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ARBEITERSTIMME/212: Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile - Teil 1


Arbeiterstimme, Frühjahr 2010, Nr. 167
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile

Teil 1: Der Weg in die Diktatur und die Umgestaltung des Landes


Man kann es immer noch nicht glauben, auch wenn seit vielen Jahren fast alle Signale in diese Richtung wiesen, im Stillen hoffte man auf Ereignisse die das verhindern. Doch es gab sie nicht und so gewann am 17. Januar 2010 der Kandidat der Rechten die chilenischen Präsidentschaftswahlen. Genau 40 Jahre nach dem historischen Wahlerfolg Salvador Allendes übernimmt Sebastián Piñera das höchste Amt im Staate. Ein Mann der mit besten Verbindungen in die engeren Zirkel der Diktatur zum Multimillionär geworden ist. Ein Mann, der sich gerne mit dem kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe trifft und dessen politisches Konzept in Chile einführen will.


Dieses Wahlergebnis steht in direktem Gegensatz zu allem, was man in den letzten Jahrzehnten aus Chile gehört hat. So wurde die chilenische KP viele Jahre in ganz Lateinamerika wegen ihrer Erfolge bewundert. Und der MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) gehörte mit zum Besten, was man unter den guevaristischen Organisationen des Kontinents finden konnte. In diesem gesellschaftlichen Klima konnte dort erstmalig in der Geschichte ein bekennender Marxist auf bürgerlich demokratischem Wege Präsident werden. Später kämpfte eine Massenbewegung mutig gegen die Diktatur. Wie kann da die Bevölkerung dieses Landes jetzt die Regierungsgewalt einem Vertreter dieser blutigen und terroristischen Rechten überlassen?

Um diese Frage zu beantworten müssen wir 40 Jahre zurückgehen und die damalige politische Lage zum Ausgangspunkt der Entwicklung nehmen. Gleichzeitig sollten wir im Hinterkopf behalten, dass die im Folgenden referierten Fakten auch von unseren Gegnern eifrig studiert und diskutiert werden. In den Denkfabriken der Bourgeoisie werden dieselben Überlegungen angestellt wie auf unserer Seite. Wie kann man Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung nehmen? Doch ihre Ziele sind den unseren diametral entgegengesetzt. Im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit steht die Marginalisierung der Linken um zu besseren Bedingungen für die kapitalistische Ausbeutung zu gelangen. Dafür werden Strategien entwickelt und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln umgesetzt. Im folgenden Streifzug durch die chilenische Geschichte werden wir auf die Ergebnisse ihrer Überlegungen treffen.

Doch jetzt zurück in das Jahr 1970. Dort ringen drei fast gleich große Blöcke um die Regierungsgewalt. Die Rechte und die Linke mit ca. 35% Rückhalt und dazwischen die sozialdemokratischen Christdemokraten (DC) mit knapp 30%. Die Christdemokraten hatten sich wegen einer Landreform mit der Rechten überworfen, weswegen man sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten verständigen konnte. Das war der Grund dafür, dass der Sozialist Salvador Allende nach der Stimmauszählung mit 36,6% knapp vor dem rechten Kandidaten lag. Die damalige Verfassung schrieb in so einem Fall vor, dass eine parlamentarische Versammlung zwischen dem Erst- und Zweitplazierten zu entscheiden hat.

Dort votierten die christdemokratischen Vertreter für Allende. In den Erinnerungen von Zeitzeugen wird ihr Verhalten auf den Druck der Parteibasis und auf die öffentliche Stimmung zurückgeführt. Das ist sicher nicht falsch, aber bei Berücksichtigung der weiteren Entwicklung erscheint diese Erklärung unzureichend. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Kräfte aus dem Hintergrund auf die DC eingewirkt hatten sich so zu entscheiden. Kräfte, die schon zu diesem Zeitpunkt eine Idee davon hatten, wie sie Chile umgestalten wollten um den Einfluss der Linken für lange Zeit auszuschalten. Dafür benötigten sie eine innenpolitische Situation, die einen Staatsstreich notwendig erscheinen ließ. Diese Bedingung konnte nur unter einer Regierung Allende mit seiner unzureichenden gesellschaftlichen Verankerung geschaffen werden. Hätten die Christdemokraten 1970 den rechten Bewerber zum Präsidenten gekürt, hätte es drei Jahre später nicht zum Militärputsch kommen können. Diese Vermutung lässt sich nicht beweisen, aber das weitere Verhalten der Christdemokraten wirft diese Frage auf. Schließlich haben sie, als sich der Staatsstreich schon drohend in der Ferne abzeichnete, nichts getan um der von ihnen inthronisierten Regierung aus der Gefahr zu helfen. Im Gegenteil!

Wie auch immer. Mit der Regierung Allendes ruhte nun eine immense Verantwortung in den Händen der linken Parteien und Organisationen. Schauen wir uns also die wichtigsten im Einzelnen an.

Auf der einen Seite des Spektrums befand sich die Unidad Popular (Volkseinheit, UP) als Basis des Präsidenten. Unabhängig davon agierte der MIR, der auf eine revolutionäre Erhebung hinarbeitete. Doch so einfach, hier Reformisten - dort Revolutionäre, war die Sache nicht. Der ideologische Einfluss des MIR reichte weit in die UP hinein. Wahrscheinlich stand sogar eine Mehrheit der Sozialistischen Partei, sie war neben der KP eine der tragenden Säulen des Bündnisses, den politischen Positionen des MIR näher, als denen Allendes.

Das war eine verhängnisvolle Wirkung der cubanischen Revolution. Damals hielten viele Linke in Lateinamerika den bewaffneten Kampf für eine reale Möglichkeit zur Erreichung einer sozialistischen Gesellschaft. Sie übersahen, dass der Kampf in Cuba unter liberalen Fahnen geführt worden ist. Er hatte daher eine viel breitere Basis. Erst später erfolgte die Hinwendung der Bewegung von Fidel Castro zum Sozialismus. Doch da befand sich die staatliche, und somit auch die militärische, Macht schon in ihren Händen.

Allende hatte keine parlamentarische Mehrheit. Um etwas zu bewegen gab es zwei Möglichkeiten: sich mit den Christdemokraten zu verständigen, oder um das Parlament herum zu regieren. Dies geschah mittels präsidialer Dekrete, dem Ausnützen von Lücken in den Regelwerken oder der Anwendung gültiger, aber längst vergessener Gesetze. Im Regierungsalltag wurde dabei je nach Lage die eine oder andere Möglichkeit genutzt. Mit der kreativen Anwendung der staatlichen Ordnung - sie war ungewöhnlich aber kein Gesetzesbruch - konnte viel erreicht werden. Dieses Vorgehen wurde aber von der Bourgeoisie dafür genutzt die öffentliche Meinung gegen Allende aufzubringen. Am Ende wünschte sich eine Mehrheit der Bevölkerung den Militärputsch herbei. Dabei handelte es sich um die Basis der Rechten und der Christdemokratie. Die Linke konnte, trotz aller Kampagnen, ihre Basis zusammenhalten.


Die Niederlage der marxistischen Kräfte

Wie reagierte nun diese heterogene Linke auf die heraufziehende Gefahr? Der MIR bereitete eine bewaffnete Untergrundstruktur vor. Gestützt auf sie sollte der Kampf für eine sozialistische Gesellschaft auch unter einer Militärregierung fortgesetzt werden.

Die Mehrheit der Sozialisten sah das ähnlich. Ihr Generalsekretär, Carlos Altamirano, drohte wenige Tage vor dem Putsch: "Wir sind die Avantgarde des Proletariats, bereit, jedem Putsch zu widerstehen. Chile wird sich in ein neues heldenhaftes Vietnam verwandeln, wenn die Aufrührerischen sich des Landes bemächtigen wollen. Der Putsch kann nicht mit einem Dialog bekämpft werden. Er muss mit der Kraft des Volkes, mit der Organisation der Arbeiterklasse niedergedrückt werden." Die Ablehnung eines Dialogs richtete sich gegen die Kommunisten. Sie wollten zu einer Verständigung mit den Christdemokraten gelangen und so den Staatsstreich verhindern. Doch das scheiterte an der strikten Weigerung der Christdemokraten. Diese stimmten sogar einer parlamentarischen Resolution zu, in der die Armee zum Eingreifen aufgefordert wurde.

Daher konnten sich am 11. September 1973 die Streitkräfte unter Augusto Pinochet gegen die legitime Regierung erheben. Nun war der Zeitpunkt gekommen die vollmundigen Ankündigungen in die Tat umzusetzen. Doch die Realität beschrieb Altamirano später so: "Es gab gewissen Widerstand in einigen Fabriken, aber die Wahrheit ist, dass dieser sehr gering war, es gab keine Möglichkeit den Militärs die Stirn zu bieten."

An dieser Stelle muss man sich vergegenwärtigen, was das für die Anhänger der Sozialistischen Partei und ähnlich orientierter Gruppen bedeutet hat. Wir haben es da mit Menschen zu tun, die sich auf der Straße des Sieges wähnten. Sie hatten beeindruckende Erfolge vorzuweisen. Sie glaubten, dass sie jedes Hindernis überwinden können. In diesem Gefühl wurden sie von ihren Führern bestärkt. Daher sind sie zu Kompromissen nicht bereit. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen, stehen sie der Gewalt der Putschisten wehrlos gegenüber. Der von ihren Führern wortreich angekündigte Widerstand findet nicht statt. Das ist für sie ein traumatisierendes Erlebnis. Es hatte zur Folge, dass die Sozialistische Partei in zahllose Fraktionen zerfällt und auf Jahre so gut wie keine Aktivität zeigt. Als sie ihre Partei in den 80er Jahren wieder gründen, machen sie das unter dem ideologischen Einfluss der westeuropäischen Sozialdemokratie.

Mit dem Putsch trat das ein, was der MIR seit Beginn der Regierung Allende vorhergesagt hatte. Daher sollte man annehmen, dass jetzt seine Stunde gekommen war. Er hatte sich ja auf die Situation in einer faschistischen Diktatur vorbereitet. Man muss ihm zugute halten, dass er es ernsthaft versucht hat. Doch zu einer wirklichen Gefahr für den Bestand der Militärregierung wurde er nie. Es ist auch die Frage, ob man mit Mordanschlägen auf Repräsentanten einer Diktatur diese wirklich stürzen kann. Ende 1974 war die Untergrundstruktur des MIR zerschlagen. Überlebt hatten nur diejenigen Kader, die sich ins Ausland retten konnten. Fast die komplette Führung war tot.

Diese Entwicklung hätte für den MIR ein Grund zum Innehalten sein können. Doch anstatt Konsequenzen aus der Niederlage zu ziehen, machte er weiter wie bisher. Ende der 70er Jahre startete die "Operation Rückkehr" um in Chile wieder handlungsfähig zu werden. Doch das Ergebnis war wie gehabt. Die Zellen der Guerilla wurden aufgerieben. Das führte Mitte der 80er Jahre zur Spaltung. Ein Flügel wollte den bewaffneten Kampf fortsetzen, während der andere auf politische Arbeit in den sozialen Bewegungen orientierte. Heute ist der MIR in der Öffentlichkeit nicht mehr wahrnehmbar.

Als letzter wichtiger Akteur fehlen die Kommunisten. Was war ihre Position zum Zeitpunkt des Putsches? Sie gingen davon aus, dass die nur leicht bewaffneten Gruppen der Parteien der Unidad Popular, die Aufgaben des Selbstschutzes wahrnahmen, die Regierung nicht verteidigen können. Auch erwarteten sie nach einem Staatsstreich während eines langen Zeitraums Widerstand zu leisten zu müssen. Um diesen Kampf führen zu können, braucht man Menschen. Sie dürfen sich nicht vor der Zeit in aussichtslosen Kämpfen opfern. Daher hat die KP bewusst nicht zur bewaffneten Gegenwehr aufgerufen. Sie orientierte auf einen Generalstreik als Antwort der Arbeiterklasse. Doch das wurde von den Militärs unterlaufen. Sie erklärten die Woche des Putsches zu arbeitsfreien Tagen. In dieser Zeit konsolidierten sie ihre Macht.

Wahrscheinlich hat die KP nicht mit der erbarmungslosen Brutalität der Militärs gerechnet. Bis Ende Oktober waren, neben vielen anderen, allein drei Mitglieder des Zentralkomitees ermordet worden. Doch in den folgenden Monaten reorganisierte sie sich in der Illegalität. Sie gab als Losung die Bildung einer antifaschistischen Front mit den Christdemokraten aus. Aber schon zu dieser Zeit artikulierte eine Strömung die Notwendigkeit der Schaffung von militärischen Kadern.

Hier zeigt sich ein Problem mit dem sich die chilenische Linke lange Zeit, möglicherweise auch heute noch, auseinander zu setzen hatte. Viele ihrer Anhänger erlebten den 11. September als militärische, nicht als politische, Niederlage. So kreiste ihr Denken darum, wie man die militärischen Mittel in die Hand bekommt, um einer regulären Armee Paroli bieten zu können.

Ein Ding der Unmöglichkeit. Schon Friedrich Engels hat das in seinem Vorwort zu Marx Schrift "Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850" dargelegt. Seine Ausführungen wurden in Chile von den Erfahrungen des MIR und später der FPMR bestätigt. "Kein Wunder also, dass selbst die mit dem größten Heldenmut geführten Barrikadenkämpfe mit der Niederlage des Aufstandes endigten, sobald die angreifenden Führer, ungehemmt durch politische Rücksichten, nach rein militärischen Gesichtspunkten handelten und ihre Soldaten zuverlässig blieben." Die "politischen Rücksichten" und "die Zuverlässigkeit der Soldaten" sind politische Fragen auf die man nur mit politischen Mitteln einwirken kann.

Nach der Zerschlagung des MIR wendete sich der Geheimdienst den Kommunisten zu. Mitte des Jahres 1976 gelingt ihm die Zerschlagung der illegalen Strukturen der Partei. Die KP erleidet unter anderem den Verlust der kompletten Inlandsleitung. Bis zum Ende dieses Jahres verschwinden mehr als 150 Männer und Frauen, die große Mehrheit für immer.

Eine ganze Reihe von Gründen führte 1980 zu einem gravierenden Linienwechsel der KP. Dazu gehörte die internationale Entwicklung mit der Revolution in Nicaragua, die einen Sieg im Volkskrieg wieder möglich erscheinen ließ. Die Christdemokraten ließen immer noch keine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten erkennen. Aber am wichtigsten war wohl die in diesem Jahr von der Militärregierung in Kraft gesetzte neue Verfassung. Mit dieser hatte Pinochet den Übergang von der Diktatur zu dem, was die Rechte unter Demokratie versteht, eingeleitet.

Von nun an galten für die KP alle Formen des Widerstandes als zulässig. Daher bildete sich einige Jahre später eine neue bewaffnete Organisation, die Frente Patriótico Manuel Rodrigues (FPMR). Ihre bekannteste Aktion ist der Anschlag auf Pinochet, der aber scheiterte. Im Großen und Ganzen erging es ihr nicht anders als dem MIR.

Halten wir fest, wegen gravierender Fehleinschätzungen auf Seiten der Linken kann sich die UP nicht aus der Regierung zurückziehen. Die reaktionären Kräfte bekommen die Möglichkeit zum Putsch. Das nutzen sie mit der ganzen ihnen zur Verfügung stehenden Härte.

Die Militärführung gibt sich nicht mit einem Staatsstreich "light" zufrieden. Etwa in der Art, wie wir es kürzlich in Honduras beobachten konnten. Dort setzte man den gewählten Präsidenten ab und übergab die Macht wieder dem Parlament. Das wäre auch in Chile möglich gewesen, doch sie hatten anderes vor.

Ihr Ziel sprach Pinochet offen aus: "Wir wollen den Marxismus im Bewusstsein der Chilenen ausrotten.«" Und der Sicherheitschef der Junta, General Ernesto Baeza, definierte die Dauer der Militärregierung folgendermaßen: "Die Junta wird so lange regieren, bis Chile wirtschaftlich, sozial, moralisch wiederhergestellt ist."

Das Ziel war die Entpolitisierung der Bevölkerung. Diese Arbeit wurde auf allen Ebenen in Angriff genommen. Tausende Aktivisten der linken Parteien, der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen wurden eingesperrt, gefoltert oder getötet. Mindestens 20.000 Menschen flüchteten in den nächsten Jahren vor diesem Terror. Schon dieser Aderlass hatte zahlreiche öffentliche Funktionen unbesetzt gelassen. Das war den Militärs aber nicht genug. Sie schritten zu einem radikalen Elitenwechsel. Ähnlich dem, wie man ihn später in den fünf neuen Bundesländern durchgeführt hat. Viele wichtige Positionen wurden dabei mit Offizieren besetzt.

Wenn man den "Marxismus ausrotten" will, muss man Macht über das Denken der Menschen erlangen. Daher wurden sofort alle linken, oder auch nur kritischen, Zeitungen und Zeitschriften verboten, Verlage fortschrittlicher Tendenz löste man auf. Am Tag des Staatsstreichs hatte man die der UP nahe stehenden Radiostationen mittels Bombardierung zum Schweigen gebracht. Später verbot man sogar Radio Balmaceda, ein Sender der von der Christdemokratie beeinflusst wurde.


Die Ankunft des Neoliberalismus in Chile

In den 50er Jahren hatte die Katholische Universität in Santiago ein Abkommen mit der Universität von Chicago geschlossen. Es beinhaltete für die erfolgreichsten Absolventen dieser chilenischen Hochschule Stipendien für Aufbaustudiengänge in den USA. Daher setzte in den kommenden Jahren eine Reihe von Chilenen ihre Ausbildung im Norden fort. An der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Chicago lehrte damals Milton Friedman. Aus diesem Programm ging die später "Chicago Boys" genannte Gruppe von Wirtschaftsfachleuten hervor. Der Vertrag endete schon 1961, aber die Pflanze der neoliberalen Ideologie war damit in den chilenischen Boden gesetzt worden.

Die Ausarbeitung des ersten Wirtschaftsprogramms für Chile auf Basis der in Chicago gelehrten Doktrin begann Ende der 60er Jahre im Zentrum für Sozioökonomische Studien (Cesec). Ziel war seine Umsetzung nach einem rechten Wahlsieg im Jahr 1970.

Während der Regierung Allende arbeiteten diese Leute im Geheimen weiter. Auftraggeber war nun der Unternehmerverband SoFoFa. Jetzt ging man weiter und projektierte gleich die Zerstörung der existierenden wirtschaftlichen Struktur des Landes. Dieser Plan wartete nun darauf von einer zukünftigen Regierung umgesetzt zu werden.

Auf wirtschaftlichem Gebiet sind Militärs weniger bewandert. Daher griffen sie recht schnell auf das von der Unternehmervereinigung angebotene Konzept zurück. Als ersten Schritt besetzten sie die ökonomischen Schlüsselstellen des Staatsapparates, so das Wirtschafts- und das Finanzministerium sowie die Zentralbank, mit "Chicago Boys". Etwas später, 1975, setzten diese ihr neoliberales Schockprogramm um. Bei diesem ersten Schritt zur Liberalisierung der Wirtschaft nahmen sie keine Rücksichten, nicht einmal auf Chiles damalige Mitgliedschaft im Andenpakt. Diese regionale Organisation musste Chile daraufhin verlassen.

Das Schockprogramm hatte damals, verstärkt durch die erste Ölkrise, dramatische Auswirkungen. Das Bruttoinlandsprodukt ging um fast 13% zurück, die Sozialausgaben wurden von 28 auf 19,5 Millionen Dollar gesenkt und die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich auf fast 18%.

Chile wurde dem Weltmarkt geöffnet. Dies brachte zahlreiche Betriebe in die Insolvenz. Sie waren der internationalen Konkurrenz nicht gewachsen. Ironie der Geschichte ist, dass die Eigentümer dieser Unternehmen ihren Besitz durch eine Regierung verloren, die sie sich zum Schutz ihres Eigentums gewünscht hatten.

Infolge der Arbeitslosigkeit veränderte sich die Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Traditionelle Sektoren lösten sich auf und mit ihnen die gewachsenen sozialen Netzwerke, die Basis für unangepasstes Verhalten.

Auf der anderen Seite bildeten sich später neue Arbeitsplätze in den auf den Weltmarkt ausgerichteten Wirtschaftszweigen. So gibt es heute Wanderarbeiter die von der Ernte einer Frucht zur Ernte der nächsten ziehen.

Wie es sich für eine neoliberal strukturierte Gesellschaft gehört, musste sich der Staat aus der Wirtschaft zurückziehen. Deshalb wurde in zwei Wellen die Mehrzahl der Staatsbetriebe privatisiert. Man verkaufte sie nicht zu ihrem tatsächlichen Wert. Eine Untersuchungskommission des Parlaments hat 2004 den Schaden für die Staatskasse bei der Abstoßung von 32 Unternehmen kalkuliert. Er beträgt ca. 2.200 Millionen Dollar. Diese Unternehmen wurden für 1/3 bis 2/3 ihres tatsächlichen Wertes verschleudert.

Auf diese Weise entstand eine neue Gruppe von Reichen. Gebildet aus den staatlichen Funktionsträgern, die ihr Insiderwissen für private Zwecke nutzten. Hier treffen wir auch das erste Mal auf Sebastián Piñera. Er kommt zwar nicht aus diesem Milieu, aber sein Bruder war zeitweilig Arbeitsminister. Da liegt der Verdacht nahe, dass ihm wichtige Informationen zugänglich gemacht wurden. Amüsant ist es dann zu sehen, wie ihn seine Propagandisten im Wahlkampf als Selfmademan darstellten, der sich aus eigener Kraft nach oben gearbeitet hat. Dabei ist er eher mit Russischen Oligarchen vergleichbar, die durch Aneignung von Volkseigentum reich geworden sind.

Selbstverständlich wurden auch die sozialen Sicherungssysteme nicht verschont. Die Renten- und Krankenversicherung übergab man privaten Anbietern. Damit endete in diesen Bereichen der Gesellschaft ein sozial ausgleichendes Prinzip. Ähnlich verfuhr man mit dem Bildungswesen. In bisher ungeahnten Ausmaßen wurde es dem freien Markt geöffnet. Wer heute seinen Kindern eine gute Ausbildung zukommen lassen möchte, muss sie auf teure Privatschulen schicken.

Getreu der von den "Chicago Boys" vertretenen Doktrin hat der Staat möglichst wenige Aufgaben wahrzunehmen. Daher verkleinerte man den Staatsapparat. Natürlich bezog sich das nicht auf Polizei oder Armee, aber viele staatliche Aufgaben wurden an private Firmen delegiert. Die Folgen dieser Politik sind jetzt beim Erdbeben für alle Welt sichtbar geworden. Ein Beispiel ist das Baurecht. Viele neue Gebäude wurden schwer beschädigt während ihre Nachbarn, die 30 oder 40 Jahre auf dem Buckel haben, dastehen als sei nichts gewesen. Zu trauriger Berühmtheit brachte es ein 14-stöckiges Gebäude in Concepción. Es war gerade ein halbes Jahr alt, als es beim Beben in sich zusammen gefallen ist. Diese Erscheinung erklärte Patricio Gross, Vorsitzender des Architektenverbandes, so: "(...) und das liegt daran, dass die Gesetze liberalisiert worden sind. Was früher der Staat überwachte, wird heute von privaten Anstalten übernommen."

Aufgrund der Ausschaltung jeglichen Widerstandes durch das Militär konnte das neoliberale Programm in Reinform umgesetzt werden. Nur in einem Punkt waren sie inkonsequent. Die von Allende nationalisierten Kupferminen wurden nicht zurückgegeben, so dass noch heute ca. 30% des Kupferexportes dem Staatshaushalt zugute kommen. Das ist der Grund warum Chiles Umgestaltung als großer Erfolg bezeichnet wird. Aufgrund dieses Verstoßes gegen ihre eigene Ideologie und der extrem hohen Kupferpreisen hat der chilenische Staat erhebliche Finanzmittel zur Verfügung. Leidtragende des Neoliberalen Modells sind die Teile der Bevölkerung, die nicht über die Ressourcen verfügen, um die heute notwendigen Ausgaben für Gesundheit, Altersvorsorge, Erziehung der Kinder und vieles mehr zu tragen.

Die Radikalität der durchgeführten Veränderungen wird von ihren Verfechtern auch als stille Revolution bezeichnet. Einer von ihnen, Joaquín Lavín, beschrieb in den 80er Jahren ihre Auswirkungen so: "Während der letzten Dekade hat Chile tief greifende Änderungen erfahren, die die Form verändern wie die neuen Generationen leben, denken, lernen, arbeiten und sich erholen. Die Art wie sie sich sehen, die Lebensmittel die sie erwerben, die Weise wie sie ihre freie Zeit einteilen, die Städte in denen sie zu wohnen vorziehen, die Berufe die sie studieren wollen. (...) Alles ist im Wandel."

Die Auswirkungen dieser stillen Revolution auf die Menschen fasste der linke Soziologe Tomás Moulian in diese Worte: "Dieser Staatsbürger 'Kreditkarte' ist normiert, 'in Ordnung gebracht', reguliert durch den Konsum mit ist normiert, 'in Ordnung gebracht', reguliert durch den Konsum mit hinausgeschobener Zahlung. Er muss seine Konfliktfähigkeit seiner Überlebensstrategie als Lohnempfänger unterordnen. Er hat gelernt, dass seine Zukunft darin liegt, weiterhin ein vertrauenswürdiger Arbeiter zu sein. Diese Vertrauenswürdigkeit ist verbunden mit der Unterwerfung, die die Türen zu zukünftigem Konsum öffnet." Und: "Der Kredit ist ein wunderbares Mittel zur Disziplinierung, das effizienter ist wenn es nur marktwirtschaftlich funktioniert, sein Basismechanismus ist nicht außerökonomisch."

Diese Beschreibung der Wirkungen von Schulden auf das Denken und Handeln der arbeitenden Menschen kennen wir aus Deutschland. Für Chile bedeutet das einen tief greifenden Wandel. Er hat Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der linken Kräfte. Sie müssen sich auf die veränderte Situation einstellen. In diesem Prozess befinden sie sich noch heute.

Der Eine oder andere Leser wird jetzt die Massenmobilisierungen gegen Pinochet vermissen. Sie werden Inhalt vom zweiten Teil dieser Arbeit sein. Wir gehen dort der Wechselwirkung zwischen der Militärregierung und den verschiedenen Strömungen der Opposition nach. Die Geschichte dieses Übergangs zur Demokratie ist die Grundlage zum Verständnis der heutigen politischen Lage in Chile.


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 167, Frühjahr 2010, S. 16-20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2010