisch sowie feige auf. Umgekehrt zogen progressive Chinesen erste denkerische Konsequenzen aus der Malaise. Sie erkannten die eigene Verblendung, Selbstüberschätzung und den daraus folgenden Stillstand als wesentliche Momente des Niedergangs. In der Republik nach 1911 unter Sun Yatsen gediehen politische Reformprojekte, die auf der Basis konfuzianischer Grundwerte die demokratische Volksbeteiligung und schließlich die Gleichberechtigung aller Chinesen anstrebten. Sun Yatsen wollte einen sozialdemokratischen Staat für das Wohl des Volkes. Chen Duxiu wiederum hoffte auf eine kommunistische Führung an der Spitze des (kleinen) Proletariats. Die KP des Landes wurde durch Stalin in eine Koalition mit der Guomindang gezwungen und von dieser schließlich weitgehend hingemetzelt. So endeten alle Blütenträume an Verhältnissen, unter denen sich keine Klasse als fortschrittlich führende befand, mit dem politischen Chaos der Warlords und der Guomindang. Zusammen mit der japanischen Aggression und Okkupation bildete das die zweite Katastrophe der modernen chinesischen Geschichte. Das Bild änderte sich erst, als die erneuerte KP unter Mao Dsedong die Bühne betrat. In einem weit reichenden Schritt brach er mit der marxistischen Doktrin von der Führungsrolle der Arbeiterklasse und setzte stattdessen auf die Bauernmassen. In wechselvollen Kämpfen siegten sie sowohl über die innenpolitischen Gegner wie die äußeren Angreifer. Der schier chronische Abstieg des Landes begann sich zu wenden.

Wie das vor sich ging, mit welchen Erfolgen, aber auch schwer wiegenden und opferreichen Fehlern und Sackgassen, ist in diesem historischen Überblick nicht näher auszuführen. Immerhin stellt der kommunistischer Sympathien gewiss unverdächtige Nobelpreisträger Joseph Stiglitz des Zeugnis aus: "China ist einfach die ökonomische Erfolgsgeschichte schlechthin, vor allem, wenn man an die vielen Menschen denkt, die der Wandel aus der Armut geholt hat." (Frankfurter Rundschau, 1.4.2007) Die KP hat sich mangels tauglicher anderer politischer oder Klassenkräfte als ideeller Gesamtgesellschafter herausgestellt. Sie betreibt ihr Geschäft nicht schlecht, obgleich sie sich mit dem Kapitalismus eingelassen hat und dieser Kehrtwende unter Deng Xiaoping einen steilen ökonomischen Aufschwung verdankt. Unter ihrer Ägide entwickeln sich die Produktivkräfte stürmisch - es bleibt abzuwarten, in welchem Verhältnis sie zu den Produktions- und Politikverhältnissen stehen und was für Widersprüche dies aufwirft. Die KP "hat Marx jedenfalls insoweit richtig verstanden, als dass ein Sozialismus sich niemals auf Armut aufbauen kann, sondern die Entfesselung der Produktivkräfte voraussetzt." (Geffken im ND, 7./8.6.2008) Es ist der riskante Versuch, den Tiger zu reiten und dennoch einzuhegen. Die drängende Schubkraft kommt vom Erfordernis der nachholenden nationalen, demokratischen und industriellen Entwicklung.

Das gewachsene Selbstbewusstsein der heutigen Chinesen ist unverkennbar. Die TV-Serie "Der Aufstieg (und Fall, G.A.) der Großmächte" fand ein überaus starkes Echo im Volk. Professor Qian Chengdan von der Uni Peking erklärt das so: "Unser China, das chinesische Volk, die chinesische 'Rasse' sind zurück auf der Weltbühne" (zit. nach Le monde diplomatique 10/2008) und knüpfen an die Glanzzeit ihrer Geschichte an. Im Westen hat man da einigen mentalen Nachholbedarf. Während noch das Bild von den Mao-Bibeln schwenkenden roten Ameisen, die sowieso alle gehirngewaschen seien, in den Köpfen spukt, greifen nun alt-neue Schreck- und Zerrreden von der "gelben Gefahr", die uns zu überschwemmen drohe. Durchaus berechtigt, aber weit überproportioniert und wenig verstehend, wird immer wieder in der Menschenrechts- oder Tibetfrage gebohrt. Es soll da nichts beschönigt werden. Aber nicht nur hat unsere eigene Zivilisation die Menschenrechte jahrhundertelang mit Füssen getreten und setzt auch heute noch die eine oder andere solcher Spuren, sie hat Hekatomben von Menschenleben gefordert wie in den beiden imperialistischen Weltkriegen. Zu erwarten, dass ein Land, das sich anschickt, auf wenige Jahrzehnte gerafft das Programm der industriellen Moderne durchzuziehen, in blütenweisser Demokratieweste europäisch-nordamerikanischer Machart auftritt, ist naiv und schmeckt allzu sehr nach Projektion. Wer nicht genau und differenziert Triumphe und Mäkel zu erkennen weiß, den, bemerkte der letzte Präsident der anderen sozialistischen Großmacht der Neuzeit in einem launigen Bonmot, bestraft das Leben.


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 169, Herbst 2010, S. 14-16
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010