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ANALYSE & KRITIK/356: Life in Limbo? - Nach der Krise hängt die Welt in der Schwebe ...


ak - analyse & kritik - Ausgabe 546, 22.01.2010

Life in Limbo?
Nach der Krise hängt die Welt in der Schwebe ...


Der Limbus ist ein alter katholischer Nicht-Ort. Als äußerster Kreis der Hölle sammel(te)n sich hier die Seelen, denen - unverschuldet - der Weg in den Himmel versperrt ist. Ob es von dort weiter geht (und wie und wohin), ist nicht bekannt. Heute scheint der Limbus im Diesseits zu liegen. Die Welt hängt in der Schwebe. Die alten Linien sind verschwunden oder verschwommen, die künftigen Konturen noch nicht erkennbar. Das Redaktionskollektiv der turbulence, die der letzten ak-Ausgabe beilag, hat versucht, die Bodenverschiebungen zu beschreiben und das Land in einer ersten Skizze neu zu vermessen. Die englische Originalversion des von Angelica Seyfrid übersetzten Textes "Life in Limbo?" ist nachzulesen auf turbulence.org.uk


Wir hängen in der Schwebe, es geht nicht vor und nicht zurück. Seit mehr als zwei Jahren wird die Welt von einer Serie zusammenhängender Krisen erschüttert. Nichts deutet auf deren baldige Lösung hin. Die ideologischen Gewissheiten des Neoliberalismus sind zusammengebrochen. Und doch scheinen wir unfähig, etwas Neues zu erschaffen. Die Krisen haben hier und dort zu wütenden Protesten geführt, aber daraus ist keine gemeinsame und zusammenhängende Reaktion entstanden. Ein allgemeines Gefühl von Frustration kennzeichnet die Versuche, aus dem Morast einer scheiternden Welt zu entfliehen.

Eine allgemeine Krise des Glaubens an die Zukunft lässt uns nur die Aussicht auf eine endlose, sich verschlechternde Gegenwart, die kraft schierer Trägheit ausharrt. Trotz all des Aufruhrs - um die "Krise", in der es so aussah, als werde sich alles verändern - scheint es paradoxerweise so, als sei die Geschichte zum Stehen gekommen. Niemand kann oder will sich dem Ausmaß der Krise stellen. Individuen, Konzerne und Regierungen haben den Kopf eingezogen in der Hoffnung, den Sturm zu überstehen, bis die alte Welt in zwei oder drei Jahren wieder zum Vorschein kommt. Doch wer sich eine wirtschaftliche Erholung herbeiwünscht, missversteht eine epochale Krise als eine zyklische; solche Wünsche sind allenfalls blauäugige Reklame. Ja, astronomische Geldsummen haben den totalen Zusammenbruch des Finanzsystems verhindert. Aber die Rettungsaktionen wurden benutzt, um Wandel zu verhindern, nicht ihn in Gang zu setzen. Wir hängen in der Schwebe.


Die Krise des alten middle ground

Aber irgendwas ist doch passiert. Erinnern wir uns dieser schreckenerregenden und doch aufregenden Tage, die im Spätjahr 2008 begannen, als alles so schnell ging, als die alten Dogmen wie Herbstlaub von den Bäumen fielen? Diese Tage waren keine Illusion. Dinge veränderten sich: die vielfach bewährten Handlungsweisen, gut einstudiert nach beinahe 30 Jahren globalen Neoliberalismus, begannen zu scheitern. Alte Überzeugungen ergaben keinen Sinn mehr. Es gab einen Wechsel in dem, was wir die Mitte (middle ground nennen: diejenigen Diskurse und Praktiken, die das Zentrum des politischen Feldes definieren.

Sicherlich ist die Mitte nicht alles, was es gibt. Doch sie ist das, was den Dingen in der sie umgebenden Welt jeweils größere oder geringere Bedeutung zuweist, ihnen Wert oder ihre Marginalität bestimmt. Sie stellt ein relativ stabiles Zentrum dar, an dem alles andere gemessen wird. Je weiter entfernt von der Mitte eine Idee, ein Projekt oder eine Praxis steht, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie übergangen, öffentlich diskreditiert, disqualifiziert oder unterdrückt wird. Je näher an ihr, desto mehr besteht die Chance, dass sie eingebunden wird - was sie im Gegenzug mehr oder weniger verändert.

Eine solche Mitte wird nicht "von oben" definiert, wie in den Albträumen bekannter Verschwörungstheorien. Sie entsteht aus einer Vielzahl von Praktiken, die so miteinander verflochten sind, dass sie sich individuell und als Ganzes gegenseitig verstärken. Je mehr sie sich "von unten" zu einer Mitte vereinheitlichen, desto mehr gewinnt diese Mitte die Fähigkeit, das diskursive Feld wiederum "von oben" zu organisieren.

In diesem Sinne begann die Entstehung des "Neoliberalismus" lange bevor er als solcher überhaupt benannt wurde. Der Moment, in welchem er benannt wurde, war dennoch ein qualitativer Sprung: der Punkt an dem relativ unverbundene Richtlinien, Theorien und Praktiken als ein Ganzes identifizierbar waren.

Das Benennen von Dingen wie Thatcherismus in Großbritannien oder Reaganismus in den USA markiert einen solchen Punkt für Formen, deren Entstehung sich bereits seit geraumer Zeit angedeutet hatte und die daraufhin drei Jahrzehnte lang die Mitte dominierten: der Neoliberalismus, seinerseits eine Antwort auf die Krise der vorhergehenden Mitte, des Fordismus/Keynesianismus.

Die Ära des "New Deal" und seiner verschiedenen internationalen Äquivalente hatte den Aufstieg einer mächtigen Arbeiterklasse erlebt, die sich an die Idee gewöhnt hatte, dass ihre Grundbedürfnisse durch den Wohlfahrtsstaat erfüllt würden, dass Reallöhne steigen und dass sie jederzeit das Recht auf mehr hatte. Zu Beginn war das neoliberale Projekt im Kern ein Angriff auf diese "anspruchsvolle" Arbeiterklasse und auf die staatlichen Institutionen, in denen der alte Klassenkompromiss eingeschrieben war. Sozialleistungen wurden zurückgeschraubt, Löhne stiegen nicht mehr oder wurden gesenkt, und prekäre Arbeitsbedingungen wurden zunehmend zum Normalzustand.

Jedoch hatte dieser Angriff auch seinen Preis. Der "New Deal" hatte machtvolle Arbeiterbewegungen - Massengewerkschaften - in die Mitte integriert. Mit ihrer Hilfe konnte kapitalistisches Wachstum über längere Perioden hinweg stabilisiert werden. Und er garantierte ausreichend hohe Löhne, die wiederum bedeuteten, dass all der Kram, der - dank Henry Fords Fließband und Frederick Taylors "wissenschaftlichem Management" - von einem plötzlich enorm produktiven industriellen System produziert wurde, auch verkauft werden konnte.

Stück für Stück wurde der Angriff auf die Arbeiterklassen des globalen Nordens ausgeglichen durch niedrige Zinsen (d.h. billige Kredite) und billige Konsumgüter, massenweise produziert in den Regionen der Welt, in denen die Löhne am niedrigsten waren (China). Im globalen Süden wiederum gab es das Versprechen, eines Tages ähnliche Lebensumstände erreichen zu können. In diesem Sinne war die neoliberale Globalisierung die Globalisierung des amerikanischen Traums: Get rich or die trying.

Auch der Neoliberalismus basierte also auf einer Art von Deal. Aber hier bedeutet das Wort etwas anderes: Seine Methode der Anziehung/Vereinnahmung war ganz anders als jene des Fordismus/Keynesianismus. Letzterer beinhaltete sichtbare, organisierte kollektive Kräfte wie Gewerkschaften oder Bauernverbände. Demgegenüber kann der Neoliberalismus mehr als eine Art Übernahme, ein Herauskaufen aus dem ursprünglichen Deal angesehen werden kann, indem er Individuen direkt als Individuen ansprach.

Es war eine Mitte, die aus "abweichenden" Bedürfnissen, Diskursen und Praktiken heraus entstand, welche nach Wegen aus der bestehenden Mitte heraus suchten (die Angst vor zu mächtig gewordenen Gewerkschaften, Unzufriedenheit mit der tristen Einförmigkeit der Dinge, halbstaatliche Praktiken der Korruption, das überregulierte Leben der 1970er Jahre) und als solche sehr viel mit Individualisierung zu tun hatten. Tatsächlich zielte sie darauf ab, eine bestimmte Art von Individuum zu schaffen, einen atomisierten Selbst-Unternehmer, dessen kollektive soziale Bindungen der Suche nach privatem Gewinn untergeordnet werden.


Die Krise des Gemeinsamen

Dieser neoliberale Deal ist mittlerweile null und nichtig; die Mitte ist weggebrochen. Billige Kredite, steigende Immobilienpreise und fallende Grundstückspreise können die stagnierenden Löhne nicht mehr ausgleichen. Die Zeit des Neoliberalismus ist vorbei, aber es hat sich keine neue Mitte gebildet. Niemand hat irgendeinem alternativen Deal "zugestimmt". Deshalb befinden wir uns in der Schwebe.

Wohlgemerkt braucht es nicht notwendigerweise einen "Deal", damit sich eine Mitte herausbilden kann. Eine neue Mitte kann aus einem Deal resultieren, explizit (wie der New Deal der 1930er Jahre) oder implizit (wie im Falle des Neoliberalismus), und sie wird auch stabiler und standfester, wenn das der Fall ist. Aber ein neues Zentrum des politischen Feldes kann auch ohne einen solchen entstehen. Eine Mitte erfordert nicht den Grad von Konsens, den ein Deal impliziert; er ist eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung. Jedoch beinhaltet sie immer einen Prozess von Anziehung und Einverleibung von Kräften, die sie bedrohen könnten, und zwar in dem Maße, wie es von jeder entstehenden Mitte selbst definiert wird.

Einen Deal zu schließen ist ungefähr so, wie nach einem erbitterten Kampf - bewusst oder unbewusst - einem (vorübergehenden) Waffenstillstand zuzustimmen. Aber eine Mitte könnte sich auch während eines andauernden Konfliktes herausbilden. Von unserem aktuellen Blickpunkt ist das nicht zu erkennen. Auf gar keinen Fall können wir jetzt schon voraussagen, wie lang die Kämpfe dauern werden - und wie sie enden werden -, die bestimmen, was zum neuen politischen Alltagsverstand werden wird. Obendrein sind noch nicht einmal die Seiten klar. Wer deine Verbündeten sind, wird eigentlich erst dann klar, wenn der Kampf wirklich beginnt. Also wer wird wen, weswegen bekämpfen? Was wird das Gemeinsame (common ground) der Bewegungen sein in den neuen Kämpfen und in jenen, die wieder aus diesen folgen werden?

Unser Konzept des "Gemeinsamen" ist, wie das der "Mitte", ein theoretisches Werkzeug. Wir benutzen es, um die Überschneidungen und Resonanzen verschiedener Kämpfe, Praktiken, Diskurse, Ziele und Bezüge zu benennen. In der globalisierungskritischen Bewegung war das Gemeinsame das von allen geteilte "Eine Nein" gegen die monopolisierende Logik des Neoliberalismus (zusammen mit der Akzeptanz der "Vielen Jas" - der Vielfalt alternativer Vorstellungen über Ökonomie, Gemeingüter und Gesellschaft). Über viele Jahre konnten sich in dieser gemeinsamen Ablehnung des Neoliberalismus verschiedene Bewegungen treffen und sich als verwandt wieder erkennen, ohne ihre Verschiedenheiten dabei zu verleugnen. Heute bedeutet der Zusammenbruch der Mitte, dass dieses Gemeinsame, das in der Gegnerschaft zu ihr wurzelte, ebenfalls in Scherben liegt.


Vom Wahnsinn zum Mainstream?

Bis vor Kurzem wäre jeder, der die Verstaatlichung der Banken vorgeschlagen hätte, als Scharlatan und Spinner abgetan worden, dem es an jedem Verständnis von Ökonomie und der Funktionsweise einer "komplexen, globalisierten Welt" fehle. Der Griff der "Orthodoxie" war so fest, dass eine solche Idee disqualifiziert worden wäre, ohne dass ein Gegenargument hätte vorgebracht werden müssen. Und doch haben im letzten Jahr Regierungen in der ganzen Welt faktisch große Teile des finanziellen Sektors nationalisiert, während sie zugleich jenen Institutionen, die in privater Hand blieben, schwindelerregende Mengen öffentlichen Geldes zuschanzten.

Vergleichbare Bewegungen in Richtung Mainstream erlebten die Diskurse über den Klimawandel und Gemeingüter (Allmenden). Jeder "ernst zu nehmende" Politiker muss zumindest so tun als sei er besorgt über die globale Erwärmung. Und die Allmende, die lange Zeit nur für die Linke eine Rolle spielte, gehört heutzutage auch zum Vokabular von Intellektuellen und PolitikerInnen des Zentrums. Sie reicht von der wachsenden Anerkennung des "öffentlichen Nutzens", den der Zugang zu billigen Medikamenten oder zu anderem geistigen Eigentum mit sich bringt, über vorsichtig zustimmende Kommentare im Economist bis zur Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Elinor Ostrom für ihre Arbeit über Allmenden. Man könnte fast meinen, dass der Schwerpunkt der öffentlichen Debatte sich nach links verschoben habe.

Jedoch fällt es auf, dass die jüngsten Verstaatlichungen damit gerechtfertigt wurden, dass sie nötig seien, um den Finanzkapitalismus zu retten, und dass sie gerade kein sozialdemokratisches Programm der Umverteilung, geschweige denn eine sozialistische Veränderung darstellten. Ebenso zielt die neue "Grüne Marktwirtschaft", die aktuell auf der offiziellen politischen Agenda steht, darauf, das kapitalistisch-produktivistische Entwicklungsmodell zu erhalten, indem es mit umweltfreundlicheren Energien und Prozessen verbunden wird.

Also hat sich etwas verändert. Aber im Schwebezustand, in dem wir uns derzeit befinden, ist das genaue Ausmaß dieser Veränderung keineswegs deutlich. Versuchen wir also, uns darüber klar zu werden, was sich bisher wirklich getan hat.

Die offensichtlichste Veränderung ist vielleicht die auf der Ebene dessen, was gesagt werden kann - was als gültiges Argument akzeptiert wird, ohne dass die Sprecherin daraufhin in eine nur von rasenden IdeologInnen und Unwissenden bewohnte Wildnis verbannt würde.

Auf dem Höhepunkt ihrer Macht verbannte die neoliberale Ideologie sehr effektiv alles andere Denken, weil sie sich als nichtideologisch ausgab, als schlicht und ergreifend die vernünftige Anwendung der "Wissenschaft" vom Nutzen. Heute jedoch ist es möglich zu sehen (und zu sagen), dass die Voraussetzungen dieser vernünftigen Entscheidungen natürlich ideologische waren. Der Markt tendiert nicht zum Gleichgewicht, die Maximierung des Eigeninteresses kann sich über Instinkte des Selbstschutzes hinwegsetzen und zu suboptimalen Ergebnissen führen, und in Krisenzeiten wird jeglicher "trickle down" in massive Umverteilungsprozesse von unten nach oben durch so genannte "Rettungspakete" umgekehrt.

Die Prämissen dieser angeblich nichtideologischen Argumente, wie zum Beispiel die Verwandlung des "Marktes" in etwas Naturgegebenes, das durch wissenschaftliche Gesetze reguliert würde, die den orthodoxen Ökonomen ("korrekte Meinung") zugänglich seien, nicht aber heterodoxen ("andere Meinung"), sind entlarvt. Der harte Kern neoliberaler Ideologie bestimmt nicht länger den politischen Raum, indem er die Begriffe definiert, bestimmt, was gut oder schlecht ist (Investition besser als öffentliche Ausgaben, effizient privat gegenüber ineffizient öffentlich, Märkte statt Planung etc.), und den Schwerpunkt der Debatte auf sich selbst zieht. Neoliberale Orthodoxie bildet nicht länger die Mitte der Politik, im Verhältnis zu welcher sich alle anderen Meinungen zu positionieren haben.


Zombie-Liberalismus auf Beutezug

Aber bedeutet das Verschwinden der ideologischen Mitte, dass die Ära des Neoliberalismus tatsächlich vorbei ist? Oder legt er bloß eine Pause ein, eine Art Radikaldiät, wirft ineffizientes Kapital und Institutionen ab, nur um schlanker und noch unsozialer wieder aufzutauchen? Einerseits hat der jüngste Bailout-Wahnsinn ("Bankenrettung") nicht die Umstrukturierung des Bankensystems und Unterordnung des Finanzkapitals unter politische Direktiven zur Folge gehabt. Er war schlicht eine massive Plünderung öffentlicher Ressourcen nach Raubrittermanier, die 30 Jahre neoliberaler Umverteilung nach oben noch weiter verschärfte. Andererseits hat dieser gigantische Raubüberfall seine ideologische Rechtfertigung verloren und sich als das offenbart, was er ist: Diebstahl ohne Wenn und Aber.

Der Neoliberalismus hat immer zwei Seiten gehabt. Er war zugleich Gegenangriff der Eliten gegen soziale Errungenschaften der Arbeiter- und anderer Bewegungen seit den 1930er Jahren, ein Versuch, ein Reichtumsverteilungsprogramm nach oben, und ein ideologisches Projekt, "die Märkte" von unbefugten Interventionen durch Regierungen und dergleichen zu befreien.

Was bleibt vom Neoliberalismus übrig, wenn der ideologische Stuck abfällt? Er ist nicht länger ein (verhältnismäßig) schlüssiges politisch-ökonomisches Programm. Er wird zur Verbrannte-Erde-Taktik eines sich auf dem Rückzug befindenden Heeres, das Fallen aufstellt, bevor es die Kontrolle über sein Terrain aufgibt. Jedoch sind die im politischen System eingebauten Fallen, obwohl ihrer ideologischen Tarnung beraubt, gefährlich und tödlich.

In allen Ländern, die Bailouts und/oder finanzielle Krisen durchgemacht haben, sind enorme staatliche Defizite entstanden. Die werden nun von genau denselben sozialen Kräften, die am meisten von ihnen profitiert haben, als Rechtfertigung für noch mehr Sparrunden und Ausgabensenkungen benutzt, mit denen ebendiese Defizite wieder abgebaut werden sollen. Durch die Übergabe der Kontrolle an "Experten", die niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig sind, wird der Neoliberalismus über die Zeit gerettet. Ein schlauer Trick: Der finanzielle Sektor benutzt die Schulden, die entstanden sind, um sich selbst zu retten, um sich so die weitergehende Kontrolle über den Staat zu sichern.

Solange Kredite austrocknen und die Preise für Grundnahrungsmittel und Energie steigen, ArbeiterInnen unterbezahlt und, zumindest im Norden, hoch verschuldet sind, wird ein sogenannter Aufschwung die Situation nicht grundlegend ändern - jedenfalls solange er ohne massive Lohnerhöhungen und/oder Schuldentilgung vor sich geht.

Der Deal ist passé. Aber wenn es keinen Deal und keine Ideologie mehr gibt, was bleibt dann von der sozialen Basis des Neoliberalismus - dem neoliberalen Machtblock? Kurz, er ist in Unordnung, wenn nicht gar völlig zerschmettert. Es gibt keine soziale Kraft mehr, die glaubwürdig einen Anspruch auf soziale, politische, kulturelle oder ökonomische "Führerschaft" erheben könnte. "Das Zentrum hält nicht stand", es ist zerbrochen und lässt eine verwirrte und grausame Armee zurück, Institutionen, deren Politiken nicht mehr innerhalb eines einheitlichen Rahmens koordiniert werden, um die Macht wetteifernde politische Parteien ohne wirkliche Programme.

Wenn der Machtblock also schwach ist, damit beschäftigt, das Systems, das er am Laufen hielt, einfach auszuplündern, und wenn - vor allem - der ideologische Kern des Neoliberalismus verschwunden ist, warum entsteht dann keine neue Mitte? Warum zahlt sich die scheinbare Verschiebung nach links nicht praktisch aus?

Die Antwort liegt zumindest teilweise in der Tatsache, dass das neoliberale Projekt sich bedeutend weniger auf seine Ideologie verließ, als seine KritikerInnen oft argumentiert haben. Theorien und Ideologien werden benutzt, um neoliberale IdeologInnen und AktivistInnen zu produzieren. Doch unsere Subjektivitäten und die Grenzen dessen, was wir für möglich halten, werden nicht in erster Linie durch Argumente geprägt und beeinflusst. Sie kommen eher operativ als ideologisch zustande, durch Interventionen in die Zusammensetzung der Gesellschaft. Der Neoliberalismus reorganisiert materielle Prozesse, um die Art von sozialer Realität hervorzubringen, von der seine Ideologie behauptet, sie bestünde bereits. Er versucht, seine eigenen Voraussetzungen zu produzieren.

Anstatt durch die Macht neoliberaler Argumente überzeugt zu werden, werden die Menschen dazu trainiert, sich selbst als rationale NutzenmaximiererInnen zu sehen, wie sie uns in der ökonomischen Theorie begegnen. Dieses Training erfolgt durch die Durchdringung nicht nur unserer ökonomischen Aktivitäten, sondern aller Bereichen unseres Lebens durch die Handlungslogik der Märkte: ob in der Bildung, der Gesundheit, der Erziehung, wo auch immer.

Zum Beispiel das Schulsystem in Großbritannien. Eine Armee von RegierungsinspektorInnen und StatistikerInnen trägt bergeweise Daten über die Leistungen der Schulen zusammen. Die Eltern sollen nun diese Informationen verwenden, um die beste Entscheidung bezüglich der Schulwahl zu treffen. Bildung wird als Vorbereitung für den Arbeitsmarkt betrachtet. Die Theorie der Nutzenmaximierung soll die frühzeitige Sortierung der SchülerInnen in bestimmte Ausbildungswege rechtfertigen. Währenddessen versuchen viele "Mittelklasseeltern", die Chancen ihres Nachwuchses für "den bestmöglichen Start ins Leben" zu verbessern, indem sie private NachhilfelehrerInnen engagieren oder sich jeden Sonntagmorgen in die Kirche schleppen (Schulen anglikanischer Konfession haben den besten Ruf).

Erfolgreich werden Menschen dazu gebracht, Humankapital zu werden, kleine Unternehmen, die mit anderen konkurrieren - ein isoliertes Atom, das nur für sich selbst verantwortlich ist. In diesem Zusammenhang leuchtet die Akzeptanz des individuellen "Deals" ein, den der Neoliberalismus anbietet. Der Neoliberalismus organisiert - oder organisierte - nicht nur ein globales Herrschaftssystem oder die Art und Weise, wie einzelne Staaten regiert werden. Es geht bei diesem Projekt (auch) um das Management von Individuen, darum, wie du zu leben hast. Es stellte ein Lebensmodell auf und etablierte dann Mechanismen, die dich in Richtung dieser "frei" gewählten Lebensweise trieben. Die Würfel sind manipuliert. Wenn du heute an der Gesellschaft teilnehmen möchtest, musst du dich wie der homo oeconomicus verhalten.

In vielfacher Weise hält uns diese neoliberale Kodierung nicht nur öffentlicher Institutionen und politischer Programme, sondern auch unserer selbst, in dem oben besprochenen Schwebezustand gefangen. Der Neoliberalismus ist tot, doch er scheint es nicht zu bemerken. Obwohl das Projekt nicht länger "Sinn macht", stolpert seine Logik weiter wie ein Zombie in einem Splatterfilm aus den 1970er Jahren: hässlich, hartnäckig und gefährlich.

Wenn sich keine Mitte herausbildet, die in der Lage ist, ihn zu ersetzen, kann diese Situation eine Weile andauern. Alle großen Krisen - Wirtschafts-, Klima-, Nahrungsmittel-, Energiekrise - werden ungelöst bleiben; Stagnation wird einsetzen (wir erinnern uns, dass die Krise des Fordismus länger als ein ganzes Jahrzehnt andauerte, bis sie überwunden wurde, nämlich die gesamten 1970er Jahre). Genau so wie das "Unleben" eines Zombies, eines Körpers, der, seiner Ziele beraubt, unfähig ist, sich an die Zukunft anzupassen, unfähig Pläne zu schmieden. Ein Zombie kann nur habituell agieren und tut es, obwohl er schon am Verwesen ist. Ist das nicht genau die Situation, in der wir uns heute befinden, in der Welt des Zombieliberalismus? Der Körper des Zombies wankt weiter, aber ohne Richtung oder Ziel.

Jedes Projekt, das diesen Zombie erlegen will, wird auf vielen verschiedenen Ebenen operieren müssen - genau wie es der Neoliberalismus tat. Das heißt, es muss mit einer neuen Lebensweise verbunden sein. Und es muss im Hier und Jetzt ansetzen, an der gegenwärtigen Zusammensetzung der globalen Gesellschaft, von der große Teile noch im Griff des neoliberalen Zombies sind.

Das ist die größte Herausforderung, der sich diejenigen gegenübersehen, die einen neuen New Deal oder Green New Deal befürworten. Es geht nicht einfach darum, das Denken der Eliten zu verändern, oder ein wenig am staatlichen Budget herumzufummeln. Ein grundlegenderer Wandel ist nötig. Nicht bloß ein Wandel des Bewusstseins an der Spitze der Gesellschaft, sondern eine Transformation des ganzen gesellschaftlichen Körpers.


Die Mitte und das Gemeinsame

Wir können das Verschwinden der alten Mitte an vielen Symptomen erkennen. Zum Beispiel im "Obama-Phänomen": Ein politisches Projekt, das auf einer Welle von vagen Versprechungen von "Hoffnung" und "Wandel" an die Macht kommt, zeugt weniger von den eigenen Stärken, als von den Schwächen der anderen. Währenddessen haben wir auf der anderen Seite des Atlantiks die parlamentarische Linke in einer Reihe von Wahlen einstürzen sehen. Ob an der Macht oder nicht, Europas Mitte-Links-Parteien wurden an den Wahlurnen abgestraft, während die Rechten besser abschnitten.

Viele mögen sich gefragt haben, warum die ökonomische Krise den Sozialdemokraten angelastet wurde. Aber die Linken, die sich den Neoliberalismus bereitwillig zu eigen machten, wurden seine eifrigsten Anhänger. Sie waren es, die darin eine progressive Kraft sahen, die selbst den Armen der Welt Entwicklung bringen würde. (Es gibt keine größeren Fanatiker als Konvertiten.) Die Vernichtung dieser Illusion hat zum Zusammenbruch der moderaten Linken geführt.

Bedeutet das, dass die vielen linken KritikerInnen des Neoliberalismus (und manchmal des Kapitalismus), von linksradikalen Parteien bis zu den GlobalisierungsgegnerInnen von Seattle und Genua, sich nun in Selbstzufriedenheit wiegen können? Schließlich können sie für sich in Anspruch nehmen, schon die ganze Zeit recht gehabt zu haben, weil sie sich nicht nur der neoliberalen Triade von Finanzialisierung, Deregulierung und Privatisierung entgegengestellt haben, sondern auch Blairs Drittem Weg.

Wir zählen uns selbst zu diesen KritikerInnen, und sicher haben wir im Bezug auf einiges recht gehabt - zum Beispiel die Instabilität des neoliberalen Kreditsystems. Aber einer der schlimmsten Fehler, die wir jetzt machen könnten, wäre anzunehmen, dass alte Antworten und Gewissheiten noch Gültigkeit besäßen.

Mit dem Verschwinden des alten, anti-neoliberalen Konsens und dem Entstehen neuer Kämpfe müssen wir nicht nur die Frage neu stellen, wer "wir" sind (oder waren). Wir müssen darüber hinaus ein neues "Wir" erschaffen. Wir brauchen ein feines Gespür für entstehende Antworten auf die derzeitigen Umstände. Wir müssen erkennen, auf welchen Ebenen diese Antworten miteinander kommunizieren, und wir müssen die Punkte identifizieren, an denen sie sich überschneiden und gegenseitig verstärken. Mit anderen Worten, wir müssen - zusammen - ein neues Gemeinsames erschaffen, identifizieren und benennen.

Ein neues Gemeinsames zu benennen, ist größtenteils eine analytische Arbeit: das Identifizieren von Komponenten und Richtungen verschiedener Bewegungsbahnen, um auf diese zu reagieren, um Gemeinsamkeiten zu verstärken, lösbare Spannungen zu überwinden und Ursachen von nicht lösbaren zu erkennen. Natürlich bringt der Akt, etwas als ein Gemeinsames zu benennen, immer auch eine teilweise Synthese mit sich. Doch ob diese Synthese wirkungsvoll sein wird, hängt von der Analyse ab, auf die sie sich stützt. Sie ist allein in dem Maße wirksam, wie das, was sie benennt, für die Angesprochenen etwas bedeutet.

Das Gemeinsame hat, ebenso wie die Mitte, einen doppelten Charakter. Es hat zum einen eine "objektive" Seite: Eine Vielzahl von Praktiken, Subjektivitäten, Kämpfe und Projekte können gemeinsame Aspekte oder Resonanzen haben, selbst wenn sie sich ihrer gegenseitig nicht bewusst sind. Andererseits hat das Gemeinsame auch eine subjektive Seite, die zu erkennen eine gewisse Selbsterkenntnis verlangt, sowie einen Blick dafür, was andere Kämpfe oder Projekte miteinander gemein haben.

Die Gegnerschaft des "einen Nein" zum Neoliberalismus ist ein gutes Beispiel für ein sich selbst wahrnehmendes, subjektives Gemeinsames. Es bedarf einer aktiven Anstrengung, ein Gemeinsames zu identifizieren; ist es aber einmal identifiziert, wird es dadurch effektiver. Diese Selbstwahrnehmung schafft eine Art Rückkopplung, durch die das Gemeinsame an Konsistenz gewinnt, bis es der etablierten Mitte nicht mehr möglich ist, es einzudämmen. Das Gemeinsame ist also in dem Sinne autonom, als es seine eigenen Fragen zu seinen eigenen Bedingungen stellt.

Das bringt uns zur nächsten Frage: Wie beeinflusst das Gemeinsame die Mitte? Zunächst einmal geschieht das oft auf unsichtbare Weise, als Zentrifugalkräfte, die der Zugkraft der Mitte entgegenwirken. Das Gemeinsame besteht aus neuen Praktiken und Lebens- und Denkweisen, die von der Synthese abweichen; sie verbreiten sich, ohne notwendigerweise zu einer sichtbaren Herausforderung der Mitte zu werden. Beispiele dafür sind all die vielen verborgenen Kämpfe von FabrikarbeiterInnen und Büroangestellten, die das Arbeitstempo drosselten, ohne einen Streik zu organisieren; der Einfluss auf die Gesellschaft, den Lesben und Schwule dadurch hatten, dass sie sich Nischen für ihre Begehren schufen; die synkretistischen Religionen Lateinamerikas und Afrikas, in denen die indigene Bevölkerung und Sklaven direkt vor der Nase der Kolonialherren ihre Traditionen ausübten. Oder die Entwicklung der Pille, die damit verbundene größere Selbstbestimmung der Frauen über ihren eigenen Körper und die Veränderung sexueller Beziehungen, gesellschaftlicher Rollen und Identitäten.

Solche Phänomene werden sichtbar, wenn sie mit der Mitte aneinandergeraten, mit existierenden Institutionen und Praktiken in Konflikt kommen. Das Gemeinsame problematisiert die Art und Weise, wie die Mitte die Welt zusammengefügt hat, indem es Probleme aufwirft, die deren Auffassungsgabe übersteigen. Die Wirkungen eines solchen nicht benannten Gemeinsamen und die Mutationen, zu denen es führt, sind aber oft begrenzt und werden oft von Ausschluss oder Repression begleitet.

Ein Gemeinsames wird wirkungsmächtiger und seine Wirkungen treten deutlicher zutage, wenn es sowohl sichtbar gemacht als auch benannt wird. Dies ist der Fall, wenn ihre zentrifugale Kraft sich in offenen Antagonismus umsetzt.

Aber dieser Antagonismus ist nicht einfach nur ein Selbstzweck. Während der 1990er Jahre, als die neoliberale Mitte am stärksten, am "hegemonialsten" war, war es notwendig, einen Antagonismus zu benennen und aufrechtzuerhalten, der genau deshalb zur Mitte auf Abstand blieb, weil eines der zentralen Dogmen des Neoliberalismus - das vom "Ende der Geschichte" - das Ende aller Antagonismen erklärt hatte.

Heute ist die Situation anders. Global gesehen erscheint die Linke zwar schwach, aber die gleichzeitige und entsprechende Schwäche der Mitte gibt "uns" eine einzigartige Gelegenheit, in die Gestaltung einer neuen Mitte zu intervenieren. Ein neues Gemeinsames zu benennen, bedeutet zugleich, unsere Fähigkeit zu vergrößern, den Ausgang der vielen globalen Krisen mitzubestimmen, indem wir die Art und Weise beeinflussen, wie mit ihnen umgegangen wird.

Wir sollten uns jedoch der Tatsache bewusst sein, dass das Entstehen eines neuen Gemeinsamen, welches eine Mitte aus dem Gleichgewicht bringt, nicht notwendigerweise positiv ist. Ein Beispiel dafür ist die Entstehung des Neoliberalismus selbst. Die Mont Pelerin Society, 1947 von Friedrich Hayek gegründet, erforschte während des "Goldenen Zeitalters" des Keynesianismus marktliberale Ideen, ebenso der Kreis von BewundererInnen, der sich in den 1950er Jahren um die russisch-amerikanische Schriftstellerin und Philosophin Ayn Rand scharte. Zu den Mitgliedern der Mont Pelerin Gesellschaft zählten George Shultz und Milton Friedman. Shultz gehörte später den Regierungen von Nixon und Reagan an, und beide bildeten die "Chicago Boys" aus, welche die lateinamerikanischen Ökonomien in den 1970er und 1980er Jahren liberalisierten. Auch der junge Alan Greenspan, später Vorsitzender der Federal Reserve, war Mitglied des Rand'schen Zirkels. Diese marktradikalen DenkerInnen und AktivistInnen artikulierten ein Gemeinsames, welches die keynesianisch-fordistische Mitte zunächst zutiefst erschütterte und später zerstörte.


Wie kann ein neues Gemeinsames entstehen?

Obwohl wir also im Schwebezustand gefangen sind, wird weiter Geschichte gemacht. In den letzten Jahren haben wir den Ausbruch einer Vielzahl von Kämpfen gesehen, einige sichtbarer als andere. In Teilen des globalen Nordens ist eine aktivistische Bewegung für Klimagerechtigkeit entstanden und schnell gewachsen. In den Universitäten hat es politische Aktivität gegeben - wie zum Beispiel die Welle von Besetzungen und Streiks in ganz Italien gegen das Bildungsreformgesetz und die Massenproteste gegen Studiengebühren und Entlassungen an der Universität von Kalifornien. In einigen Fällen entstanden Protestbewegungen zu Themen, die direkt mit der Finanzkrise zusammenhängen, zum Beispiel in Island, Irland, Frankreich (wir erinnern uns an das "bossnapping"); oder solche Bewegungen sind, wie in Griechenland, in die weitverbreitete soziale Misere und mangelnden Perspektiven der "700-Euro-Generation" vorgestoßen.

In Lateinamerika, sicherlich der Teil der Welt, in dem linke Kräfte am stärksten sind, gab es explosive Kämpfe der indigenen Bevölkerung um die Kontrolle über Naturressourcen. Indigene in Peru stellten sich erfolgreich der Regierung und ihrer Armee entgegen, um die Zerstörung von Wäldern und Lebensgrundlagen durch die Jagd nach neuen Ölreserven zu verhindern. Die Bewegung für die Emanzipation des Niger Deltas (Mend) hielt die nigerianische Armee auf und brachte einige Unternehmungen des Shell-Konzerns in dem Gebiet zum Erliegen. In Südkorea besetzten entlassene Arbeiter das SsangYong-Fabrikgelände in Seoul und lieferten sich offene Schlachten mit Polizei und Armee. Erst durch eine massive Operation der Sicherheitskräfte konnten sie geräumt werden.

Obwohl diese Aufzählung noch lange fortgeführt werden könnte, drängt sich der Eindruck auf, dass diese Kämpfe relativ getrennt voneinander geblieben sind. Sie haben nicht genügend (wechselseitige) Resonanz gefunden, um ein neues Gemeinsames zu konstituieren. Trotzdem lassen sich einige Tendenzen zumindest andeutungsweise identifizieren.

Zunächst einmal wissen wir, dass in einer epochalen Krise wie in dieser sowohl die neue Mitte als auch ein neues Gemeinsames um die Problematiken herum entstehen müssen, welche die alte Ära zu Fall brachten.

Nehmen wir noch einmal die Krise des Fordismus. Zu Beginn der 1970er Jahre hatten nicht nur hohe Löhne zu einer Krise der Profitabilität geführt, es gab auch weitverbreitete Ängste, dass die Gewerkschaften zu stark geworden seien, der Staat zu expansiv und zu bürokratisch, das Leben zu eintönig. Der Erfolg des neoliberalen Projekts lag zumindest in seinen angloamerikanischen Kerngebieten teilweise daran, dass es diese Probleme effektiv in Angriff nahm, dass es vormals "abweichende" Wünsche, Diskurse und Praktiken aufgriff, indem es den Individuen versprach, diese zu verwirklichen. Als der Neoliberalismus die Gewerkschaften zerschlug, die Wohlfahrtsbürokratie schrumpfte, die Stagnation beendete und die Inflation besiegte, gab er damit einerseits effektive Antworten auf die Probleme, die den alten New Deal in die Knie zwangen, legte aber auch den Grundstein für die Entstehung neuer systemischer Probleme.

Die erste sofort ersichtliche Problematik, die in der Krise des Neoliberalismus deutlich wird, stellt sich von verschiedenen Perspektiven betrachtet recht unterschiedlich dar. Was von oben wie eine "Wirtschaftskrise" aussieht (nicht genügend Wachstum, nicht genügend Profite, nicht genug Nachfrage), wird von unten als "Krise der sozialen Reproduktion" wahrgenommen. Die Arbeitslosigkeit nimmt rapide zu, und staatliche Defizite setzen den Sozialstaat unter immer stärkeren Druck.

Die Antwort der Zombieliberalen ist letztendlich selbstzerstörerisch: Die Banken und einige wichtige Industrieunternehmen werden gerettet (zum Preis enormer Kosten, die die Defizite der Regierungen vergrößern), die Blase billiger Kredite wird wieder aufgepumpt in der Hoffnung, dass irgendjemand das Geld leihen wird, das angeboten wurde. Doch es fehlt noch immer eine Quelle der Massennachfrage, es fehlt an KonsumentInnen letzter Instanz, es fehlt an neuen Gelegenheiten für Großinvestitionen. Entlang dieser Straße liegt nichts als zukünftiger Ruin.

Die zwei Perspektiven auf dieselbe Krise rufen zwei verschiedene jeweils "logische" Antworten hervor. Während die zombieliberale Reaktion ihrer eigenen (untoten) Logik nach sinnvoll erscheint, könnte die logische Antwort auf die Krise der sozialen Reproduktion vielleicht eine Strategie der Vergemeinschaftung sein. Dies meint die Verteidigung, Erschaffung und Ausdehnung von Ressourcen, die gemeinschaftlich besessen werden und für alle verfügbar sind: Ausdehnung des öffentlichen Verkehrs, Vergesellschaftung der Gesundheitsfürsorge, garantiertes Grundeinkommen und so weiter.

Eine solche Strategie würde zwei zusammenhängende und essenzielle Ziele umfassen: Erstens würde sie unsere unmittelbaren Ängste beantworten, unsere Lebensgrundlagen zu verlieren, weil sie Räume schaffen würde, in denen soziale Reproduktion außerhalb der krisengeschüttelten Kreisläufe des Kapitals möglich wird. Zweitens würde sie der Atomisierung entgegenwirken, die durch drei Jahrzehnte neoliberaler Subjektivierung in und durch Märkte verursacht wurde: Genauso, wie das Engagement in marktförmigen Interaktionen eben Marktsubjekte hervorbringt, neigt Vergemeinschaftung dazu, gemeinschaftliche Subjektivitäten zu hervorzubringen.

Und wenn der versuchte Ausschluss bestimmter Personen von kollektiven Ressourcen eine "logische" Antwort auf die ökonomische Krise darstellt, dann würde die Schaffung von offenen Allmenden als Antwort auf die Krise der sozialen Reproduktion dem ebenfalls entgegenwirken. Offene Allmenden würden die fremdenfeindliche, rassistische Politik untergraben, die zumindest in Europa, sowie in Teilen Afrikas und Asiens an Boden gewinnt.

Eine zweite zentrale Problematik ist die der Biokrise, der vielen sozial-ökologischen Krisen, die derzeit die Welt plagen und die aus dem Widerspruch zwischen dem Bedürfnis des Kapitals nach unendlichem Wachstum und der Tatsache erwachsen, dass wir auf einem endlichen Planeten leben. Ebenso wie die "Wirtschaftskrise" hat auch die Biokrise zwei Gesichter.

Aus der Perspektive der Regierungen und des Kapitals betrachtet, erscheint sie als Bedrohung der sozialen Stabilität. Klimaveränderungen unterminieren Lebensgrundlagen, was die Zahl der Menschen vergrößert, die gezwungen sind, ihre Reproduktion mit nicht-legalen Mitteln zu sichern. Viele Regierungen fürchten die steigende Zahl sogenannter Klimaflüchtlinge. Die Piraterie in Somalia ist eine Antwort auf das Überfischen des Meeres vor dem Horn von Afrika. Aber Regierungen und Kapitale betrachten genau diese Bedrohungen der sozialen Stabilität auch als Gelegenheiten, politische Herrschaft zu relegitimieren, Regierungsmacht auszuweiten und eine neue Runde "grünen" ökonomischen Wachstums anzufangen.

Aber die Biokrise ist, wie der Name schon sagt, eine, die das Leben bedroht; vor allem das Leben derer, die sie am wenigsten verursacht haben. In zunehmendem Maße treffen sich Bewegungen, die um diesen Widerspruch - zwischen Kapital und Leben, Wachstum und dessen Grenzen - herum entstehen, im Gemeinsamen der Klimagerechtigkeit: der Idee, dass Antworten auf die Krise existierende Ungerechtigkeit und Machtungleichgewichte umkehren statt verschärfen sollten und dass die Arbeit daran die direkte Beteiligung der von ihr Betroffenen beinhalten sollte.

Natürlich können wir nicht sicher sein, dass eine neue Mitte und/oder ein neues Gemeinsames um eines dieser Themen - die ökonomische Krise/Krise der sozialen Reproduktion und die Biokrise - herum entstehen werden, aber wir sind überzeugt, dass jedes erfolgreiche neue Projekt beide Krisen in Angriff nehmen muss.


Vom Antagonismus zur Verfassung

An einem neuen Gemeinsamen zu arbeiten, erfordert, sich von den Annahmen, Taktiken und Strategien des anti-neoliberalen, globalisierungskritischen Protestzyklus' der Jahrhundertwende zu verabschieden. Das Gemeinsame, das während dieser Periode aufgebaut und aufrechterhalten wurde, muss durch das Prisma der zeitgenössischen Situation neu zusammengefügt werden.

Die globalisierungskritische Bewegung misstraute Institutionen und konstituierten Formen von Macht per se - oft bekämpfte sie diese sogar. Dieses Misstrauen zeigte sich zum Beispiel in der Spannung innerhalb einer ihrer am meisten institutionalisierten Formen, dem Weltsozialforum (WSF). Die Skepsis gegenüber machtvollen Institutionen hatte einen guten Grund: Sie erwuchs aus der Erkenntnis, dass die neoliberale Ideologie die meisten sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften erfolgreich kolonisiert hatte.

Als jedoch die Krise des Neoliberalismus ausbrach, wurde offenbar, dass das Misstrauen in Institutionen sich in eine Unfähigkeit übersetzt hatte, auf Politik und Wirtschaft Einfluss zu nehmen. Antagonismus gegen Institutionen als Selbstzweck ist eine Sackgasse. Der Rückzug aus Institutionen hinterlässt eine Leerstelle, welche die Politik - die bekanntlich das Vakuum verabscheut - durch stückweise Kooptationen zu füllen sucht.

Momente von Antagonismus sind entweder Teil eines andauernden Aufbauprozesses von Autonomie und neuen Formen von Macht oder sie riskieren Zersplitterung oder schlimmer noch, Gegenreaktionen. Heute brauchen wir mehr als nur sporadische Zurschaustellungen von Kraft: Organisationsformen, die beim kollektiven Management der Bedürfnisse anfangen, die Strukturen und Mechanismen sozialer Reproduktion politisieren und von dort aus ihre Macht aufbauen.

Wie könnte so etwas in der heutigen Situation aussehen? Kampagnen gegen Zwangsversteigerungen oder entlang der Fragen von Nebenkostenrechnungen, Privatschulden oder Energieressourcen? Jedenfalls sind Interventionen vonnöten, die von einem gemeinschaftlichen Leben ausgehen und daraus ihre Konsistenz gewinnen, die Momente von Antagonismus einsetzen, um ihre konstituierende Kraft zu verstärken.

War die komplette Verweigerung vor einem Jahrzehnt, als die neoliberale Doktrin auf der Höhe ihrer Macht war und die meisten institutionellen Wege völlig blockiert, eine glaubwürdige Taktik, stellt uns die morsche Gesellschaft von heute vor ganz andere Probleme.

Zurzeit gibt es durchaus einige Beispiele für wichtige Transformationen, die es geschafft haben, sich in institutionelle Formen einzuschreiben. Die bemerkenswertesten sind zweifellos die Verfassungsprozesse in Bolivien und Ecuador. Die hier entstandenen politischen Verfassungen stehen für radikale Veränderungen nicht nur in Hinblick auf die Geschichte des Landes, sondern auch auf konstitutionelles Recht selbst. Dies in erster Linie, weil sie einem neuen Arrangement der Mächte eine Form geben, in der zum ersten Mal in ihrer Geschichte die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung über eine Stimme und einen gewissen Grad der Repräsentation verfügt. Mehr noch signalisieren beide aber durch das Institutionalisieren der Pluri-Nationalität einen bemerkenswerten Bruch mit modernen Vorstellungen von Souveränität, indem sie multiple, autonome souveräne Formen innerhalb des Staates selbst anerkennen sowie auch die historische Schuld des Prozesses der Kolonisierung.

Im Falle Ecuadors ist es nicht nur die Pluri-Nationalität, sondern auch das indigene Konzept des "guten Lebens" (sumak kawsay) und die "Rechte der Natur", wurden zu Prinzipien gemacht. Das Letztere, eine einzigartige Erfindung in der Rechtsgeschichte, folgt direkt aus dem Vorherigen: Das "gute Leben" bezieht notwendig die natürliche Umwelt der Menschen mit ein - nicht als Quelle von welcher, sondern als das Medium, mit welchem Menschen existieren.

Die Idee, dass im modernen parlamentarischen Staat die Welt eine endgültige, nicht mehr zu verbessernde Form gefunden habe, gehörte wesentlich zur Doktrin vom "Ende der Geschichte". Zwar wurde diese Doktrin nachdrücklich abgelehnt, der Zyklus der globalisierungskritischen Bewegung schien jedoch die Prämisse in umgekehrter Form zu akzeptieren: Institutionen ändern sich nicht. Doch aus der Ablehnung real existierender Institutionen folgt nicht notwendig, Institutionen als solche abzulehnen.

Die genannten Verfassungen können natürlich lediglich ein Anfang sein. Und tatsächlich beginnt erst, nachdem sie niedergeschrieben wurden, der eigentliche Verfassungsprozess: die Buchstaben des Textes mit wirklicher Transformation zu erfüllen. Hierin besteht sicherlich der echte Test, den die lateinamerikanische "Pink Tide" sehr bald zu bestehen haben wird. Nicht so sehr in einer zunehmend organisierten Reaktion (siehe den Putsch in Honduras), sondern in der Zukunft ihrer eigenen hoch gepriesenen "Erfolgs"stories liegt das Fragezeichen. Es ist dies auch die Frage nach einer neuen Mitte und einem neuen Gemeinsamen: Wie weit können sich diese Prozesse von der alten Mitte weg bewegen? Und was muss ein neues Gemeinsames alles erschaffen, um auf die Mitte einzuwirken?

Die jüngsten Erfahrungen in Lateinamerika waren und sind widersprüchlich. Die Anerkennung der "Rechte der Natur" und des "guten Lebens" geht Hand in Hand mit einem Wiedererwachen eines durchaus traditionellen Entwicklungsbegriffs (desarrollismo), der verstärkten Ausbeutung natürlicher Ressourcen und einer erneuerten Betonung von Rohstoffexporten. Es stellt sich die Frage: Wurde die konstituierende Macht der existierenden Bewegungen in diesem Prozess vollständig aufgebraucht? Wird die kommende Zeit eine der Konsolidierung der bisherigen Errungenschaften sein, anstatt den Einsatz zu erhöhen - taktischer Rückzugsgefechte statt strategischer Bewegungen? Werden in Brasilien, Bolivien, Venezuela usw. neue Dynamiken unterhalb der Ebene des Staates die transformative Energie wieder erwecken, welche die jetzige Situation geschaffen haben, oder werden wir ihre Abkühlung und Erstarrung sehen?


Wie relevant sind diese Prozesse und Fragen für jene von uns außerhalb Lateinamerikas? In vielerlei Hinsicht scheint der Kontinent mit seinen institutionellen Akteuren, die auf das Gemeinsame sozialer Bewegungen eingehen, wie eine Anomalie. Tatsächlich ist sein anormaler Status vielleicht ein Symptom des Kollaps des Neoliberalismus.

Der größte Teil der Welt sieht sich ganz anderen Symptomen und Fragekomplexen gegenüber: Wenn der Zombieliberalismus eine relativ stabile Form der gesellschaftlichen Herrschaft ist, wie können soziale Bewegungen dann auf die sie umgebende Welt einwirken? Wenn es keine dominante Mitte gibt, an denen sich das entstehende Gemeinsame der Bewegungen reiben kann, wie können Kämpfe dann sichtbar gemacht werden? Wie bilden wir einen Antagonismus gegen einen unzusammenhängenden Gegner? Wenn weiterhin neoliberale Subjektivitäten reproduziert werden, wie unterbrechen wir diesen Prozess und erschaffen neue Subjekte mit erweiterten Horizonten?

Viele aktuelle Kämpfe in der Welt basieren auf der Idee, dass der Zombieliberalismus nicht überleben und dass eine neue Mitte entstehen wird. Zum Beispiel die Bewegung für Klimagerechtigkeit, wo sich die Schlacht nicht nur gegen die Untätigkeit richtet, sondern auch gegen die Art und Weise, in welcher das Problem dargestellt wird, und gegen die Lösungen, die angeboten werden. Von diesem Blickwinkel aus kann die lateinamerikanische Anomalie wie ein Bote aus einer potenziellen Zukunft, können ihre Problematiken plötzlich zeitgemäß erscheinen.

Das macht es so schwierig, in einer Krise zu agieren. Wenn die Zukunft so unklar ist, müssen wir in vielen verschiedenen Welten zugleich operieren. Wir müssen ein neues Gemeinsames benennen, während wir es für neue Richtungen offen halten. Wir müssen nach institutionellen Gesprächspartnern suchen und zugleich akzeptieren, dass wir sie zum Teil selbst erschaffen müssen. Wir müssen die Bedingungen stellen für eine entstehende neue Mitte, ohne uns selbst von ihr einfangen zu lassen.

Dies sind alles keine einfachen Aufgaben. Aber nur so entsteht ein neues "Wir". Wir müssen uns der Tatsache erinnern, dass, wenn ein Gemeinsames einmal beginnt Gestalt anzunehmen, die Dinge plötzlich sehr schnell gehen können. Der heutige Stand der Dinge ist dermaßen zerbrechlich, dass eine kleine Bewegung einen dramatischen Effekt haben kann. Möglicherweise gehört nicht viel dazu, um eine Welt im Griff der Ungewissheit in eine Welt voller Potenzial zu stoßen.



turbulence, Dezember 2009

Übersetzung aus dem Englischen: Angelica Seyfrid


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 546, 22.01.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2010