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ANALYSE & KRITIK/313: Das politische Potential von sozialen Netzwerken


ak - analyse & kritik - Ausgabe 541, 21.08.2009

Alle Menschen werden Freunde
Das politische Potenzial von sozialen Netzwerken

Von Bürogemeinschaft 9to5


Wenn Linke über soziale Netzwerke im Internet sprechen, überwiegen häufig Kritik und Skepsis: Was macht Facebook mit meinen Daten? Und was der Staat? Wer profitiert von dem Video, das ich bei YouTube hochgeladen habe? Und arbeiten im Internet eigentlich alle umsonst? Ohne Zweifel haben diese Fragen ihre Berechtigung. Doch in diesem Artikel geht es um etwas anderes. Es geht um das politische Potenzial von sozialen Netzwerken. (1)

"Hallo Alle. Ich weiß, dass dieses E-Mail vielen anderen ähnlich sehen mag, die im Netz zirkulieren, aber das trifft nicht zu. Dieses E-Mail wird in ganz Spanien verschickt, um unsere Rechte einzufordern. Wir haben den gesamten März hindurch den Aufruf zu riesigen Saufgelagen in ganz Spanien miterlebt. Dieser Aufruf ist anders. In Frankreich protestieren die Jugendlichen für eine 'Änderung' der ausbeuterischen Arbeitsverträge. Viele Stimmen in diesem Land haben sich darüber aufgeregt, dass die Jugendlichen nichts machen würden. Na gut, werden wir es ihnen zeigen? FÜR WÜRDIGEN WOHNRAUM, HER DAMIT!!"

Im Jahr 2006 breitete sich diese E-Mail rasant über E-Mail-Verteiler und Blogs aus. Kurze Zeit später demonstrierten tausende Menschen in spanischen Großstädten. Die Bewegung "V de Vivienda" entstand. (2) Auch in den folgenden Monaten spielte das Internet eine entscheidende Rolle. Über Internetforen wurden Aktionen koordiniert, auf Internetplattformen wie Flickr und YouTube wurden zahllose Fotos und Videos hochgeladen, und über Blogs wurde zu neuen Demonstrationen aufgerufen. Auf dem Höhepunkt der Bewegung gingen Ende 2006 allein in Barcelona 25.000 Menschen auf die Straße.

Zum einen verweist "V de Vivienda" auf die zunehmende Bedeutung von prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen - in Spanien und darüber hinaus. Längst ist Prekarität zu einem der zentralen gesellschaftlichen Konflikte Europas geworden. Ob Generation 1.000 Euro, Generation 800 Euro, Génération précaire oder Generation Praktikum: Die soziale Krise hat ganzen Generationen ihren Namen gegeben. Zugleich sind auch viele Ältere von Prekarität betroffen. Zum anderen verweist die Bewegung "V de Vivienda" darauf, dass die Prekären entgegen gängiger Analysen nicht zwangsläufig vereinzelt und isoliert sind. Im Gegenteil: Die soziale und politische Dynamik der Bewegung für bezahlbaren Wohnraum beruht auf der Exzessivität sozialer Beziehungen. Einer Exzessivität, bei der soziale Medien wie Internetforen, Blogs, Wikis und soziale Netzwerke eine entscheidende Rolle spielen.


Von Freundschaften und "Freundschaften"

Auch die Bedeutung der sozialen Medien weist über die Bewegung "V de Vivienda" hinaus. Diese Internetanwendungen sind heute genauso alltäglich wie die Prekarität. Gemeinsam ist ihnen die zunehmende Bedeutung von interaktiven und kollaborativen Elementen. Ihnen allen liegt eine "Architektur der Partizipation" (Tim O'Reilly) zu Grunde. Während Massenmedien wie Zeitung, Radio oder Fernsehen auf dem Prinzip "Ein Sender viele Empfänger" beruhen, basieren Blogs, Wikis, Foren und soziale Netzwerke auf dem Prinzip "Jeder Empfänger ein potenzieller Sender" (Hans Magnus Enzensberger). An die Stelle des vereinzelten, passiven, sozial verarmten Konsumenten ist der aktive, dicht vernetzte User getreten. Oder anders formuliert: Die sozialen Medien sind das Radio, von dem Brecht immer geträumt hat.

In dem Maß, in dem soziale Medien zum neuen Leitmedium werden, gewinnen auch Internetnetzwerke an Bedeutung. Weltweit werden heute mehrere hundert soziale Netzwerke von mehreren hundert Millionen Menschen genutzt. Allein in Europa verwenden laut einem Bericht des Informationsanbieters Datamonitor knapp 42 Millionen Menschen soziale Netzwerke. In drei Jahren sollen es 107 Millionen sein. Die Bandbreite der Netzwerke ist enorm: Dating, Geschäftskontakte, Freundschaften, gemeinsame Vorlieben, politische Überzeugungen. Die größten sozialen Netzwerke wie Facebook verbinden all diese Interessen auf einer Seite. Trotz aller Unterschiede haben diese Netzwerke zwei Merkmale gemeinsam: eine personalisierte Webseite für jeden Nutzer und eine dazugehörige, öffentlich einsehbare "Freundesliste". Innerhalb dieser Netzwerke wuchern die sozialen Beziehungen. Dutzende, zum Teil hunderte "Freunde" sind keine Seltenheit. Diese Beziehungen folgen dabei einem spezifischen Muster. Innerhalb von sozialen Netzwerken ist nicht jeder mit jedem verknüpft. Vielmehr bilden sich zahllose "Freundeskreise" heraus, die durch ein dichtes Netz von engen Beziehungen gekennzeichnet sind. Diese "Freundeskreise" sind wiederum durch lose Bekanntschaften miteinander verknüpft. Zusammenfassend schreibt Clay Shirkey: "Ein größeres Netzwerk ist eine lose verknüpfte Gruppe von enger verknüpften Unternetzwerken."

Darüber hinaus sind soziale Beziehungen innerhalb von sozialen Netzwerken durch drei wesentliche Merkmale gekennzeichnet. Sie sind sozial sichtbar, weil durch die Profile und "Freundeslisten" Vorlieben, Interessen und soziale Kontakte öffentlich einsehbar sind. Sie sind "schmutzig", weil sich berufliche, freundschaftliche und familiäre Beziehungen immer weniger unterscheiden lassen. Und sie sind flüchtig, weil alte Klassenkameraden, lose Bekannten und frühere Arbeitskollegen allesamt "Freunde" werden.

In den meisten sozialen Netzwerken trifft man keine Fremden. Zu einem Großteil der bestätigten Kontakte besteht bereits eine "offline connection" (danah boyd). Dies bedeutet zum einen, dass soziale Unterschiede auch innerhalb der Online-Welt fortbestehen. Zum anderen - und dies ist diesem Zusammenhang das Entscheidende - deutet es darauf hin, dass die flüchtigen und schmutzigen sozialen Beziehungen nicht allein ein Effekt des technischen Mediums sind, sondern zugleich auf ein verändertes gesellschaftliches Milieu verweisen. 40 Jahre Betriebszugehörigkeit und 40 Jahre Ehe werden immer seltener. Immer mehr gesellschaftliche Bereiche sind durch eine "Kultur des Projekts" (Luc Boltanski) geprägt. Selbstständigkeit und befristete Verträge, Patchwork-Familie und Single-Haushalte breiten sich aus. An die Stelle von wenigen stabilen sozialen Beziehungen treten viele flüchtige. Zugleich löst sich die Grenze zwischen Freundschaft und Arbeit immer mehr auf. In diesen Kontext müssen auch die Beziehungen innerhalb von sozialen Netzwerken eingeordnet werden. Darauf verweist auch die Entstehungsgeschichte von sozialen Netzwerken, die sich nicht von der Krise von der fordistischen Familie und der fordistischen Lohnarbeit trennen lässt. So haben die Gestalter der ersten sozialen Netzwerke das Element der Profile unmittelbar von Dating-Portalen übernommen. Zugleich spielten soziale Netzwerke für Selbstständige eine wichtige Rolle bei dem Weg von Facebook und Co. in den gesellschaftlichen Mainstream.


Soziale Netzwerke zwischen Party und Revolte

Der fortdauernde Boom der sozialen Netzwerke macht deutlich, dass die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht allein durch Vereinzelung, sondern auch durch eine Exzessivität sozialer Beziehungen gekennzeichnet sind. Ebenso wie Vereinzelung zu Passivität, führt Exzessivität zu Bewegung. Ungeplant und unerwartet. So auch für Christoph Hübner. Eigentlich wollte er nur eine Strandparty mit rund 100 Bekannten feiern und sich darüber hinwegtrösten, dass seine Freundin ihn verlassen und er seinen Job verloren hatte. Unter dem Motto "Alle Mann nach Westerland, wir machen eine fette Beach-Party" gründet er Anfang des Jahres eine Gruppe innerhalb des sozialen Netzwerks MeinVZ. Doch aus der kleinen Party wurde ein großer Flashmob. 13.000 meldeten sich an. 5.000 kamen nach Sylt.

Eine vergleichbare soziale Dynamik liegt auch vielen aktuellen politischen Auseinandersetzungen zu Grunde: der Bewegung "V de Vivienda", die von einer anonymen Mail ausgelöst wurde; der Klagewelle gegen Hartz IV, die ohne Internetforen wie chefduzen.de kaum denkbar wäre; dem erfolgreichen Streik der italienischen IBM-Arbeiter, der nicht im Betrieb, sondern innerhalb der digitalen Online-Welt Second Life stattfand; der Online-Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen, die offline nicht zu Stande gekommen wäre; ... Diese politischen Auseinandersetzungen sind nicht allein dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen Prekarität und Internet eine wichtige Rolle spielen. Sie sind zugleich durch die weitgehende Abwesenheit von linken Gruppen, Parteien und Gewerkschaften geprägt. Dies macht eines deutlich. Die Schwierigkeit sich in der Prekarität zu organisieren, besteht nicht darin, dass Passivität und Vereinzelung vorherrschend geworden sind. Sie besteht darin, dass bestehende Organisationskonzepte nicht in der Lage sind, die neue Form sozialer Beziehungen zum Ausgangspunkt zu machen. Gerade deshalb bleiben sie sozial isoliert.

Auch die Organisierungskonzepte vieler linker Gruppen verfehlen die Ambivalenz der neuen sozialen Beziehungen. Weil an Verbindlichkeit und Kontinuität, an Unsichtbarkeit und Konspiration sowie an Reinheit und Eindeutigkeit festgehalten wird, können die neuen sozialen Beziehungen nur als Zeichen des gesellschaftlichen Verfalls gesehen werden. Die einseitige Betonung von Verbindlichkeit führt dazu, dass flüchtige soziale Beziehungen als Ausgangspunkt politischen Handelns verworfen werden. Doch statt unverbindliche und flüchtige soziale Beziehungen zu kappen, geht es darum zu verstehen, dass Handlungsfähigkeit durch die spezifische Verbindung von festen und flüchtigen Beziehungen entsteht und dass gerade flüchtige Beziehungen eine entscheidende Bedeutung für soziale Verankerung haben. Die einseitige Betonung von Konspiration führt dazu, dass soziale Sichtbarkeit vor allem als Einfallstor für Kommerz und staatliche Überwachung gesehen wird. Doch die soziale Sichtbarkeit innerhalb sozialer Netzwerke erleichtert es zugleich ungemein, Gleichgesinnte zu finden. Die einseitige Betonung von Eindeutigkeit und Reinheit bringt eine abstrakte Radikalität hervor, in der die Schmutzigkeit der gegenwärtigen sozialen Beziehungen keinen Platz hat. Anstatt die fortwährende Überschneidung von politischen, freundschaftlichen und beruflichen Beziehungen als Chance zu begreifen und die eigenen sozialen Beziehungen zu politisieren, wird an der Trennung von Politik und eigenem Alltag festgehalten. Vor diesem Hintergrund fällt es vielen linken Gruppen und Organisationen schwer, sich auf die Dynamik der neuen sozialen Beziehungen einzulassen. Die Ambivalenz der neuen sozialen Beziehungen

"Ich heiße Susanne Wiest, ich habe zwei Kinder und ich arbeite als Tagesmutter in der Nähe von Greifswald. Zum 1. 1. dieses Jahres wurde die Besteuerung für Tagesmütter geändert. Das bedeutet von Dezember auf Januar 200 Euro weniger Lohn. Da dachte ich, kann ja wohl nicht sein. Und der Lohn ist eh schon niedrig. Ich habe dann eine Petition in meiner Tagesmutterangelegenheit gestellt. Und habe so gelesen, was es da noch so alles gibt. Flickwerk habe ich mir gedacht, alles Flickwerk. Da muss irgendwie der große Wurf her und dann habe ich mich hingesetzt und noch eine zweite Petition an den Bundestag gestellt. ..."

Diese zweite Online-Petition wurde Anfang diesen Jahres tatsächlich ein großer Wurf. Das Gesuch für ein bedingungsloses Grundeinkommen verbreitete sich mit großer Geschwindigkeit über E-Mail-Verteiler und Blogs. Innerhalb weniger Wochen unterzeichneten mehr als 50.000 Menschen die Online-Petition. Auch hier zeigt sich das politische Potenzial von sozialen Medien. Interessant ist dabei nicht die offensichtliche Begrenztheit von Online-Petitionen. Interessant ist, dass eine einzelne Frau ohne Organisation und ohne Ressourcen eine solche soziale und politische Dynamik anstoßen kann. Dies macht deutlich, dass jenseits der anachronistischen Konzepte von Organisierung soziale Medien zum kollektiven Organisator der Gegenwart werden können. Damit endlich alle Menschen Freunde werden.


Anmerkungen:

(1) Dieser Text ist im Rahmen des Forschungsprojekts "Netzwerkkämpfe er/finden" der Bürogemeinschaft 9to5 entstanden, das von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt sowie von der Rosa Luxemburg Stiftung unterstützt wird.

(2) Der Name dieser Bewegung funktioniert nicht auf deutsch. "V de Vivienda" lehnt sich an den Film "V wie Vendetta" an; übersetzt bedeutet es "W wie Wohnraum".


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 541, 21.08.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2009