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ARBEITERSTIMME/200: Rüstungsproduktion und Arbeitslosigkeit in Bremen


Arbeiterstimme, Sommer 2009, Nr. 164
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

"Der Kaiser ging, der Führer ging - die Waffenschmieden blieben"(1)
Rüstungsproduktion und Arbeitslosigkeit in Bremen von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit

Von Jörg Wollenberg


Schon vor dem 1. Weltkrieg hatte sich Bremen mit dem Aufbau einer eigenen Metallindustrie und der Beteiligung an der verspäteten deutschen Kolonialbewegung zu einem Zentrum der deutschen Waffenproduktion entwickelt. Die Bestimmungen des Versailler Vertrages und die Abtretung der Handelsflotte an die Siegermächte versetzten nach Kriegsende nicht nur den Rüstungsproduzenten einen empfindlichen Schlag. Nachdem am 4. Februar 1919 der Versuch einer sozialistischen Neuordnung gescheitert war, ermöglichten die nach der kurzen Weimarer Konjunkturperiode mit Dollarkrediten finanzierten Fusions- und Rationalisierungsmaßnahmen wohl eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Bremer Handels und der Industrie. Aber fehlende Rüstungsaufträge und nachlassende Bauaufträge deutscher Reedereien führten schnell zum Abbau der Belegschaften und zum drohenden Ruin größerer Betriebe wie der Deschimag (AG-Weser). Dennoch gelang es, trotz des Aufrüstungsverbots im profitträchtigen Kriegsschiffbau durch Gründung von Tarnfirmen in diesem Bereich tätig zu bleiben. So gründete z. B. die AG-Weser 1922 zusammen mit anderen deutschen Werften in den Niederlanden ein Konstruktionsbüro für den nach 1918 verbotenen U-Bootbau (Ingenieurskantor voor Scheepsbouw, IvS), das in enger Verbindung zum Reichsmarineamt stand. Die von Ludwig Roselius maßgebend finanzierten Focke-Wulf Flugzeugwerke beteiligten sich ab 1931 an der geheimen Reichswehrfliegerei. Und es ist sicher kein Zufall, dass der für diesen Bereich verantwortliche Konstrukteur Kurt Tank, der spätere Chefkonstrukteur der "Condor" und des "Würgers", zur zentralen Figur im Vorstand von Focke-Wulf nach 1933 wurde.

Die Weltwirtschaftskrise traf Bremen besonders intensiv. 1929 kam es erneut zu Massenarbeitslosigkeit und zur Stilllegung von Betrieben. Dazu ein Zeitzeuge in dem vom Forschungsprojekt angeregten Band "Stell Dir vor, die Werften gehörn uns...", 1983, S. 172:

"Der Norddeutsche Lloyd läutete mit der gleichzeitigen Entlassung von weit über 5.000 der insgesamt 12.000 Werftarbeiter der AG-Weser während der zweiten Hälfte des Jahres 1929 die Weltwirtschaftskrise in der Hansestadt ein. Das Fehlen von Anschlußaufträgen veranlaßte auch die übrigen Bremer Werften zu einer Verringerung der Belegschaften, so daß die Anzahl der Beschäftigten in den wichtigen Bremer Schiffbaubetrieben von März bis Oktober 1929 um 42% abnahm.

Der damals arbeitslose Karl Grobe faßt In einer Rückerinnerung die Folgen dieser Politik so zusammen: "Da ist er, der stolze Luxusdampfer 'Bremen' des Norddeutschen Lloyd. Ein Prachtstück deutscher Schiffbautechnik. Ganz Deutschland ist stolz auf dieses Meisterwerk der Bremer Schiffbauer. Die Presse Jubelt. In unzähligen Artikeln wird jedes Detail dieses Ozeanriesen beschrieben. Die Luxuskabinen! Die Salons! Die Swimming-Pools! Welch ein herrliches Werk haben hier die Werftarbeiter geschaffen! - Und wer berichtet der Nachwelt von den schweren Arbeitsbedingungen, vor allem während des eisigen Winters 1928/29? - Auf den Helgen unter freiem Himmel bei minus 20-30 Grad wird geschuftet! Wer zählt, wie viel Arbeiter Ihr Leben einbüßten, wieviel Verletzungen, wieviel Erfrierungen dieser Riese forderte? - Im Juli 1929 fährt die 'Bremen' die Weser hinunter. Hinaus ins freie Meer. Eine Triumphfahrt, denn gleich auf der ersten Überfahrt nach Nord Amerika holt sie sich das 'Blaue Band des Meeres' (Geschwindigkeitsrekord)! Deutsche Tüchtigkeit! Die Presse Jubelt! - Und zur gleichen Zeit ziehen tausende Werftarbeiter durch das Werfttor zum Arbeitsamt, um sich das 'blaue Band' in der Stempelkarte zu holen..."

Zusätzlich erfolgten in den mit dem Schiffbau eng verknüpften Betrieben der Metall- und Holzindustrie Massenentlassungen; so reduzierten verschiedene Betriebe des Holzgewerbes Ihre Belegschaft um 20% bis 45%, die konjunkturelle Abwärtsbewegung dehnte sich auch auf andere Sektoren aus: die Hansa-Lloyd-Werke verringerten den Bestand Ihrer Arbeiter um etwa 45%, die Lloyd-Dynamo-Werke um etwa 15% und die Francke-Werke sogar um 60%. Im Dezember 1929 waren 23% aller Arbeiter des Stadt- und Landgebietes Bremen arbeitslos."

Karl Grobe, Vorsitzender der Bremer Jungsozialisten und Kritiker der von der SPD tolerierten Politik der Aufrüstung und Notverordnungen der damaligen bürgerlichen Koalitionsregierungen ("Kinderspeisung statt Panzerkreuzer") übernahm mit dem oppositionellen Kommunisten Adolf Ehlers ab 1931 den Vorsitz der für Frieden und Abrüstung eintretenden Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Vergeblich forderten sie SPD und KPD zur Bildung einer proletarischen Einheitsfront gegen den Faschismus auf. Öffentliche Arbeitsbeschaffung und den "Freiwilligen Arbeitsdienst" (FAD) lehnten sie gemeinsam mit der KPD als Ausweg aus der Krise ab.

Auch die in Bremen vom Senat intensiv geförderten staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen konnten nichts daran ändern, dass 1932 die Arbeitslosen die Zahl von über 40.000 im Krisenjahr der Republik von Weimar überschriften. Nicht wenige Vertreter von Handel und Industrie plädierten in Bremen für die Deutschnationalen der DNVP von Hugenberg und Papen. Sie setzten zugleich verstärkt auf die faschistische Diktatur, weil diese mit Rüstungsaufträgen nicht nur einen Ausweg aus der Krise versprach, sondern damit auch Ersatz für die zu erwartenden Schwächung des Außenhandels.

Durch Kapitaltransfer in die Rüstungsbetriebe gelang es den Großkaufleuten, alsbald die sinkenden Handelsprofite auszugleichen. Eng mit dem Staatsapparat verzahnt forderten sie spätestens ab 1932 die "Zerschlagung des Marxismus" und die Errichtung einer "nationalen Diktatur". In dem von der Handelskammer verbreiteten öffentlichen "Bekenntnis des bremischen Kaufmanns zur neuen Regierung" vom 27. März 1933 heißt es u.a.: "Was den Bemühungen patriotischer Kreise ... in der Kriegszeit nicht gelungen ist, was die Besten in den folgenden 14 Jahren unter ständigen Demütigungen erhofft haben, ist von dem jetzigen Reichskanzler Adolf Hitler in langem zähen Ringen erreicht worden".

Die Hoffnungen erfüllten sich. Denn Bremen zählte spätestens mit der Proklamierung der deutschen Wehrhoheit ab 1935 zu den wichtigsten Rüstungsschmieden in Deutschland, im Flugzeugbau ebenso wie im Schiff- und Militärfahrzeugbau. Aber auch in anderen Rüstungsindustrien, besonders im Stahlbau mit der der Herstellung von Vanadin-Edelstahlherstellung und Edelstahlbohrspitzen für Rüstungszwecke durch die zum Krupp-Konzern gehörende Norddeutsche Hütte (nach 1945 Klöckner-Werke, heute ArcelorMittal). Schon im März 1934 hatte Bürgermeister Markert mitgeteilt, dass die Deschimag (AG-Weser) für den zum Konzern gehörenden Weser-Flugzeugbau "nunmehr auch vom Reichswehrministerium Aufträge für Flugzeugbau in Lizenz erhalte und bereit sein würde, nötigenfalls auch anderen Bedarf für Militärzwecke herzustellen". Das gelang der Werftleitung 1935 mit der Übernahme umfassender Marineaufträge. Auch die Atlas-Werke hatten damit schon 1934 Erfolg. Und die Hansa-Lloyd Automobilwerke (ab 1938 C.F.W. Borgward) beteiligten sich ebenfalls ab 1934 mit der Entwicklung von Halbkettenfahrzeugen an der noch verbotenen Aufrüstungspolitik des NS-Systems.

Anders als in der propagandistischen Selbstdarstellung aus dem Jahre 1935 spielten Arbeitsdienst und Autobahnbau eine geringe Rolle bei dem Abbau der Beschäftigungskrise in Bremen. Vielmehr war es der steigende Arbeitsbedarf in den Rüstungsbetrieben, der 1935 den hohen Beschäftigungsbestand von 1928 wieder erreichte. Trotz der durch den Krieg erzwungenen Einstellung des für Bremen so wichtigen Überseeverkehrs gelang es der Bremer Kaufmannschaft und dem Großbürgertum in Verbindung mit dem Senat und alt gedienten Spitzenbeamten des Finanz- und Wirtschaftsapparates, die Rüstungsproduktion um die Erschließung eines neuen profitträchtigen Betätigungsfeld zu ergänzen: der Beteiligung an der Ausplünderung der besetzten oder mit dem "Dritten Reich" kollaborierenden Länder und Staaten, besonders in Südost- und Osteuropa, vor allem in besetzten Teilen der Sowjetunion.


"Wirtschaft ohne Nazis" nach 1945?

Die Lieferanten für Heer, Marine und Luftwaffe durften sich nach einer kurzen, von den alliierten Militärregierungen mit dem Gesetz Nr. 8 vom 26. September 1945 verordneten Zwangspause am Wiederaufbau beteiligen. "Auferstanden aus Ruinen" beteiligten sich - nach der mit der Westintegration verbundenen und nicht nur in Bremen umstrittenen Remilitarisierung der BRD - die Nachfolger der nach 1945 zunächst zur Demontage verpflichteten alten Rüstungsschmieden Focke-Wulf, Weser-Flug, Atlas-Werke, Klatte, Borgward, die AG "Weser" oder die Norddeutsche-Hütte mit ihren in der Regel "entnazifizierten", jederzeit und jedermann dienstwilligen Eliten erneut an der Rüstungsproduktion.

Mit Unterstützung des Senats gelang es in den fünfziger Jahren, die traditionellen Rüstungsbetriebe, Automobilwerke, Werften und Flugzeugindustrie, an der militärischen Fertigung wieder zu beteiligen und ihren alten Platz als Rüstungsproduktionsstätten wieder einzunehmen. Die sachlichen und personellen Kontinuitäten in diesem Bereich sind mehr als frappierend. Ähnlich wie nach dem 1. Weltkrieg wurde das Produktionsverbot in der Militärluftfahrttechnologie durch Kooperationspartner im Ausland abgesichert. Wehrwirtschaftsführer Kurt Tank hatte sich zum Beispiel 1947 mit wichtigen Bauunterlagen des Stahljägerprojektes und dem größten Teil seines Entwickiungsteams nach Argentinien abgesetzt. Ebenfalls Henrich Focke, der in Brasilien die Fertigung von Militärhubschraubern leitete. Beide hielten den Kontakt nach Bremen aufrecht, u. a. zum früheren Weser-Flug-Direktor Feilcke, dem "spiritus rector des neuen Bremer Flugzeugbaus" (Pfliegensdörfer), aber auch zu Borgward, zu Krupp und zur neuen Bundesregierung.

Der von Hitler wegen seiner "großen Verdienste... um die zivile Luftfahrt und erst recht um die deutsche Luftwaffe" 1943 zum Professor ernannte Tank unterbreitete u.a. Anfang der fünfziger Jahre der Bundesregierung Pläne für den Aufbau einer westdeutschen Flugzeugindustrie. Parallel dazu liefen die organisatorischen Vorbereitungen für den Beginn der durch den Kalten Krieg und die Westintegration zu erwartenden Wiederaufnahme der Rüstungsproduktion in Bremen.

In der zu fast 60 Prozent zerstörten Stadt stellten die nicht gänzlich zerbombten Rüstungsbetriebe wie Klatte oder Atlas nach Kriegsende zunächst Haushaltsgeräte und sanitäre Einrichtungen her. Bald darauf wurden bei Klatte oder den "Atlas-Werken" nicht mehr Stahlhelme in Kochtöpfe umgewandelt. Die Verpflichtung zur "ausschließlichen Friedensproduktion" und zur Demontage konnten die Unternehmensvertreter teilweise mit Hilfe des Senats und durch Beschlüsse der Bürgerschaft unterlaufen.

Exemplarisch verweisen wir auf die Verhandlungen der Bürgerschaft zu Theodor Klaue (Bürgerschaftsprotokoll, 1946, S. 130ff.) und auf die Erklärung von Wirtschaftssenator Wilhelm Harmssen, bis 1945 neben dem Kunstmäzen Blaum Direktor und Vorstandsmitglied der Atlaswerke, zu den einschneidenden Folgen der Demontage für die industriellen Entwicklung Bremens am Beispiel der AG-Weser (Bürgerschaftsprotokoll 30.10.1947). Der zum Krupp-Konzern gehörende Rüstungselektronikspezialist Atlas konnte seine Erfahrungen in der militärischen Fertigung nach 1945 auf den zivilen Sektor übertragen. Die Echolote für die U-Boote der Marine wurden für zivile Zwecke weiter entwickelt, zum Beispiel für den Fischfang oder als Solaranlagen. In den achtziger Jahren kamen alle nach dem 2. Weltkrieg mit Solaranlagen ausgestatteten U-Boote der Bundesmarine aus Bremen. Auch der neue Luftfahrzeugbau-Konzern MBB (früher VFW) übernahm wieder eine Vorreiterrolle. Nach Tanks Pionierleistungen mit dem Bau des viermotorigen Langstreckenflugzeugs Condor, das 1938 als erste Passagiermaschine den Atlantic nonstop überquerte, und dem in 25.000 Einheiten gefertigten Jagdflugzeug FW 190 "Würger" von 1939 produziert der Konzern seit den achtziger Jahren das teuerste Spielzeug der Bundeswehr: den MRCA-Tornado als Nachfolger für den verunglückten Starfighter.

Der nach der Korea-Krise einsetzende Kriegsschiffbau machte auch die Bremer Schiffbauer zu den Nachkriegsgewinnern: mit der Herstellung von Schnellbooten, Fregatten und U-Booten. Wie schon 1933 sahen die Unternehmer nach 1945 in der Waffenfertigung ein profitables Geschäft. Ehemalige Wehrwirtschaftsführer konnten sich daran wieder beteiligen, weil es den Hitler-Förderern von Ludwig Roselius über Carl F. Borgward und Robert Kabelac (Vulkan) bis zu Franz Stapelfeldt (AG-Weser) auch mit Hilfe des Senats gelang, sich als Männer der inneren Emigration oder gar als Widerstandskämpfer zu deklarieren.

Der von der US-Militärregierung eingesetzte öffentliche Kläger ging in Bremen von 470 Hauptschuldigen aus. In der Spruchkammer waren es nur noch 40 (8.5%) und nach der Berufung blieben lediglich 25 übrig. Darunter befanden sich kein Politiker oder Wirtschaftsführer, nur noch "Kriminelle" und der Landesbischof von Bremen. Dazu wurden auch die KZ-Wächter aus Mißler und Ochtumsand gezählt, ebenso die Beteiligten am Judenpogrom in Bremen. Nicht aber der vor dem Nürnberger Militärgerichtshof im Einsatzgruppen-Prozess als Kriegsverbrecher verurteilte ehemalige Leiter der Bremer Gestapo Erwin Schulz, der als 55-Brigadeführer und Generalmajor zum Chef des Amtes I (Personal.) im RSHA aufstieg und mit den Einsatzgruppen am Massenmord im Osten beteiligt war. Selbst dieser "Hauptschuldige" wurde nach einer Intervention von Alfred Faust aus der Haft befreit.

Was waren die heute kaum noch nachzuvollziehenden Gründe, die den einstigen antifaschistisch gesinnten Chefredakteur der Bremer Volkszeitung und Reichstagsabgeordneten der SPD nach 1950 als Pressesprecher des Senats veranlassten, trotz seiner KZ-Haft in Mißler den Präsidenten des Senats, Bürgermeister Kaisen (SPD), und den Senator Ehlers (KPD/SPD) zu bitten, Schulz aus dem Zuchthaus für Kriegsverbrecher in Landsberg frei zu pressen. "Als ehrenwerter, geradliniger und charakterfester Mensch" (so Schulzens Selbstdarstellung von 1954) erhielt dieser verurteilte Hauptkriegsverbrecher nach seiner vorzeitigen Entlassung seine Bremer Dienstbezüge und bis zu seiner Pensionierung ein Übergangsgeld. Von seiner Entschädigung für die Kriegsgefangenschaft konnte Schulz sich schuldenfrei und unbelästigt in Bremen wieder einrichten.(2)

Ist dieser unglaubliche Vorgang Teil jener "Traditionspflege" von Kaufmannschaft und (mehrheits-)sozialdemokratischer Arbeiterbewegung, die schon dazu beitrug, die Bremer Räterepublik am 4. Februar 1919 zu zerschlagen? Ein Bündnis, das sich in politischen Grundsatzfragen nicht nur zu Kompromissen mit dem Bürgertum verpflichtete, sondern als Arbeitsgemeinschaft mit der Kapitalfraktion nach 1945 die Bereitschaft voraussetzte, sich mit ehemaligen Kooperationspartnern des NS-Systems zusammen setzen zu müssen. Ein politisches Konzept, das angesichts der zunächst von Teilen der SPD mit getragenen starken Antifa-Organisation (KgF) mit ihrem antikapitalistischen Konsens bedeutete, Abschied zu nehmen von den in der Länderverfassung durchgesetzten Sozialisierungsforderungen und der Ablehnung der Rüstungsproduktion durch die Bremer Arbeiterbewegung. Eine politische Grundhaltung, mit der die Entnazifizierung zur Farce vorkommen musste. Erst die in den achtziger Jahren langsam einsetzende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ließ erste kritische Nachfragen zum Bremer Handelskapital und zu den Rüstungsindustriellen zu, die das NS-System stützten und förderten.

Umso mehr musste es verwundern, dass trotz der vom sozialdemokratischen Senat tolerierten Wende - mit den zahlreichen kritischen Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Machtübertragung an die NSDAP - Hans Koschnick als Präsident des Senats ausgerechnet am 1. September 1983 verkündete, "durch Bundeswehraufträge die bremische Wirtschaft zu beleben"? Er wolle sich dafür einsetzen, "dass entsprechende Beschaffungsaufträge der Bundeswehr nicht an der bremischen Wirtschaft vorbeigehen". Und das im Krisenjahr seiner Tätigkeit mit der Schließung der AG Weser und angesichts von über 10.000 Menschen, die 1983 auf dem Marktplatz am Antikriegstag für Frieden und Abrüstung demonstrierten.

Sicher konnte der Bürgermeister davon ausgehen, dass angesichts der Beschäftigungs- und Entlassungskrise in der Werftenindustrie auch die Mehrheit der Metaller dem Beschluss des Vorstands nicht mehr folgen würden, Beteiligungen an Rüstungsproduktionen abzulehnen. Einmal ganz davon abgesehen, dass sich nur noch wenige an 1947/48 erinnerten. Damals gehörte der Stadtstaat Bremen zu den Ländern, deren Verfassungsväter und -mütter bei der Abrechnung mit der NS-Vergangenheit noch von einer antikapitalistischen Umgestaltung ausgingen. So sah der Verfassungsentwurf der SPD vor, die Schlüsselbetriebe und ehemaligen Rüstungsfirmen unverzüglich in Gemeineigentum zu überführen und das volle Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte abzusichern. Diejenigen, die sich als Minderheit mit dem "Arbeitskreis der Bremer Arbeiterveteranen" daran erinnerten, antworteten auf die Rüstungsinitiative des Senats von 1983 mit einer Abrüstungsinitiative: "Für den Frieden produzieren - Alternative Fertigung statt Arbeitsplatzabbau und Aufrüstung" - als Arbeitshilfe für betriebliche Arbeitskreise, Friedensinitiativen und die gewerkschaftliche Arbeit. (vgl. die Broschüre der von Jörg Huffschmid und Dieter Pfliegensdörfer geleiteten Arbeitsgruppe Abrüstung an der Universität Bremen, 1984, 541ff.) Und kritische IG Metall-Kollegen von MBB-Bremen (Messerschmidt-Bölkow-Blohm GmbH) luden am 31. August 1984 zu einer Ausstellungseröffnung in die Zionsgemeinde (Kornstr.) ein: "Vom Würger zum Tornado. 60 Jahre Flugzeugbau in Bremen von unten betrachtet von IG-Metall-Kollegen bei MBB-Bremen"; gefördert und unterstützt von einem breiten Bündnis von Vertrauensleuten und Betriebsräten, der Arbeiterkammer, dem Arbeitskreis der Bremer Arbeiterveteranen, der Abrüstungsinitiative Bremer Kirchengemeinden und - last not least - dem Senator für Wissenschaft und Kunst.


Postskriptum: "They will do it again"

Und vergessen wir angesichts des 32. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Bremen nicht, darauf hinzuweisen, dass trotz aller Hoffnungen auf ein neues demokratisches Deutschland auch die "Deutschen Christen" - nicht nur in Bremen um den Domprediger Heinz Weidemann (1895-1976), der als NS-Landesbischof die "Glaubensbewegung Deutsche Christen" als "braunen Stoßtrupp" innerhalb der reformierten Kirche definierte und nach 1945 als "Hauptschuldiger" eingestuft wurde -, sich in den ersten Nachkriegsjahren einer Aufarbeitung ihres Sündenfalls von 1933 verweigerten. Dagegen machte sich die "Bekennende Kirche" auf dem Weg, den Anpassungskurs von 1933 zu kritisieren - in Anlehnung an die "Barmer Theologische Erklärung" von Karl Barth und Hans Asmussen aus dem Jahre 1934. Aber das Stuttgarter Schuldbekenntnis von Pastor Martin Niemöller, der sich als Häftling im KZ Dachau vom Militaristen zum entschiedenen Friedenskämpfer gewandelt hatte, fand lange Zeit wenig Unterstützung. In Bremen freilich gehörten einige Pastoren in der Traditionspflege von Albert Kalthoff, Emil Felden oder Gustav Greiffenhagen bald zu denen, die den Frieden als Konsequenz der christlichen Botschaft verstanden und die deshalb zu Kooperationspartnern der Bremer Friedensbewegung wurden.

Aber auch sie mussten zur Kenntnis nehmen: Das von Gustav Heinemann, dem einstigen innenpolitischen Gegner von Adenauers Politik der Wiederaufrüstung und späteren Bundespräsidenten, mitgeprägte Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 18. Oktober 1945: "wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt haben" gab nicht nur den Gegnern, sondern auch den Freunden die Gelegenheit, die eigene Verantwortung mit der "Schuld der anderen" aufzurechnen. Die Diffamierung der "Schuldbesessenen" begann. Sie kulminierte das erste Mal im Januar 1946 in Erlangen, als Studenten es ablehnten, von Niemöller das Schuldbekenntnis anzuhören. Sie vertrieben ihn aus der Universitätsstadt, der einstigen braunen Hochburg nicht nur der Theologen.

Zum gleichen Zeitpunkt gaben Hakenkreuzschmierereien an Gymnasien in Hannover und Detmold den Anlass zu einer kritischen Intervention des einstigen preußischen Kultusministers und Widerstandskämpfers Adolf Grimme, Der damalige niedersächsische Kultusminister erklärte als ehemaliges Mitglied der lange als vaterlandslose Gesellen diffamierten "Roten Kapelle": "Wäre die Besatzungsarmee nicht im Lande - ich möchte schon heute die Zahl der Rathenau-Morde nicht sehen." (Januar 1946). Ein Jahr danach zerstörte am 9. Januar 1947 eine Bombe das Büro der Spruchkammer in Nürnberg. Sie war gegen den Vorsitzenden des Nürnberger Entnazifizierungsgerichtes und Landgerichtspräsidenten Camille Sachs gerichtet, der noch einmal davonkam.(3) Ansonsten erwies sich gerade diese Entnazifizierung, die die Alliierten 1946 in deutsche Hände legten, als "Geburtsfehler der deutschen Demokratie" (Eugen Kogon). Nicht als Teil einer gesellschaftlichen Umgestaltung, sondern als Prozess personeller Säuberung mit dem Charakter eines Inquisitionsverfahrens und der Gesinnungsschnüffelei endete der intendierte Selbstreinigungsprozess der Deutschen in den Westzonen. Der verurteilte Mitverschwörer am Rathenau-Mord, Ernst von Salomon, konnte mit einer Farce der Entnazifizierung seine Nachkriegskarriere als Erfolgsschriftsteller krönen (Fragebogen, 1951). Viele Deutsche empfanden sich schon damals als Opfer. Die ungeheuer einprägsame Formel, die Deutschen seien "Hitlers Opfer" gewesen, gewann in den Zeiten der Entnazifizierung einen unschätzbaren Gebrauchswert für ehemalige Rüstungsindustrielle, für Täter, Gefolgsleute und Mitläufer des "Dritten Reiches".

Aber nicht nur diese konnten sich und ihr Verhalten so von jeglicher Schuld entlasten. Auch Nicht-Belastete nutzten diese Entlastungsstrategien der "Entsorger". Der Dachau-Häftling und erste Nachkriegsvorsitzender der SPD, Kurt Schumacher, behauptete z.B. auf dem Hannoveraner SPD-Parteitag von 1946, der bewaffnete Widerstand sei in Deutschland so schwach gewesen, weil hier der Druck des Naziterrors "unvergleichlich stärker war als anderswo". Stärker als z.B. in Polen oder der UdSSR? Der aus dem USA-Exil zurückgekehrte Antifaschist Alfred Kantorowicz, der von 1947-1949 in Berlin die zwischen den Zonen vermittelnde Zeitschrift "Ost und West" herausgab, bezeichnete das NS-System als "braune Besatzungsarmee auf deutschem Boden". Und Erich Kästner notierte am 8. Mai 1945 in sein Tagebuch: Deutschland ist das "von Hitler zuerst und am längsten besetzte und gequälte Land gewesen" (Notabene 45, Frankfurt/M. 1965, S. 115).

Nein, die "Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit" (Thomas Mann am 10. Mai 1945 zum Tag der bedingungslosen Kapitulation), die Wiederaufnahme in die Gesellschaft anderer Nationen, war für viele Deutsche keine Frage der Moral und des Eingeständnisses der Schuld.

Dazu waren nur wenige bereit, die "aus der unglaublichen Gunst einer totalen Niederlage heraus die Kraft zur totalen Wandlung" (Alfred Andersch) fanden. Es setzten sich dagegen jene Vertreter durch, die nach der militärischen Niederlage von 1945 Hitler als Übermächtigen verteufelten, um so die eigene Verantwortlichkeit zu reduzieren. Während nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg die Vergangenheit verklärt wurde, gelang es den Relativierern nach dem "Zusammenbruch" von 1945, die Vergangenheit zu dämonisieren und Hitler zum Betriebsunfall zu erklären. So konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, schreibt Heinrich Senfft in seinem Essay über "Kein Abschied von Hitler", dass "diejenigen - also fast alle - die sich rabiat gegen den Gedanken an eine Schuld oder gar eine Kollektivschuld wehrten, dieselben oder von der gleichen Machart waren, wie jene, die nach 1918 gegen die 'Kriegsschuldlüge' gekämpft und die 'Dolchstoßlegende' verbreitet hatten".(4)

"Das Jahr Null hat es nie gegeben", schrieb der Amerikaner Brewster S. Chamberlain in seinen Berliner Berichten von Juli bis Dezember 1945. Und der langjährige Finanzminister von Franklin D. Roosevelt argwöhnte schon 1944 in seinem mit Unterstützung prominenter deutscher Exilvertreter aus den Kreisen der Gewerkschaften und der Frankfurter Schule um Franz L. Neumann, Ernst Fraenkel, Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse entwickelten Plänen zur Nachkriegsordnung Deutschlands: "They will do it again." Dieser Henry Morgenthau, der noch vor der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 als Minister zurücktrat, vertraute nicht auf eine Umerziehung der Deutschen. Es sei eher wahrscheinlich, dass die Besiegten erlittene Verwüstungen und künftigen Mangel den Besatzern und ihrer demokratischen Philosophie ankreiden würden. Deshalb schlug er vor, Deutschland zu reorganisieren und in einen nord- und einen süddeutschen Staat aufzuteilen. Das erweiterte Ruhrgebiet sollte dagegen internationalisiert werden. Dieser nie ausgeführte Plan mit der Demontage des Ruhrgebiets als Kern - "Hitler hätte eine Witzfigur bleiben müssen, wenn Krupp und Flick und Hugenberg nicht gewesen wären. Allein die Schwerindustrie erlaubte einen Mann, der für die Slapstickkomödie geboren schien, in Wagnerische Tragödien einzuziehen", konstatierte der Sohn badischer Einwanderer 1944 - dieser Morgenthau-Plan wird seitdem stets mit Abscheu zitiert. Denn vor diesem Versuch eines "industrial disarmament" - der industriellen Entwaffnung Deutschlands - erschrak selbst der britische Premierminister Winston Churchill am 15. September 1944 in Quebec/Kanada aus Anlass der Unterzeichnung dieses Vorschlags zur Lösung der deutschen Frage: "Der Plan des Finanzministers würde England an einen Leichnam ketten". Und Goebbels geschickte Interpretation des Morgenthau-Planes als eine Umwandlung Deutschlands in einen Kartoffelacker bestimmt bis heute noch äußerst wirkungsvoll das Bewußtsein der Deutschen. "Seit dieser Zeit wird der 'Morgenthau-Plan' einem 'jüdischen Racheengel' zugeschrieben, der Deutschland habe 'agrarisieren' und in die 'Steinzeit' zurückführen wollen", konstatiert Bernd Greiner zu dieser zählebigen Legende einer intendierten Stunde Null, die keine wurde.

So wurde aus dem Versuch, ein besseres, neues Deutschland durch die Entmilitarisierung und kompromisslose Neugestaltung des wirtschaftlichen Lebens zu schaffen, die Verkörperung des Deutschenhasses. Dabei hatte der Finanzminister sich lediglich darum bemüht, wie US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Vorwort zu Morgenthaus Buch "Germany is our Problem" festhielt, die deutsche Industrie mittelfristig zu kappen und zu zähmen. Andernfalls würde sie alsbald wieder ganz Europa beherrschen und zum nächsten Waffengang rüsten. Helm auf zum nächsten Gefecht, sollte es denn auch bald wieder heißen. Das "Programm to prevent Germany from starting a World War III" verschwand dagegen schnell in den Schubladen der Westalliierten.(5)


Anmerkungen:

(1) So der Titel einer Broschüre der Arbeitsgruppe Abrüstung an der Universität Bremen von 1984, entstanden u.a. aus meinem Lehr- und Forschungsprojekt Arbeiterbewegung und Arbeiterbildung in Bremen von 1905-1952. Einige der wichtigsten Buchtitel von Mitarbeitern des Projektes, auf die ich im folgendem zurückgreife: Dieter Pfliegensdörfer, Vom Handelszentrum zur Rüstungsschmiede. Wirtschaft, Staat und Arbeiterklasse in Bremen 1929-1945, Bremen 1986; Wollenberg, Heer-Kleinert, Müser, Pfliegensdörfer, Von der Krise zum Faschismus. Bremer Arbeiterbewegung 1929-1933, Bremen 1983; Vom Handelszentrum zur Rüstungsschmiede. Katalog zur Schlachthofausstellung 1983 als gemeinsame Arbeit von Studenten und Mitarbeitern des oben genannten Lehr- und Forschungsprojektes in Kooperation mit Mitarbeitern und Studenten der damaligen Hochschule für gestaltende Kunst und Musik; weiter: Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens, Heft 5, 1983, Teil 1: Zwangsarbeit, Rüstung, Widerstand 1931-1945; "Vom Würger zum Tornado" 60 Jahre Flugzeugbau in Bremen von unten betrachtet von IG Metall-Kollegen bei MBB-Bremen, 1984. Das Projekt einer mehrteiligen Rundfunksendung von Radio Bremen zum 50. Jahrestag der Machtergreifung wurde ebenfalls von Mitarbeitern des Forschungsprojektes bestritten. Außerdem kamen regelmäßig im Gewerkschaftshaus der "Arbeitskreis der Bremer Arbeiterveteranen" zu Wort, die als Widerstandskämpfer gegen das NS-System die Wiederaufrüstung in den fünfziger Jahren entschieden bekämpften und das lebendige Gewissen der Bremer Arbeiterbewegung repräsentierten. (vgl. dazu die Filmreihe "Bremer Arbeiterbiographien als "ganzheitliche" Lebensgeschichten von P. Alheit, H.G. Hofschen, I. Gerstner und J. Wollenberg, wie auch den Band über Käthe Popall. Geschichte erzählt: Bremer Arbeiterbiographien, 1985.

(2) Zu diesem Fall, der exemplarisch steht für die gescheiterte Entnazifizierung in Bremen - und nicht nur hier - vgl. Michael Wildt, Generation der Unbedingten 2002, S. 779-784 und die Fallstudie zu Erwin Schulz von Karl Schneider in seiner demnächst erscheinenden Arbeit über die Bremer Polizeibataillone. Dazu auch Hans Heese, Konstruktion der Unschuld. Die Entnazifizierung am Beispiel von Bremen., Bremen 2005

(3) Vgl. Christoph Klessmann: Doppelte Staatsgründung, Göttingen 1982, S. 96/97; Jörg Wollenberg: 8. Mai 1945. Neugeordneter Wiederaufbau oder verhinderte Neuordnung, Bremen 1985, S. 27ff, 196ff; Norbert Frei, Hitlers Eliten nach 1945, München 2003.

(4) Senfft, Heinrich: Kein Abschied von Hitler. Ein Blick hinter die Fassaden des Kalten Krieges, 1990, S.18

(5) Vgl. zu diesem Komplex die Arbeit von Bernd Greiner: Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenes Plans, Hamburg 1995. Zur weiteren Entwicklung: Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996)


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 164, Sommer 2009, S. 27-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2009