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ARBEITERSTIMME/205: SPD 2010 - Schuld und Sühne


Arbeiterstimme, Winter 2009/2010, Nr. 166
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

SPD 2010 - Schuld und Sühne

Ein weiteres Kapitel der Parteigeschichte im langen Weg des Niedergangs


Dass die Regierungsübernahme von SPD und "Grünen" 1998 nur mit schmerzlichen sozialpolitischen Einschnitten enden konnte, musste jeder kritische Zeitgenosse mit einigen historischen Kenntnissen befürchten. Leitete die Bildung der Großen Koalition Ende 1966 aus CDU/CSU und SPD über in eine Modernisierung der bundesdeutschen Gesellschaft durch eine liberalisierte Gesetzgebung, Ausbau und Öffnung des Bildungswesens, sollte das keynesianisch inspirierte Instrumentarium der "Globalsteuerung" hinfort der Krisenanfälligkeit des Konjunkturverlaufs entgegensteuern und eine Notstandsgesetzgebung für den Fall des Falles das Grundgesetz von 1949 jetzt für den Ausnahmezustand tauglich machen. Um darin souverän zu bleiben, benötigte die herrschende Eigentumsordnung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln einen legitimierenden Handlungsrahmen. Die Akzeptanz repressiver Gewalt in Vorwegnahme etwaiger "Bürgerkriegszustände" zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse war für die Parteiführung der SPD kein Tabubruch. Mit den Namen Ebert und Noske verbindet sich die seit 1918/19 mit Hilfe reaktionärer Freikorps unter Beweis gestellte "Vaterlandstreue" oder "Verantwortung für das Ganze".(1) Der historische Verweis lässt die Grundlinien des spezifischen SPD-Reformismus durchscheinen: Um mehrheitsfähig zu werden und zu bleiben, kann solcherart Partei ohne massenhafte Bestätigung durch lohnabhängige Wähler nicht existieren und nur durch positiv erfahrenen sozialpolitischen Fortschritt ihre dauerhafte Bindung gewährleisten. Verlieren die Wachstumsimpulse der kapitalistischen Ökonomie an selbstinduzierter Kraft, tritt alsbald der prokapitalistische Grundcharakter dieser Partei offen in den Vordergrund: Wenn zusätzliche staatliche Nachfragestimulation in wachsende staatliche Verschuldung ohne wachstumsgestützte Aussicht auf baldigen Schuldenabbau mündet, zudem die fortschreitende Produktivität dann auch noch für ein wachsendes Heer überschüssiger Arbeitskräfte sorgt, deren Versorgung mit Transferleistungen bei gleichzeitigem Beitragsausfall die Kassen der lohnbasierten Sozialversicherungszweige mehr und mehr beansprucht, ist der angebotstheoretische Paradigmenwechsel zur Kostensenkung bei Löhnen und Gewinnsteuern nicht mehr weit, um nur die Profite zu begünstigen. In dieser Situation befand sich nach 1980 die sozialdemokratisch dominierte Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt. Bei einer Bruttolohnquote von 73,6 % vom Volkseinkommen 1981 (1970: 65,6 %) wurde es trotz begonnener Beschneidung des sozialstaatlichen "Wildwuchses" - so lautete der SPD-Jargon - für den wirtschaftsliberalen Partner FDP höchste Zeit, mit der CDU/CSU die "Beseitigung von Investitionshemmnissen" des BRD-Kapitals ab Ende 1982 entschiedener anzugehen. Sechzehn Jahre später machte der neue SPD-Kanzler Schröder nicht dort weiter, wo Parteigenosse Helmut Schmidt aufhörte, sondern wo Helmut Kohl noch zögerte. Der Leitbegriff "Reform" als "Modernisierung" des "zu fett" gewordenen Wohlfahrtsstaates hin zum verschlankten Wettbewerbsstaat, der vom Kapital geringere Abgabenquoten einfordert, galt nun zuallererst für einen von breitem ideologischen Trommelfeuer ("Generationenlast" durch "demografischen Wandel") unterstützten Angriff auf die sicher gewähnte Höhe der Rentenbemessung zukunftiger Rentnerjahrgänge. In der folgenden Legislaturperiode ab 2002 ging es mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe rigoros den Langzeiterwerbslosen an den Kragen. Aus Lohnersatzbeziehern (Alhi) wurden ab 2005 Sozialfürsorgeempfänger, beschönigend Arbeitslosengeld II-Bezieher tituliert. Diese bewusst separiert vollzogene gezielte soziale Degradation bestimmter Segmente der Wahlbevölkerung musste im nachhinein CDU-Kanzler Kohl als letzten gutmütigen Patron des bundesdeutschen Sozialstaates erscheinen lassen. Obwohl sein CDU-Sozialminister Norbert Blüm sich selbst am Ende seiner Amtszeit der vorgenommenen Leistungseinschnitte von jährlich etwa neunzig Milliarden DM im Sozialetat rühmte, fiel es diesem hinterher nicht schwer, mit guten Argumenten als Barrikadenkämpfer des alten BRD-Sozialstaats auftzutreten. Seinem Ausruf "Die Rente ist sicher" fehlte nur die Konsequenz: "Wenn Ihr sie Euch durch konsequente Massenaktionen und nicht die Wahl der falschen Parteien sichert!"

Hätte die SPD/Grünenkoalition nach 1998 länger als eine Legislaturperiode durchgehalten, wenn sie sofort zu Beginn mit Verteuerungen bzw. Verschlechterungen in der Gesundheitspolitik aufgewartet hätte? Wohl kaum. Ein reduzierter Leistungskatalog und das "Steuerungsinstrument" einer von den Arztpraxen eingetriebenen vierteljährlichen Konsultationsgebühr von zehn Euro lassen jeden fragen, wem er das zu verdanken hat. Das merkwürdigerweise mit Steuermilliarden geförderte stufenweise Zwangssparen von schließlich vier Prozent des Einkommens für die Riesterrente in Regie von Finanzkonzernen mögen viele nicht als "Enteignung" empfinden. Aber es soll eine Lohnsenkung zugunsten der Unternehmer kompensieren, die bei gesetzlicher Rentenkürzung ihre Lohnsumme reduzieren, weil der kollektiv verwaltete Lohnbestandteil Rentenbeitrag nicht über zwanzig Prozent steigen soll. Und wenn dann noch die Rentenanwartschaft auf mehr Beitragsjahre bis zum 67 Lebensjahr gestreckt wird, fällt der Rentenanspruch um so geringer aus, je früher man aus dem Arbeitsleben ausscheidet. Für die meisten ist inzwischen spätestens nach 63 Lebensjahren der Übergang in die Altersrente angesagt. Wer da nicht kontinuierlich und einigermaßen tariflich gut verdient hat, ist eher arm dran. Das sind bereits diejenigen Teilzeitbeschäftigten, deren Zahl seit Inkrafttreten des zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt seit 2003 innerhalb von fünf Jahren von mehr als zehn Millionen auf über zwölf Millionen anstieg.(2) Die Zerlegung von Vollzeitstellen in Minijobs erspart erhebliche Sozialbeiträge und weitete den Niedriglohnsektor aus. Weil Vollzeitstellen nicht mehr zu finden sind, wird Teilzeitbeschäftigung besonders in Ostdeutschland zwangsläufig eine gängige Erwerbsform, obwohl zwei Drittel der Teilzeitbeschäftigten dort lieber Vollzeit arbeiten würden (siehe DGB info-service einblick 8/09). Unverhohlene Reduktion der Menschen auf möglichst billige ökonomische Grössen, die dafür noch dankbar sein sollen - diesem Menschenbild der sozialdemokratischen Modernisierer versagten sich nach 2000 wachsende Anteile der über zwanzig Millionen SPD-Wähler von 1998.

Wo aber noch mehr als zwei Drittel aller Beschäftigten eine normale Vollzeitbeschäftigung ausüben, dürften Bedenken und Ängste älterer Jahrgänge vor Dauererwerbslosigkeit (Hartz IV) und unzureichender Altersrente im Vordergrund stehen. Die Hauptgründe der Wahlniederlage bestätigte dann auch der hessische SPD-Generalsekretär Michael Roth am 29.9.09 in der Frankfurter Rundschau: "Ich würde zu Hartz IV noch die Rente mit 67 hinzufügen." Sein abgestrafter Kanzlerkandidat und neuer SPD-Fraktionschef im Bundestag Frank-Walter Steinmeier ist eher "stolz auf das, was die SPD geleistet hat". Wie er sich rechtfertigt, zeigt die Antwort auf die Frage in der FR vom 17.10.09: "Ihr künftiger Parteivize Wowereit fordert die Rücknahme der Rente mit 67, 'auch', wie er sagt, 'wenn wissenschaftlich oder mathematisch etwas anderes geboten wäre'." F.-W. Steinmeier: "Wir dürfen den Menschen nichts vormachen. Die Menschen leben länger, bekommen länger Rente, und weniger Junge zahlen in die Rentenkasse ein. Das ist Mathematik und die schlichte Wahrheit." Oder nur die Halbwahrheit, um solche politischen Zwecklügen zu kaschieren? Fragen wir eher, wieviel vom jährlichen Gesamtprodukt wem zufließt. Nimmt das ab, bloß weil die Vollzeitbeschäftigten im wiedervereinigten Deutschland seit 1991 von 29,6 Millionen bis 2008 auf 23,8 Millionen abnahmen, die Teilzeitbeschäftigung jedoch gleichzeitig von 5,5 Millionen auf 12,1 Millionen anstieg? Müssen deshalb die Zuflüsse in die Rentenkasse abnehmen und zu kleineren Portionen gestreckt werden, wenn Billigjobs mit geringen Sozialabgaben politisch gewollt Vollzeitarbeitsplätze ersetzen? Wie kommt es, dass im gleichen Zeitraum das Bruttoinlandsprodukt von 1,5 Billionen Euro auf 2,49 Billionen Euro anstieg, obwohl das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen von damals bis heute von 59,8 auf 57,7 Milliarden Arbeitsstunden aufgrund wachsender Produktivität absank und dennoch die feststellbaren Netto-Unternehmens- und Vermögenseinkommen von 289 Milliarden Euro auf 567 Milliarden Euro anwuchsen? Ein auf Dauer stets wachsendes gesellschaftliches Gesamtprodukt soll nicht mehr als die zwanzig Milliarden Euro pro Monat hergeben, welche die Rentenzahlungen derzeit abfordern? (3)

Denjenigen nehmen, die mehr brauchen und denjenigen noch mehr zuschanzen, die damit nur ihre Vermögenstitel und Gewinnansprüche erhöhen: Was hat das noch mit sozialer und demokratischer Politik dem Wort nach zu tun? Der Niedergang auf 23 % bei 9,989 Millionen Wählerstimmen (2005 ca. 16,195 Millionen) könnte auch als eher glimpflich gelten in Anbetracht der sozialen Auswirkungen der Politik gegen lohnabhängige Wähler, den die Schröder/Müntefering/Steinmeier-SPD einschlug.

Bundespolitisch ist die SPD nun auf eine politische Grösse ähnlich wie in den fünfziger Jahren der BRD zurückgeworfen. Um den Absturz nicht unbedingt stimmig, aber weitaus unbefangener als andere Sozialdemokraten zu erklären, sprach Gesine Schwan in der Berliner Zeitung vom 10.10.09 u.a. folgendes an:

"(...) Das Hauptziel der SPD, die Gerechtigkeit, ist in der Zeit der westlichen demokratischen Nationalstaaten recht gut verwirklicht worden. Aber seit dem Ende der 70-er Jahre, seit dem Schub der ökonomischen Globalisierung und erst recht seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, gab es nicht mehr die Bedrohung, dass wir in einer Diktatur enden, wenn wir die Demokratie nicht auch sozial stärken. Damit begann der 'Zeitgeist' der Deregulierung, der dann der SPD in der Regierungsverantwortung Wege nahe gelegt hat, die heute negative Folgen haben. (...) Das Kennzeichen der ökonomischen Deregulierung war ein Geist der alles durchwirkenden Konkurrenz - überall, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Bildung. (...) Und diese Entsolidarisierung der Gesellschaft hat die SPD nicht deutlich genug bekämpft, sondern hat im Gegenteil sogar noch mitgemacht, in der Bildungspolitik und indem sie de facto die Arbeitslosigkeit zum Ergebnis individuellen Versagens erklärt hat. (...) Deswegen müssen wir jetzt auch überprüfen, wie die sogenannte Agenda-Politik mit unserer historischen Mission zu legitimieren war und heute noch ist. Und was von dieser Legitimation uns möglicherweise dazu führt, an der Agenda-Politik etwas zu verändern."

Während in der Grossen Koalition nach 2005 die SPD den beschrittenen Weg in der Gesundheits-, der Renten- und Verkehrspolitik (Plan zum Verkauf von Aktienpaketen der Bahn-AG an der Börse) zusammen mit der CDU klammheimlich fortsetzte, versuchte eine mehrheitliche Strömung der hessischen SPD mit ihrer Vorsitzenden Andrea Ypsilanti auf der Landesebene durch mehr bildungspolitische Chancengleichheit und einen Umstieg zu effizienterer Energiepolitik einen Seitenausbruch links vom kapitalfrommen SPD-Kurs. Mit dem Konzept "soziale Moderne"(4) erlangte Anfang 2008 die SPD dort wieder 37,6 % der abgegebenen Stimmen. Doch das von der Parteiführung abgenötigte Versprechen, keine Koalition mit der Linkspartei (5,1 %) einzugehen, die dadurch unter die Fünfprozenthürde gedrückt werden sollte, nutzte der rechte Parteiflügel mit Unterstützung der Medien zur politischen wie persönlichen Demontage der Spitzenkandidatin, sodass kein Regierungswechsel zustande kam. In Folge servierte das Spitzen-Duo Müntefering/Steinmeier den Parteivorsitzenden Kurt Beck gleich mit ab. Er konnte nicht einsehen, Koalitionen mit der Linkspartei im Westen zu verweigern, wo sie im Osten längst zum politischen Alltag gehören. Dieses Platzhirschgehabe formaler Diktate, Parteienkonkurrenz von links aus dem parlamentarischen Revier zu quetschen, verfehlte schon beim Aufkommen der "Grünen" in den achtziger Jahren das Ziel. Die Methode, mit Ausgrenzung und Diffamierung trotz schlechter Politik möglichst viel Mandate einzusacken, um reichlich Parteikarrieren und Finanzierungszuflüsse offen zu halten, erhielt am 27. September 2009 ihre Quittung: Die Zahl der Bundestagsmandate der SPD verengte sich von 222 auf 146! Dieser Umstand wird die Fraktionsdisziplin der Davongekommenen und Verbliebenen gewiss nicht lockern.

Der SPD-Parteitag in Dresden Mitte November wich dann auch nicht von der Grundlinie der Regierungsjahre seit 1998 ab. Es rückten jüngere Personen in die erste Reihe, denen eben nicht nur politische Hehlerei aus dieser Zeit nachzusagen ist. Vor allem weiter koalitionsfähig nach rechts bleiben - dieser Perspektive stehen höhere Hartz-IV-Regelsätze für Kinder, erweiterte Schonvermögen und längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für Ältere nicht entgegen. Ansonsten wenig neues, was der jetzige Vorsitzende Sigmar Gabriel dem Tagesspiegel vom 28.11.09 mitteilte: "Das Hauptproblem in unserem Land ist die seit Jahren sinkende Investitionsquote. Steuerliche Vorteile müssen den Unternehmen Anreize geben, mehr zu investieren. Das schafft Arbeitsplätze. Auch der Staat muss seine Investitionen eher noch ausbauen." Mit einer Schuldenbremse im Grundgesetz, für die sich die SPD eben gerade hergab? Und das niedrigere Unternehmenssteuern Arbeitsplätze schaffen - dieses "Erfolgsrezept" findet ja seit 30 Jahren tüchtig Anwendung. Im Hinblick auf die Bankenpolitik wurde Genosse Gabriel richtig heftig: "Eigentum verpflichtet, sagt das Grundgesetz. Das sollten wir mit Gesetzen konkretisieren. Wir kommen nicht weiter, wenn der Staat kein scharfes Schwert hat. Der Staat muss es ja nicht benutzen, aber er muss zeigen, welche Mittel er einsetzen wird, wenn sich der Bankensektor weiterhin so gemeinwohlschädigend verhält."

Noch klammern sich weite Teile der bundesdeutschen politischen Linken an die Hoffnung, aus dem Ergebnis der anstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen eine SPD/Grüne/Linkspartei-Koalition als Etappensieg auf dem Weg zur Regierungsübernahme auch im Bund zu bilden. Zwei Hartz-IV-Parteien sollen zusammengehen mit einer Partei, die ihr neoreformistisches Profil über die Sozialpolitik von SPD und Grünen herausbildete.(5) Wenn auch kryptisch zugespitzt, weist der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der FR vom 9.11.09 bestimmten Parteien einen anderen Stellenwert in ihrer Funktion zu:

"Die sozialdemokratische Partei ist die älteste Partei in Deutschland. Während ihrer gesamten Geschichte hat es immer Fragen nach der Entwicklung ihres linken Flügels gegeben. Das war schon in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik so. Die zukünftige Aufgabe der SPD ist es, Wähler in Richtung Mitte zu finden. Das ist wichtiger als weitere 20 Jahre darüber nachzudenken, dass es alle möglichen Wurzeln in der Linken gibt, die wir nur mit den Buchstaben SED verstehen."

Diese Aufforderung, alle möglichen Strömungen der Linken unter dem Dach der Linkspartei zu domestizieren - nach 1945 wurde ja von der KPD im Osten und von der SPD im Westen fast alles aufgesogen - ist ein intelligenter Wunsch, die schärfer hervortretenden Klassenunterschiede über das parlamentarische Parteiengefüge im Zaum zu halten. Die bürgerliche Hegemonie des herrschenden prokapitalistischen Interessenblocks lässt sich so weder infragestellen noch aufbrechen. Der Unmut der unter Druck geratenen Bevölkerungsteile äussert sich vor allem in Wahlenthaltung. Die betriebene Sozialstaatsdemontage findet in enttäuschter Abwendung von der SPD, aber auch der CDU/CSU ihren Ausdruck. Die Distanz zur Linkspartei dürfte im Westen eher sozio-kulturelle Gründe haben. Ihre Aktivisten agieren aus einer Randszene heraus eher als Verliererpartei. Was könnte wenigstens Anteile des Nichtwählerblocks hindern, sich einem Programm für eine erneuerte soziale Republik zuzuwenden, das durch ein fortschrittliches Arbeitszeitgesetz mittels kurzer Vollzeit für alle (sechs Stunden täglich ohne Lohnverlust) mehr Beschäftigungschancen eröffnet und damit die Produktivkraftentwicklung endlich wieder mehr gesellschaftlich nützlich umsetzt? Sichere Daseinsvorsorge im Alter, bei Krankheit und Erwerbsausfall kann nur ein regulierter Gesamtarbeiter garantieren, indem alle Erwerbsfähigen unter angeglichenen Zeitstrukturen ihren Platz finden. Passiv dem Aufwachsen einer SPD zuzuschauen, die den Leuten wieder was vormacht, ist Zeitvergeudung, bevor die rötlich-grün schillernden politischen Seifenblasen zerplatzen und die Resignation innerhalb der auf Lohnerwerb angewiesenen Bevölkerung weiter um sich greift.


Anmerkungen:

(1) Hierzu stets empfehlenswert: Sebastian Haffner, Die deutsche Revolution 1918/19, Rowohlt TB Reinbek 2007, 253 S., 8.90 Euro

(2) Mehr darüber: DGB Positionen + Hintergründe Nr. 8/Februar 2008 Bereich Gleichstellungs- und Frauenpolitik/Mini-Jobs im Widerstreit politischer Interessen

(3) Obwohl gerade die Niedrigstrentner es nötig hätten, würde eine monatliche Rentenerhöhung um hundert Euro etwa zwei Milliarden Euro zusätzlich erfordern (24 Mrd. jährlich). Eine einprozentige Beitragserhöhung würde dafür ausreichen.

(4) Dennoch ist das alles nicht besonders "links". In einem Interview des "Freitag" vom 12.11.09 lehnte Andrea Ypsilanti die Forderung nach der 30-Stunden-Woche ab. "Ich denke, dass man mit solchen Festlegungen auch nicht viel weiter kommt. Wir brauchen flexible Konzepte, Jahres- und Lebensarbeitszeitkonten und dergleichen." An gleicher Stelle favorisierte sie die "solidarische Bürgerversicherung", eine Art Krankenvolksversicherung im Kapitalismus, in die alle einzahlen sollen. Versicherungskonzerne und diejenigen, die solche Versicherung nicht brauchen, werden es zu verhindern wissen. Den Glauben an Luftschlösser verbreiten und den Finanzierungsproblemen der gesetzlichen Krankenversicherung tatenlos zuschauen, ist schlicht fahrlässig. Nur mehr Beitragszahler erhöhen sofort die Geldzuflüsse - dies aber setzt generelle Arbeitsumverteilung voraus, die zu mehr Vollzeitbeschäftigung führt.

(5) "Die Grünen stehen mitte-links. Aber wir lassen uns im Bundestag nicht so einfach in ein rot-rot-grünes Oppositionslager einordnen. Wir sind eine eigenständige Partei und machen eine eigenständige grüne Politik. Die Verstaatlichungspolitik und die unbezahlbaren Versprechungen der Linken machen wir nicht mit. Andererseits gibt es zum Beispiel in der Atom-, Umwelt- und Sozialpolitik natürlich auch viele Übereinstimmungen." Bärbel Höhn, Vize-Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, in: Berliner Zeitung vom 13.10.2009


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 166, Winter 2009/2010, S. 9-12
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2010