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ARBEITERSTIMME/204: Nach den Wahlen - Parteien, Gewerkschaften, Innenpolitik


Arbeiterstimme, Winter 2009/2010, Nr. 166
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Nach den Wahlen

Parteien, Gewerkschaften, Innenpolitik


Mit dem Wahlsieg von Schwarz-Gelb liegt ein Wahlergebnis auf dem Tisch, das den abhängig Beschäftigten erst einmal nichts Gutes verspricht. Zwar wurde ein solches Ergebnis auf Grund der Umfragen der Meinungsforscher mehr oder weniger erwartet, doch hat die desaströse Abstrafung der SPD durch die Wähler schon überrascht. Mehr als elf Prozent erhielt die Sozialdemokratie weniger an Stimmen gegenüber dem Jahr 2005. Betrachtet man den Niedergang in absoluten Zahlen über einen längeren Zeitraum, so wird der Zerfall der SPD noch deutlicher. Im Jahr 1998, als Rot-Grün an die Regierung kam, wählten noch 20 Millionen Wähler SPD, 2009 waren es nur noch 10 Millionen. Damit hat die SPD ihr schlechtestes Wahlergebnis in der Nachkriegsgeschichte der BRD kassiert und so ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht.

Steinmeier, Müntefering und Genossen verstanden am Wahlabend die Welt nicht mehr und faselten das immer Gleiche: "man hätte den Wählern die eigene Politik nicht richtig vermittelt" und "...man müsse jetzt das Wahlergebnis in den Gremien gründlich analysieren". Als wenn es da etwas zu analysieren gäbe. Die SPD hat in den zurückliegenden Jahren eine Politik gegen ihre traditionelle Klientel gemacht. Dafür hat sie bei dieser Wahl verdientermaßen die Rechnung bekommen. Es hat ihr auch nicht geholfen, dass sie seit dem zurückliegenden Jahr punktuell ihr "soziales Gewissen" wieder gefunden hat. Die Forderung nach einem flächendeckenden Mindestlohn alleine ist zu wenig, wenn man weder Hartz IV revidieren will, noch bereit ist den Renteneintritt mit 67 zurückzunehmen. Es ist daher die logische Konsequenz, dass ein großer Teil ihrer ehemaligen Stammwählerschaft zur Partei DIE LINKE abwandert ist und ein noch größerer Teil am Wahlsonntag zu Hause blieb. Mit 72 Prozent erreichte auch die Wahlbeteiligung ihren vorläufigen Tiefpunkt und war für die Sozialdemokratie geradezu tödlich.

Aber auch die Unionsparteien mussten kräftig Federn lassen. CDU/CSU erhielten das zweitschlechteste Wahlergebnis seit ihrer Gründung. Sie lagen bei gerade mal 33,8 Prozent. In absoluten Zahlen sind das 1,3 Millionen Stimmen, die ihnen verloren gingen. Geschockt über das Ergebnis waren auch die CSU-Oberen in München. Nur 42,6 Prozent der Stimmen fielen auf die CSU, die in der Vergangenheit Bayern immer als ihren Erbhof betrachtet hat. Und nun das! Das schlechteste Ergebnis seit 1949! Die Unionsparteien haben heute nur noch eine Mehrheit bei den über 60jährigen. Hier holte die Union 42 Prozent. Sie bleibt aber in allen anderen Altersgruppen unter ihrem Gesamtresultat. Verloren hat sie auch bei Wählern aus dem christlichen "Arbeitnehmerlager". Unter den Gewerkschaftsmitgliedern lag der Stimmenanteil für die beiden Unionsparteien bei 24 Prozent.


Gewinner FDP

Eindeutiger Gewinner im bürgerlichen Lager ist die FDP. Sie gewann 1,7 Millionen Stimmen, im Vergleich zu den Wahlen 2005, hinzu. Auf den ersten Blick erscheint es widersinnig, dass ausgerechnet die Partei des reinen Neoliberalismus derartige Stimmenzuwächse erzielt. Aber offensichtlich haben diese Wähler die FDP nicht nur in ihrer ideologischen Ausrichtung gesehen, sondern sehr pragmatisch, als eine Partei, die ihnen persönlichen Nutzen bringt. Westerwelles "Steuern runter" und "mehr Markt" hat zum einen jene Teile des Kleinbürgertums angesprochen, die durch die Wirtschaftskrise zunehmend unter Druck geraten. Dazu gehören inzwischen auch abhängig Beschäftigte, die sich selbst dem so genannten Mittelstand zurechnen. Eine Wahlanalyse der IG Metall brachte zu Tage, dass insgesamt neun Prozent der Gewerkschaftsmitglieder, davon 11 Prozent Arbeiter, die Liberalen gewählt haben. Ganz konkret verspricht sich dieser Teil der Wählerschaft "mehr Netto vom Brutto", wie es von der FDP versprochen wurde. Nur mit deren Politik sehen sie die Möglichkeit, ihren unsicher gewordenen und gefährdeten Lebensstandard aufrechtzuerhalten.

Von infratest dimap gibt es eine wenige Wochen alte Meinungsumfrage zum Gerechtigkeitsempfinden der Menschen in der BRD. Es ist interessant, dass die Hälfte der FDP-Anhänger die Verhältnisse im Land als "eher ungerecht" empfindet. Sie sehen sich selbst als "Leistungsträger" in der Gesellschaft, die mehr und mehr, ohne Eigenverschulden, auf die Verliererstraße gedrängt werden. Bei ihnen zeigt die mehr als 20 Jahre andauernde ideologische Lufthoheit des Neoliberalismus besondere Wirkung. Für sie ist tatsächlich der Kapitalismus, das "Ende aller Geschichte". Aber das gilt leider nicht nur für diesen Personenkreis. Trotz der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 1929 kann sich eine Mehrheit in allen gesellschaftlichen Klassen, auch in der Arbeiterklasse, nicht vorstellen, dass es zum Kapitalismus eine Alternative gibt. Deshalb kann in ihren Augen auch diese Krise nur mit Hilfe der Marktwirtschaft überwunden werden. Aufgrund solcher Wählerüberlegungen haben die Parteien, bei denen die größte marktwirtschaftliche Kompetenz vermutet wird, die besseren Chancen gewählt zu werden. Und diese Kompetenz hat für 55 Prozent der Wähler die FDP, gefolgt von der CDU mit 53 Prozent. Zum andern hat die FDP natürlich auch nach wie vor die entsprechende Unterstützung aus den Kreisen ihrer traditionellen Klientel. Jener Klasse, die von der neoliberalen Umverteilungspolitik der vergangenen Jahre am stärksten profitiert hat und die jetzt ihre Vermögenspositionen mit Zähnen und Klauen verteidigt. Für diese Kreise kommt nur die Abwälzung der Krisenlasten auf die abhängig Beschäftigten in Frage. Und sie sind davon überzeugt, dass die FDP dafür sorgen wird.

Der Göttinger Politologe Franz Walter wird dazu im Sozialismus (10/09) folgendermaßen zitiert:

"Geht eine Epoche zu Ende, implodiert ein politisches oder soziales System - übrig bleiben immer auch die Nutznießer des Überkommenen, die sich dann besonders eng um die politische Prätorianergarde der alten Herrschaftsideologie scharen."

Doch wie zu sehen ist, sind es nicht nur die Nutznießer, die sich um die FDP scharen, sondern auch die potentiellen Verlierer der Krise. Diese Schichten könnten, wenn sie von der FDP-Politik enttäuscht werden - und das kommt zwangsläufig - das Potential für eine neue Rechtsbewegung bilden, wie wir das aus der Geschichte oder aus anderen europäischen Ländern kennen. Nach links werden sie sich in dem Fall sicher nicht orientieren.


Zunehmende Widersprüche - zunehmende Polarisierung

Die Bundestagswahl 2009 bedeutet aber zunächst einmal die Zunahme der politischen Polarisierung in den kommenden Monaten und Jahren. Die Verluste von SPD und Union zeigen, dass der klassenübergreifende Charakter der so genannten Volksparteien zunehmend verloren geht. Beide Blöcke werden weiter erodieren, weil die über Jahrzehnte praktizierte Klassenkooperation des rheinischen Kapitalismus abhängig ist von den realen Verteilungsspielräumen im System. Durch die Finanz- und Wirtschaftskrise sind diese Spielräume aber schlicht nicht mehr vorhanden. Gleichgültig, wie die Koalitionsvereinbarung zwischen Union und FDP am Ende aussieht, sicher wird sein, dass die Republik und die Bundesregierung vor heftigen Verteilungsauseinandersetzungen stehen. Diese Auseinadersetzungen werden nicht nur Regierung, parlamentarische und außerparlamentarische Opposition betreffen, sondern auch das bürgerliche Lager selbst. Zu groß sind dort die widersprüchlichen Erwartungshaltungen der verschiedenen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Fraktionen. Und zu groß sind die Probleme vor denen diese neue Regierung steht. Die Staatsverschuldung ist gigantisch und wird in Zukunft weiter anwachsen. Die Arbeitslosigkeit wird in den nächsten Monaten drastisch steigen und wie es mit der Konjunkturentwicklung weiter geht weiß im Grunde niemand. Zwar gibt es jede Menge Konjunkturgesundbeter in den Wirtschaftsverbänden und Instituten. Doch gehen deren Phantastereien, dass die Weltwirtschaft vor einem Aufschwung steht, mehr auf das Konto "Liebe, Glaube, Hoffnung", als auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zurück. Wahrscheinlicher ist, dass sich die Krise spürbar verschärft und sich noch über Jahre hinzieht.

Vielleicht auch deshalb meldet das Kapital über seine Verbände jetzt so schnell seine Forderungen an die zukünftige Regierung an. Die Berliner Zeitung hat unmittelbar nach der Wahl, die Wünsche der Kapitalisten zusammengetragen. Unisono fordern die Herren Präsidenten der verschiedenen Kapitalverbände Steuersenkungen für die Unternehmen auf allen Ebenen. Jetzt müsse alles getan werden, um Deutschland nachhaltig aus der Krise zu führen, meint beispielsweise der VDMA-Präsident Manfred Wittgenstein und fordert: "eine Steuerstrukturreform zur Stärkung der Unternehmen sei genauso notwendig wie die gesetzliche Verankerung betrieblicher Bündnisse für Arbeit". In der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) ist man der Auffassung, dass ganz oben auf der Agenda ebenfalls die kurzfristige Korrektur der Unternehmens- und Erbschaftssteuer stehen muss. Das Wahlergebnis sei "ein klares Votum für mutige Reformen", meint man dort.

Der Forderungskatalog ließe sich beliebig weiter fortsetzen. Besonders phantasievoll ist er allerdings nicht. Sein Kredo ist: Profitsteigerung, Profitsteigerung, Profitsteigerung! Mehr Profite durch Steuersenkungen für die Kapitalisten und mehr Profit durch Lohn- und Sozialabbau. Eigentlich ist das alles wie gehabt, doch jetzt sehr viel drastischer als unter Rosa-Schwarz.

Natürlich ist den Kapitalisten klar, dass das Thema Steuersenkungen bei der aktuellen staatlichen Finanzlage ein schwieriges Feld ist, das sich nur schwer beackern lässt. Man macht sich in diesen Kreisen deshalb auch Gedanken zur Gegenfinanzierung. So wurde vom DIHK die Erhöhung der Mehrwertsteuer um sechs Prozentpunkte ins Spiel gebracht, die das erforderliche Geld in die leeren Haushaltskassen spülen soll. "Auch lieb gewonnene Staatsausgaben - bei Sozialtransfers ebenso wie bei Subventionen und Förderprogrammen - müssen daher im Zweifel jetzt in Frage gestellt werden". Dann soll der Mittelstand entlastet werden, unter anderem über die Senkung der Lohnnebenkosten. In der Arbeitslosenversicherung und bei den Berufsgenossenschaften sollen in Zukunft die so genannten versicherungsfremden Leistungen über Steuern finanziert werden.

Alle diese Forderungen decken sich mit der konservativ/liberalen Parteiprogrammatik. Mit neoliberalen Mitteln soll die Krise überwunden werden, was heißt: weitere Umverteilung von Unten nach Oben. Entlastung der Besitzenden und Belastung der Besitzlosen mit Massensteuern und Sozialabbau. Verbunden soll das werden mit grundlegenden gesellschaftlichen Strukturveränderungen, welche die Vermögens- und Herrschaftsansprüche der bürgerlichen Klasse auf Dauer sichern. Als Beispiel sei hier die Forderung genannt, die betrieblichen Bündnisse für Arbeit, gesetzlich zu verankern. Eine Forderung, die in der Gesellschaft, wahrscheinlich nicht einmal in den Betrieben, für eine richtig große Aufregung sorgen würde, die aber die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse maßgeblich zu Gunsten des Kapitals verändern würde, sollte sie Realität werden. Schon unter Schröder wurde das Thema diskutiert. Um aber den Konflikt mit den Gewerkschaften zu vermeiden, ließ man es schließlich wieder fallen. Diese Hemmschwelle wird es unter Schwarz-Gelb nicht mehr geben. Würde die Forderung realisiert, könnten die Kapitalisten innerhalb kürzester Zeit bestehende Tarifverträge aushebeln und die Gewerkschaften entscheidend schwächen. Dass sie nicht vor der Erpressung und Nötigung von Betriebsräten und Belegschaften zurückschrecken, haben sie in der zurückliegenden Zeit mehr als einmal demonstriert.


Das schlimmste kommt noch

"Aber so schlimm wird's schon nicht kommen". Das ist wenigstens die dominierende Auffassung in der Bevölkerung. Nur noch 28 Prozent der Bundesbürger sind der Meinung, dass das Schlimmste der Krise noch bevorstehe. Im Frühjahr des Jahres waren es noch 42 Prozent gewesen. Der Meinungsumschwung verwundert nicht. Ist doch die Krise für sehr viele Menschen noch nicht real spürbar. Fast ist sie wie ein Phantom. Ständig wird von ihr geredet, doch die Mehrheit hat sie noch nicht kennen gelernt. Das ist auch der Grund, dass Ängste und Pessimismus schwinden, dass, bei denen die es haben, Kauflaune eintritt und sich allgemein Optimismus breit macht.

Das kommt nicht von ungefähr. Daran wurde intensiv gearbeitet. Und sie haben es gut gemacht, die Medienvertreter in den Agenturen der ökonomisch und politisch Herrschenden. Ihnen ist gelungen, die Krise klein zu reden und zu verharmlosen. Verging doch in den zurückliegenden Monaten fast kein Tag mit positiven Meldungen, dass es wieder aufwärts geht, dass man die Krise im Griff habe. Bereits im Mai dieses Jahres meldete die Financial Times Deutschland (FTD), dass der Absturz der Konjunktur gestoppt sei und dass sich weltweit die Anzeichen mehrten für ein baldiges Ende des konjunkturellen Absturzes. "An allen Ecken und Enden sieht man jetzt, dass die Weltwirtschaft nicht weiter abstürzt", zitiert die FTD Dirk Schumacher, den Chefvolkswirt von Goldman Sachs. Allerdings wäre es auch mehr als verwunderlich, wenn momentan die Weltwirtschaft weiter ins bodenlose abstürzen würde. Immerhin wurden weltweit Konjunkturprogramme in Dollar-Billionenhöhe aufgelegt. Kleinlaut zitiert deshalb auch die FTD die Skeptiker unter den Ökonomen. "Die Börsen feiern derzeit ein konjunkturelles Strohfeuer", sagt beispielsweise ein Ökonom von Unicredit. "Laufen diese aus, fällt die Weltwirtschaft zurück in die Rezession". Ähnlich sieht es auch der Internationale Währungsfond. In diesem wird bezweifelt, dass es schnell zu einer Erholung kommt.

Jetzt nach der Bundestagswahl wird allerdings Fraktur geredet. Ein Bericht in der FTD kurz vor der Wahl veröffentlicht, klingt deshalb recht glaubhaft, wonach es "eine Art Stillhalteabkommen zwischen Industrie und Regierung" gab. Danach plant die Wirtschaft für die Zeit nach der Bundestagswahl einen Jobkahlschlag. Darüber sollten die Wähler vor der Wahl möglichst nichts erfahren. Den MAN-Vorstandsvorsitzenden zitiert die FTD mit den Worten: "Nach der Wahl wird sich die Botschaft ändern. Das ist ganz normal".

Ob es nun ein förmliches Stillhalteabkommen gab oder nicht, ist im Grunde gleichgültig. Es würde lediglich die Verkommenheit der Bourgeoisie im Umgang mit der eigenen Verfassung noch deutlicher machen als sie schon ist. Für den politisch Interessierten war unabhängig davon klar, dass nach den Wahlen auf allen Ebenen Einschnitte erfolgen.

Auf jeden Fall meldet die FAZ bereits am 28. September "Die Kurzarbeit hat ihren Zenit überschritten", der Stellenabbau sei schon im Gange. Danach planen nach einer Umfrage dieser Zeitung, von den großen Industrieunternehmen 38 Prozent, die Kurzarbeit im letzten Quartal zurückzufahren. Diese Entwicklung wird sich dann im nächsten Jahr verstärkt fortsetzen, wenn für die Mehrheit der Kurzarbeiter die derzeitige Kurzarbeitsregelung von 24 Monaten ausläuft. Dann wird die Kurzarbeit in die Arbeitslosigkeit münden. Allerdings ist es fraglich, ob die Kapitalisten solange mit Entlassungen warten. Für sie sind Entlassungen allemal billiger als eine Belegschaft in Kurzarbeit zu halten. Rücksicht auf das Wahlverhalten ihrer Beschäftigten brauchen sie auch nicht mehr nehmen. Diese haben ihre Stimme schließlich für die nächsten fünf Jahre abgegeben. Deshalb werden diese Wirtschaftskrise und ihre Folgen auch für die Mehrheit der abhängig Beschäftigen, die sich bislang in relativer Sicherheit gewiegt haben, in Kürze sehr konkret. Die Arbeitslosigkeit wird massiv ansteigen. Die Bundesagentur rechnet im kommenden Jahr mit bis zu fünf Millionen Arbeitslosen. Mit ihren Konjunkturstützungsprogrammen und der Ausweitung der Kurzarbeitsmöglichkeit auf zwei Jahre hat die Bundesregierung erreicht, dass neben der Exportkonjunktur, nicht auch noch die Binnenkonjunktur völlig abstürzt. Das war mehr wahltaktischen Überlegungen geschuldet als ökonomischer Vernunft. Diese Konjunkturstütze aber ist bei einem massiven Anstieg der Massenarbeitslosigkeit stark gefährdet. Eine steigende Arbeitslosenzahl führt zwangsläufig zu einem weiteren Nachfrageausfall und verstärkt alle ökonomischen und haushaltspolitischen Probleme, die bereits heute schon gigantisch sind. Die Krise entwickelt eine zusätzliche negative Dynamik. Abhilfe würde nur ein kräftiges Wirtschaftswachstum bringen. Doch das ist nicht in Sicht. Nach Berechnungen der Bundesregierung wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um ca. sechs Prozent unter dem Niveau des Jahres 2008 liegen. Das ist ein gewaltiger Rückgang. Und er ist doppelt so hoch wie in den USA. Übertroffen wird er innerhalb der G7-Industriestaaten nur noch von Japan. Dort schrumpfte die Wirtschaft im Jahr 2008 um 8,3 Prozent.

Jetzt rächt sich die jahrelange Exportweltmeisterschaft Deutschlands. Auf Kosten der Binnennachfrage wurden die Exportanteile deutlich gesteigert. Zustande kam das durch Lohnabbau, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Sozialabbau. Gelernt aus den negativen Erfahrungen haben die Herrschenden und bürgerlichen Politiker allerdings nichts. Nach wie vor ist für sie die Pflege der Exportindustrie die Voraussetzung einer wirtschaftlichen Erholung. Aber auch Merkel und Westerwelle werden merken, dass sie einer Schimäre aufgesessen sind. Im Sozialismus 10/09 schreibt Joachim Bischoff richtig:

"Die Erwartung nach der Krise an den Exportboom der Vorjahre anknüpfen zu können, ist irreal. Die Asymmetrie der Handelsstrukturen auf dem Weltmarkt mit den USA als 'consumer of last resort' und Deutschland, China und Japan als profitierende Exportnationen wird nicht zu rekonstruieren sein. (...) Deutschland wird auch in Europa... die Erfahrung machen, dass sich die von der Krise gebeutelten Nachbarn nicht auf Dauer zu Opfern einer deutschen 'beggar my neighbour policy' machen lassen."


Deindustrialisierung droht

Was das in der bundesrepublikanischen Realität bereits heute und noch mehr morgen bedeutet, ist in den Medien selten zu lesen. Doch vor kurzem brachte die TAZ eine Reportage über die Situation in Baden-Württemberg. Hier gibt es besonders viele exportabhängige Unternehmen, neben der dominierenden Automobil- und Zulieferindustrie. Im Moment ist der deutsche Südwesten die Region, die am härtesten von der Krise getroffen ist. Die Wirtschaftsleistung wird in diesem Jahr deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen, nämlich bei runden minus acht Prozent. "Entlassungen, Kurzarbeit, Insolvenzen: In Baden-Württemberg geht es dem einstmals höchst erfolgreichen Mittelstand an den Kragen", schreibt die TAZ. Dann berichtet sie aus der IGM-Verwaltungsstelle Esslingen und zitiert deren Bevollmächtigten Sieghard Bender. Von den 130 Unternehmen in der Verwaltungsstelle, geht es gerade einmal 10 Prozent gut. Rund die Hälfte davon ist, wird sich die Lage nicht ändern, in ihrer Existenz bedroht. Das gilt besonders für die Betriebe des Maschinenbaus, sowie der Kfz-Zulieferindustrie. Die vielen kleinen mittelständischen Betriebe sind dabei das eigentliche Problem. Bis zu 90 Prozent sind dort laut TAZ die Aufträge weg gebrochen. Daher geht ihnen nach monatelanger Durststrecke langsam aber sicher das Geld aus. Sie können nicht wie die Konzerne Daimler, Porsche oder Bosch aus eigener Finanzkraft die Krisenzeit überbrücken; sie brauchen von den Banken Liquiditätskredite. Aber die bekommen sie nicht. "Die Großen kriegen Kredite und die Kleinen verhungern", sagt Gunter Ketterer, ein Maschinenbaufabrikant aus der Region. Ja, so sind sie die Gesetze des freien kapitalistischen Marktes. Das führt zu Konsequenzen. Und Bender ist sich sicher, dass nach der Wahl die Konkurse beginnen. Die IG Metall fordert deshalb eine aktive Strukturpolitik mit einem Regionalfond von 500 Mio. Euro. Damit sollen Mittelständler gerettet werden und eine Deindustrialisierung der Region verhindert werden. Bender war lange Jahre für die IG Metall in Chemnitz. Wenn er also von Deindustrialisierung spricht, dann weiß er was das ist. Aber die Politik will von den IGM-Vorschlägen nichts wissen. Auch das ist eine Erfahrung aus dem Osten.

Sicherlich ist die Lage nicht in allen Bundesländern und Regionen gleich trübe und direkt vergleichbar, doch wenn man die Situation der Schlüsselbranche Metall- und Elektroindustrie generell betrachtet, so lässt sich die Momentaufnahme aus Esslingen mehr oder weniger auf alle Industriezentren in der BRD übertragen. So beschreibt der IGM-Vorstand die Situation in seinem Wirkungsbereich folgendermaßen: "Seit Mai 2008 gehen immer weniger Aufträge ein. So brach in den ersten beiden Monaten 2009 der Auftragseingang im Vergleich zum Januar und Februar 2008 um 40 Prozent ein. Aus dem Ausland gingen 33 Prozent weniger Bestellungen ein. Die Auslandsaufträge schrumpften um 45 Prozent.

Im Überblick entwickelten sich die Branchen folgendermaßen:

In der Kfz-Industrie ging die Produktion um 44 Prozent zurück. In der Stahlindustrie wurde 34 Prozent weniger Stahl erzeugt. Die Unternehmen, die Metallerzeugnisse herstellen, meldeten ein Minus von 29 Prozent und die Elektroausrüster einen Rückgang von 27 Prozent. Im Maschinenbau ging die Produktion um 23, bei den Herstellern von Datenverarbeitungsgeräten, Elektronik und Optik um acht Prozent zurück".

Diese Situationsbeschreibung deckt sich wahrlich nicht mit der Schönfärberei, die für die Öffentlichkeit betrieben wird. Von wegen: Licht am Ende des Tunnels. Und von wegen: die Konjunktur springt gerade wieder an! Wie die Analyse der IG Metall zeigt, ist die Autoindustrie am stärksten von der Krise betroffen. 44 Prozent Produktionsrückgang sind kein Pappenstil. Zwar hat die Abwrackprämie dem einen und anderen Konzern geholfen nicht ganz ins Bodenlose zu fallen. Aber jetzt nach dem Auslaufen des Programms wird die Ernüchterung umso größer sein. Konnte die Abwrackprämie schon den Exporteinbruch nicht auffangen, reißt das Auslaufen der Prämie jetzt ein zusätzliches Loch in die Absatzzahlen der Automobilkonzerne. Die Automobilbranche ist in Deutschland und Europa nicht nur irgendeine Branche. Sie ist die zentrale Schlüsselindustrie, an der neben der Kfz-Zulieferindustrie auch erhebliche Teile der Grundstoffindustrien, wie Stahl und Chemie, der Spezialmaschinenbau und große Bereiche des Dienstleistungssektors hängen. Seit Jahren ist in Europa die Nachfrage nach Autos rückläufig. Die Kapazitäten konnten nur durch den Export in die USA und die Schwellenländer einigermaßen ausgelastet werden. Dazu muss man wissen, dass die deutsche Automobilindustrie 70 Prozent ihrer Fahrzeuge ins Ausland verkauft. Kommt diese Nachfrage jetzt zum Stillstand hat das weit reichende Konsequenzen für die deutsche und europäische Industrie. Jetzt werden die bestehenden Überkapazitäten in der Branche deutlicher sichtbar. Von der IG Metall wird eingeschätzt, dass diese weltweit zwischen 15 und 25 Prozent liegen. Und erst wenn das darin investierte Kapital durch die Krise vernichtet ist, kann es zur wirtschaftlichen Erholung kommen. Kurzfristig wird das allerdings nicht der Fall sein. Was aber dann? Bis zum heutigen Zeitpunkt ist es bei den Stammbelegschaften nicht zu Entlassungen im größeren Stil gekommen. Das geschah nicht zuletzt durch weitgehende Zugeständnisse der Betriebsräte und der IG Metall an die Konzerne. In einem Interview mit der Zeit formuliert das der Daimler-Betriebsratsvorsitzende Erich Klemm, folgendermaßen: "Den großen Personalabbau sehe ich nicht. Ich gehe nach wie vor davon aus, dass wir bis zum Ende der Krise mit den Instrumenten der Kurzarbeit und des Beschäftigungssicherungstarifvertrags, der etwa Arbeitszeitverkürzungen ermöglicht, unsere Stammbelegschaft halten können". Am Beispiel Daimler heißt das für die Stammbelegschaft, dass sie für den Konzern blutet. Anfang September wurde dort vereinbart, dass die Löhne und Gehälter der Beschäftigten gekürzt werden. Rund 60.000 Angestellte werden 8,75 Prozent weniger verdienen, mit der Zusage (vorerst) nicht entlassen zu werden. Runde 1,6 Milliarden Euro will der Konzern auf diese Weise einsparen. Die Leiharbeiter sind von der Maßnahme nicht betroffen. Sie befinden sich schon seit Monaten unter der Betreuung der Arbeitsagentur.

Daimler steht mit diesem Beispiel nicht alleine. Das was dort geschieht ist heute Praxis in praktisch allen größeren Industriebetrieben. Und nicht nur bei den Großen. Nach einer Umfrage des, zur Hans-Böckler-Stiftung gehörenden, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts, gibt es in jedem vierten Betrieb, der über 20 Beschäftigte und einen Betriebsrat hat, eine "Beschäftigungsgarantie". Der Preis dafür sind unbezahlte Mehrarbeit, weniger, oder kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld, oder gleich direkte Lohnkürzungen.


Beschäftigungsgarantie - eine Illusion

Dabei wird bei diesen "Beschäftigungsgarantien" gar nichts garantiert. In allen Vereinbarungen gibt es Klauseln, die Entlassungen ermöglichen, wenn sich die "wesentlichen Grundannahmen", verändern. Und die verändern sich ständig. Das wird inzwischen wohl auch der IG Metall klar. Auf einer Automobil- und Zuliefererkonferenz im März des Jahres geht IGM-Vorsitzender Berthold Huber selbst davon aus, dass Dramatisches geschieht. Er führt dort aus, dass es bis jetzt wegen der IG Metall nicht zu großen Entlassungswellen gekommen sei, aber, so Huber, "wenn ich die Berichte aus den Unternehmen richtig deute, könnte sich das ab Sommer drastisch ändern". Huber erkennt richtig, dass mit der Abwrackprämie und der verlängerten Kurzarbeitsdauer "Zeit gewonnen (wurde) und nicht mehr". Das ist offensichtlich die Revision seiner anfänglichen Fehleinschätzung, dass durch die Finanzkrise, die Realwirtschaft nur am Rande getroffen wird. Noch während der Metall-Tarifrunde 2008 wurde von Huber die Aussage gemacht: "Krise? ich sehe keine Krise!". Doch dieser Fehleinschätzung ist nicht nur er aufgesessen. Das dachten zu der Zeit auch Betriebsräte und ganze Belegschaften. Aber jetzt werden sie allesamt von der Realität geweckt. Jetzt kommt auf die Belegschaften, auch auf die der großen Konzerne, einiges zu. Das große Jammern und Zähneklappern beginnt. Und je länger die Krise andauert, desto schlimmer wird es.


Sozialabbau und Widerstand

Die Bundesregierung wird in diesem Prozess nur noch die von der Krise und der eigenen Ideologie Getriebene sein. Insgesamt klafft zwischen den projektierten Ausgaben der öffentlichen Hand und deren Einnahmen in den Jahren 2009 bis 2013 eine Lücke in Höhe von 511 Mrd. Euro (Sozialismus 10/2009 S.7). Zum Vergleich: die Einnahmen der öffentlichen Haushalte betrugen laut statistischem Bundesamt im Jahr 2008 245,1 Mrd. Euro. Das heißt, dass die Regierung keinerlei finanziellen Spielraum für die aktive Gestaltung der Politik haben wird, zumal der Krieg in Afghanistan vor einer Expansion steht und seine Kosten unkalkulierbar werden könnten. Selbst ihre eigene Klientel wird sie dann nur beschränkt bedienen können. Wenn sie auf keinen massiven Widerstand trifft heißt das, dass der Sozialstaat weitgehend geschliffen wird. Es ist dann damit zu rechnen, dass die Leistungen bei der Bundesagentur für Arbeit und den Krankenkassen massiv eingeschränkt werden. Dass es zu einseitigen Beitragserhöhungen der Sozialversicherungen kommt. Dass die Renten weiter gekürzt werden und dass man mit Privatisierungsmaßnahmen die Krankheits- und Altersvorsorge den Finanzmärkten übergibt. Das alles bei gleichzeitiger massiver Erhöhung der Massen- und Verbrauchssteuern.

Doch so reibungslos wird das allerdings nicht ablaufen. Da wären zuerst einmal die Gewerkschaften, die eine solche Politik bei Strafe ihres Untergangs nicht akzeptieren können. Sie werden die Zerstörung der sozialen Errungenschaften nicht kommentar- und widerstandslos hinnehmen können. Die Frage allerdings ist, wie weit ihr Widerstandswille reicht. Sie sind allesamt nach wie vor auf grenzenlose Sozialpartnerschaft fixiert. Zwar haben Sommer und auch andere Gewerkschafter vor einer schwarz-gelben Koalition gewarnt und eine solche als die denkbar schlechteste Option bezeichnet. Aber Sommer musste noch am Wahlabend betonen, dass er zur Kanzlerin Vertrauen hätte, schließlich hätte sie vor der Wahl erklärt, dass sie den Kündigungsschutz nicht antasten würde. Darüber hinaus sprach er sich für eine produktive Zusammenarbeit mit der neuen schwarz-gelben Regierung aus, wobei er sie allerdings vor einer arbeitnehmerfeindlichen Politik warnte. Auch IG Metallchef Huber ließ von sich hören. "Deutschland ist immer dann gut gefahren, wenn Kooperation und nicht Konfrontation die Politik beherrschte. Gemeinsam mit den Arbeitnehmern müssen jetzt Lösungen gefunden werden für die dringendsten Probleme". Und er kündigte an, dass die IG Metall mit der neuen Regierung die Kooperation suchen werde, auch wenn das aufgrund der Beteiligung der FDP schwieriger werde. Eine Verschärfung von Konflikten zwischen Unternehmern und Beschäftigten unter der neuen Regierungskonstellation erwartet der IG-Metall-Vorsitzende nicht. Er rechne "nicht per se" damit, so Huber auf die entsprechende Frage am Montag nach der Wahl im ZDF-Morgenmagazin. So spricht ein wahrer sozialdemokratischer "Arbeiterführer".

Es mag sein, dass ein Teil der Zusammenarbeitsangebote der Gewerkschaften taktischer Natur sind. Dass sie gemacht werden, um auf dem Verhandlungswege wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Aber war das schon bei den sozialdemokratischen Freunden nicht möglich, so wird es unter der jetzigen Konstellation erst recht nicht möglich sein. Ein Teil der Gewerkschaftsführungen, und dazu gehört auch Huber, hofft darüber hinaus, dass die Krise klassenübergreifend mit der Vernunft der entsprechenden politischen Akteure gesteuert werden kann. So hat beispielsweise Huber auf der besagten Automobilkonferenz der IG Metall durchaus vernünftige Vorschläge gemacht, die die Strukturkrise in dieser Schlüsselbranche zumindest mildern würde. Im Einzelnen soll folgendes geschehen: "Die Errichtung eines öffentlich Beteiligungsfonds für die produzierende Wirtschaft, und die stärkere Ausrichtung des Insolvenzrechts an der Fortführung des Betriebs. Dazu gehört, dass der Staat jetzt massiv in die Bereiche investiert, in denen sich die Zukunft unserer Wirtschaft und Gesellschaft entscheidet. Das sind: Öffentliche Infrastruktur, Bildung, Forschung und Entwicklung, Innovation und ökologischer Umbau".

Und Huber meint weiter: "Deshalb brauchen zukunftsfähige Betriebe der produzierenden Wirtschaft staatliche Absicherung und einen Schutzschirm, wenn es hagelt. Und wir brauchen eine Renaissance einer aktiven Industrie- und Strukturpolitik. Deshalb unser Vorschlag eines Fonds für öffentliche Beteiligungen. Natürlich: Das erfordert enorme Finanzmittel. Deshalb müssen hohe Einkommen und Vermögen wieder stärker zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden. Das geht nur, wenn Steueroasen ausgetrocknet werden. Nicht nur wir sind gefordert. Es ist eine ureigene Aufgabe des Staates, den notwendigen Strukturwandel sozial, demokratisch und ökologisch zu gestalten. Wir können es nicht nur den Unternehmen und dem Markt überlassen. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, zusammen mit den Gewerkschaften, den Industrie-Verbänden und den Unternehmen Zukunftsszenarien zu erarbeiten. Wir wollen nicht nur auf Krisen reagieren, sondern vorausschauend Entwicklungswege gestalten."

Soweit Berthold Huber, Vorsitzender der IG Metall. Die zentrale Botschaft zur Umsetzung seiner "vernünftigen" und staatstragenden Vorschläge ist: wir machen das ganz große "Bündnis für Arbeit". Sozusagen eine klassenübergreifende Arbeitsgemeinschaft auf Staatsebene zur Lösung des Krisenproblems. Huber übersieht allerdings, dass seine Vorschläge teilweise ganz klar die Klasseninteressen der Kapitalisten berühren und er außerdem damit einige heilige Kühe des Neoliberalismus schlachten will. Selbst wenn sich seine Gegner auf seinen Vorschlag einlassen würden, würde nichts dabei herauskommen, wenn er selbst nichts weiter einbringt, als die reine Vernunft der IG Metall.

Denn noch immer ist es so: Rechtsfragen sind Machtfragen und diese klärt man nicht am Verhandlungstisch, sondern auf der Straße. Doch davor hat der Apparat Angst. Unter dem Eindruck der Krise befürchtet man, dass sich mobilisierte Belegschaften nicht mehr steuern lassen. Das aber würde, so meint man in den Führungsebenen, der eigenen Reputation schaden und den gewerkschaftlichen Einfluss in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft mindern. Für die Gewerkschaften gibt es deshalb keine Alternative zur Sozialpartnerschaft. Vielleicht wird aber der Krisenverlauf die Führungen der Gewerkschaften zu einer anderen Einsicht zwingen. Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten Monaten heftige Angriffe auf die Gewerkschaften aus dem Unternehmerlager kommen. Es werden die Kapitalisten sein, die die Sozialpartnerschaft aufkündigen. Mit Sicherheit werden sie versuchen auf breiter Front Tarifverträge auszuhebeln oder auf andere Art die Belegschaften angreifen. Die Forderung der Unternehmer an die neue Bundesregierung, die betrieblichen "Bündnisse für Arbeit" juristisch abzusichern, kommt nicht von ungefähr. Für das Kapital ist die Krise die Chance, mit dem "Sozialklimbim", der sich in den zurückliegenden Jahren angesammelt hat, aufzuräumen. Wenn es dazu kommt, ist nicht zu erwarten, dass die Belegschaften überall die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen ohne Widerstand hinnehmen. Auch die Gewerkschaften, besonders auf den örtlichen Ebenen, werden nicht umhinkommen Gegendruck zu organisieren und Abwehrkämpfe zu führen. Aufgrund der verschärften Krisensituation kommt es auch verstärkt zu Insolvenzen, Betriebsschließungen und Verlagerungen. Man kann davon ausgehen, dass es in manchen dieser Fälle zu spektakuläreren Auseinandersetzungen kommt, die in ihrem Verlauf radikaler sind, als wir es bislang gewohnt sind. Das hat weniger mit dem Willen zum Klassenkampf einer Belegschaft zu tun, sondern eher mit der Verzweiflung der Betroffenen, die eigene Existenz zu verteidigen.

Der Wert solcher Kämpfe ist, dass sich die Betroffenen ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung bewusst werden. Sie nehmen sich selbst als Klasse wahr. Und das ist die Voraussetzung, dass sich Klassenbewusstsein bildet.

In der Vergangenheit gab es verschiedene große Streiks und Betriebsbesetzungen. Zum Beispiel bei Krupp in Rheinhausen, der Betriebsbesetzung der Kalikumpel im Eichsfeld, die Betriebsbesetzung bei LIP in Frankreich oder auch der militant geführte große Bergarbeiterstreik in England. Diese Kämpfe wurden beispielhaft für sozialen Widerstand und Solidarität und hatten Bedeutung über die nationalen Grenzen hinaus.

Wenn solche Kämpfe in einer Krise wie der jetzigen geführt werden, besteht die Chance für eine soziale Widerstandsbewegung, die über die direkt Betroffenen hinausgeht und auch andere Krisenopfer integriert.

Nur eine breite soziale Widerstandsbewegung, die auch die Antiatomkraft- und Friedensbewegung einschließt, kann die Macht aufbauen, die erforderlich ist um die neoliberale Hegemonie zu brechen. Allerdings kann sie sich in ihrer Zielstellung nicht damit begnügen, den abgewirtschafteten kapitalistischen Status quo wieder herzustellen. Es ist unumgänglich in der Bewegung Alternativen zum Kapitalismus zu entwickeln. Das wird nicht leicht werden in einem sozialen Bündnis hierzu Konsens herzustellen. Das gilt insbesondere für die Gewerkschaften. Sommer will, wie er es in einem Interview ausdrückte, die "Renaissance der sozialen Marktwirtschaft" und Huber die "Rückbesinnung auf den rheinischen Kapitalismus westdeutscher Prägung". Diese Positionen zeigen, welche Illusionen man sich in den Gewerkschaftsvorständen immer noch über die aktuellen Zustände macht. Illusionen über den Verlauf und Charakter der Krise und auch über die eigene Rolle die man in diesem Prozess spielt.

Die nächsten Monate werden zeigen, dass es ein Widerstandspotential gibt. Wahrscheinlich wird es seine eigene Dynamik entwickeln. Doch ist kaum anzunehmen, dass bereits Schlussfolgerungen gezogen werden, die über die jetzige Wirtschaftsordnung hinausgehen.

Das kann nur von den schwachen Kräften der Linken geleistet werden. Sie hat keine andere Wahl. Sie muss die Diskussion über Alternativen des Kapitalismus in eine solche Bewegung tragen.


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 166, Winter 2009/2010, S. 1-8
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2010