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ANALYSE & KRITIK/284: Zwei Bücher über Großeltern, die den Nazis entkamen


ak - analyse & kritik - Ausgabe 536, 20.02.2009

Diebe und Liebe im Widerstand
Zwei Bücher über Großeltern, die den Nazis entkamen

Von Katja Leyrer


Auf den ersten Blick scheint es kaum gegensätzlichere Geschichten zu geben: Das eine Paar im von der Wehrmacht eingekesselten Leningrad 1942 agiert wie in einem Actionfilm und in einer ebensolchen Kulisse, das andere begeht knapp fünfzig Jahre später gemeinsam Selbstmord im häuslichen Ehebett am Rande von Kopenhagen. Die erste Geschichte wird von einem US-amerikanischen Drehbuchschreiber erzählt, die zweite von einer deutschen Feuilletonjournalistin.

Beiden AutorInnen gemeinsam ist, dass sie eine Menge Fantasie aufbringen müssen, um den Lebensweg ihrer Großeltern zu beschreiben. David Benioffs junge Großmutter gehörte einer Partisaneneinheit in den russischen Wäldern an, als sie dem damals siebzehnjährigen Großvater des Autors begegnete. Johanna Adorjáns Großmutter hatte Kontakte zum Widerstand, als die Deutschen 1944 in Budapest einfielen; sie besaß falsche Papiere und bekam ihren Sohn, während Ehemann István schon im KZ Mauthausen war. Alle vier Großeltern haben die Deutschen überlebt.

Adorján und Benioff schaffen es auf ganz unterschiedliche Weise, darüber zu schreiben, wie schwer dieses Überleben für die Einzelnen war und wohl lebenslang ist. Aus der Perspektive der Spuren suchenden Enkel liest sich das an einer Stelle beinahe identisch:

"Wir wissen nicht viel über die Zeit, die mein Großvater im KZ verbracht hat. Eigentlich wissen wir nichts. Er hat nie davon gesprochen, und fragte man ihn danach, was jedes Familienmitglied ungefähr einmal getan hat, so antwortete er: ,Davon sprechen wir nicht.' (...) Woher also wussten wir, dass er lernen musste, im Gehen zu schlafen? Wäre er hingefallen oder hätte sich hingesetzt, er wäre erschossen worden. Diese eine Sache, die wussten wir." (Adorján)

Benioffs Roman beginnt mit den Worten: "Mein Großvater, der Messerstecher, tötete zwei Deutsche, bevor er achtzehn war. Ich erinnere mich nicht, dass es mir jemand erzählt hätte, ich schien es einfach schon immer zu wissen, so wie ich wusste, dass die Yankees Nadelstreifen trugen und auswärts Grau. Aber ich wusste es nicht von Geburt an. Wer erzählte es mir? Nicht mein Vater, der niemals ein Geheimnis verriet, und nicht meine Mutter, die davor zurückscheute, unangenehme Dinge zu erwähnen, alles Grausame, Kranke oder Hässliche."

David Benioff befragt irgendwann die beiden Alten und denkt sich anhand der großelterlichen Erzählungen und Tabus einen Roman aus, der wohl filmreif ist, wie es dem Hollywood-Erfolgs-Drehbuchschreiber (Troya, Der Drachenläufer) gebührt: Es ist eine pittoreske, witzige und brutale Story von einem Jungen, der im von den Nazis eingeschlossenen und täglich bombardierten Leningrad im Knast landet und eine Überlebens-Chance erhält, weil er auf des sowjetischen Oberbefehlshabers Gnaden, dessen Tochter zu heiraten wünscht, zum Eier-organisieren aufs hungernde Land geschickt wird. Diese Aufgabe gerät zum vielfach lebensgefährlichen Abenteuer, bei dem eine Menge deutsches und russisches Blut vergossen wird.

Der Autor zieht dabei jedes mögliche Register, und manchmal möchte man deshalb gar nicht weiterlesen (Kannibalen im ausgehungerten Leningrad, im Wald einen Nazi-Puff mit jungen Frauen, und eine von ihnen wird unsäglich massakriert). Lew lernt während seines absonderlichen Auftrags ein Elend nach dem anderen kennen, findet einen Freund, landet bei den Partisanen und verfügt offenbar über die Gabe, wie ein Don Quichote die abscheulichsten Situationen in Serie zu überleben. Er ist ein ungelenker, beinahe noch pubertierender Held, selbst dann noch, als es ihm beinahe versehentlich gelingt, zwei deutsche Elitesoldaten im Nahkampf zu töten. Mitten im Kampfgetümmel verliebt er sich in die Partisanin Vika, eine junge Frau in stinkenden Männerkleidern, die eine begnadete Scharfschützin ist. Diese Vika wird nach Ende des Krieges mit Lew in die USA emigrieren und zur Großmutter des Autors werden.

Johanna Adorjáns Buch ist weniger blutrünstig zu lesen, und die Erlebnisse und Traumata ihrer Großeltern lassen sich teilweise nur erahnen. Man erfährt von der mühsamen Recherche der Enkelin darüber, was denn nun eigentlich gewesen ist. Adorján geht feinfühlig damit um, vorsichtig, bemüht um Genauigkeit, sie möchte niemandem wehtun in ihrer Familie, sie kämpft aber um ihr eigenes Wissenwollen und möchte den Großeltern gerecht werden. Das gelingt ihr sehr gut.

Sie hat es in mehrfacher Hinsicht schwerer als Benioff, weil sie keinen Roman vorlegt, sondern biografische Fragmente, und weil sie nicht mehr fragen kann, ob sie nun Antwort bekäme oder nicht. Das Buch beginnt mit dem Satz: "Am 13. Oktober 1991 brachten meine Großeltern sich um." Adorján gelingt es jedoch, den Doppelselbstmord ohne reißerisches Ambiente darzustellen; ihre Geschichte wirkt trotz vieler unbeantworteter Fragen und dramatischer Geschehnisse ruhig, nachdenklich und bis hin zum Freitod des alten Paares beinahe harmonisch. Sie zeichnet die Spuren nach, die der Chirurg István Adorján und seine schöne, exaltierte Gattin Vera in Budapest, Wien, Paris und Kopenhagen und vor allem in der eigenen Familie hinterlassen haben. Wie ein roter Faden erscheint dabei die fortwährende Flucht vor antisemitischen Verhältnissen (auch solchen im befreiten Ungarn), das Fremdsein in der dänischen Emigration und das Schweigen über das Grausame und Hässliche. Zu letzterem zählt die tiefe Enttäuschung der beiden ehemaligen Kommunisten über den realen ungarischen Sozialismus, vor allem aber alles, was zu Zeiten der nationalsozialistischen Judenverfolgung geschah. Dass Großvater István 1945 noch einen langen Todesmarsch in ein anderes KZ überlebt hat, erfahren die Nachgebliebenen erst nach dessen Tod.

Auch in Benioffs Roman spielt Antisemitismus eine, wenn auch untergordnetere Rolle. Der siebzehnjährige Lew muss sich von sowjetischen Knastaufsehern und sogar seinem Freund als "jüdisch" enttarnen lassen und wünscht sich, blond und blauäugig zu sein. Die Beweggründe, die Lew und Vika nach Kriegsende von Leningrad in die USA emigrieren ließen, kann man nur ahnen: Lews Vater Abraham Beniow, ein Schriftsteller, wurde bereits 1937 vom NKWD abgeholt und ist seitdem verschollen. Was den Jungen im Roman keineswegs wütend auf die sowjetischen Oberen macht, sondern auf den Vater, der kritische Artikel geschrieben hat. Auch Lew und die Partisanin Vika waren in ihrer Jugend glühende sowjetische Patrioten und wollten gute Kommunisten sein.

Beide Bücher, so unterschiedlich sie daherkommen, beruhen auf realen Über-Lebensgeschichten und sind von einer großartigen Zärtlichkeit der schreibenden Enkel für die Protagonisten geprägt.


Johanna Adorján: Eine exklusive Liebe.
Luchterhand, erscheint am 23. Februar 2009, 17.95 Euro

David Benioff: Stadt der Diebe.
Blessing, bereits erschienen, 19.95 Euro


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 536, 20.02.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2009