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ARCHITEKTUR/029: Auf den Spuren der Meister (lookit - KIT)


lookit - Ausgabe 1/2010
Das Magazin für Forschung, Lehre und Innovation
KIT - Karlsruher Institut für Technologie

Auf den Spuren der Meister

Ergebnisse der Bauhistoriker am KIT rücken mittelalterliche Kirchen und ihre Architekten in ein neues Licht.

Von Jonas Moosmüller


Der filigrane, himmelstürmende Turm des Ulmer Münsters erhebt sich direkt hinter der großen Fensterfront des Stadtarchivs. Doch für den realen Anblick des gotischen Meisterwerks, des welthöchsten Kirchturms, haben die Wissenschaftler im Inneren des Archivs gerade keine Zeit.


Mit Lupe und Zirkel untersuchen Professor Johann Josef Böker und seine drei Mitarbeiter Quadratzentimeter für Quadratzentimeter der vor ihnen ausgebreiteten mittelalterlichen Bauriss-Zeichnung: Drei Meter lang ist sie, über einen halben Meter breit, mehrere miteinander verbundene Pergamentbögen, die mit feinsten Tuschelinien, im Maßstab 1:24, den Ulmer Münsterturm zeigen. "Ein echter Traumriss", schwärmt Professor Böker über die Arbeit des "schwäbischen Stararchitekten" Ulrich von Ensingen, der im ausgehenden Mittelalter auch in Mailand und Straßburg sein Können unter Beweis stellte. Lange Zeit hätten Forscher geglaubt, den ersten Plan des Bauwerks in Händen zu halten. "Aus den unterschiedlich ausgestalteten Details konnten wir jedoch schließen, dass der Plan erst 60 Jahre nach Baubeginn, also etwa 1450, angefertigt worden sein muss", erklärt der Leiter des Instituts für Baugeschichte am KIT.

Die Bauzeichnung Meister Ulrichs ist ein kleines Puzzleteil eines ambitionierten Forschungsprojekts: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert die Wissenschaftler bei ihrem Vorhaben, den kompletten Bestand mittelalterlicher Bauzeichnungen zu erschließen. Einen Großteil der insgesamt rund 650 "Risse", die ältesten aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, haben sie in Kleinstarbeit dokumentiert, zeitlich eingegrenzt und mittelalterlichen Baumeistern zugeordnet. Neben dem mit 400 Zeichnungen umfangreichsten Bestand in Wien kommt dabei Sammlungen in Südwestdeutschland und Straßburg die größte Bedeutung zu. "Die Pläne erlauben uns, den damaligen Architekten förmlich über die Schulter zu schauen", sagt Böker. "So können wir nicht nur die Planungsgeschichte der Sakralbauten zumeist exakt rekonstruieren, sondern auch besser verstehen, wie architektonisch gedacht und gearbeitet wurde."


Gotik

Von der beherrschenden Stilrichtung des europäischen Hoch- und Spätmittelalters nördlich der Alpen zeugen heute zahlreiche mächtige Kathedralen. Charakteristisch für ihre Konstruktionsweise ist im Gegensatz zur frühmittelalterlichen Romanik der Spitzbogen, der die enorme vertikale Dimension der Bauwerke erst statisch möglich machte. Als erstes rein gotisches Bauwerk gilt die 1130-1144 errichtete Abtei von Saint Denis auf der Île-de-France. Ihrem Beispiel folgten, begünstigt durch technischen Fortschritt und die wirtschaftliche Potenz der städtischen Auftraggeber im Hochmittelalter, zahlreiche Kirchenbauten in Deutschland und England. Weniger Einfluss hatte der gotische Stil in Italien, wo der Renaissance-Architekt Giorgio Vasari den ursprünglich abwertenden Begriff "gotico", (barbarische Goten) prägte. Erst mit Goethes Aufsatz "Von deutscher Baukunst" und der Hinwendung zum Mittelalter in der Romantik erhielt die Gotik ihre heutige Wertschätzung.


An Bökers Seite arbeitet mittlerweile eine ganze Reihe junger Wissenschaftler wie Anne-Christine Brehm - Münster-Expertin für Freiburg -, Julian Hanschke, der anhand der Baupläne ganze Kirchenteile als Computermodelle rekonstruiert und auf ihre Plausibilität untersucht, oder Jean-Sébastien Sauvé, ein kanadischer Kunsthistoriker, der über das Straßburger Münsters promovierte. Gemeinsam betreten sie wissenschaftliches Neuland. Denn niemand hat sich bisher ernsthaft mit den Baurissen auseinandergesetzt: "Bis heute gilt das Vorurteil, das Mittelalter sei unfähig gewesen, Perspektiven und Maßstäbe richtig darzustellen", sagt Böker. Baurisse, die vor der Renaissance entstanden, hätte man deshalb oft als "nicht baubare Schülerzeichnungen" verunglimpft und wenn überhaupt zur Illustration wissenschaftlicher Publikationen verwendet.

Böker wehrt sich vehement gegen diese Vorstellung vom finsteren Mittelalter und breitet dazu einen neuen Plan aus: ein unscheinbares, etwa A4-großes Rissfragment mit roter Strichfarbe. Was Wissenschaftler als "irreale Architektur" abtaten, erklärt er, stellte sich nach eingehendem Studium als geometrisch präziser Sanierungsplan des Ulmer Münsters aus dem Jahr 1490 heraus. Sein Maßstab richte sich "verblüffend exakt" nach dem noch heute in den USA gebräuchlichen Duodezimalsystem. "Handwerklich waren mittelalterliche Bauzeichner ihren Kollegen aus der Neuzeit sogar weit überlegen", erklärt Böker weiter, begeistert zeigt er dabei auf die Feinheiten des Ensinger-Pergaments. Winzige Kreise und ovale Formen sind exakt konstruiert, hinzu kommen gerade Linien, die sich um keinen Millimeter verjüngen. "Echte Meisterleistungen, für die der Einsatz von Präzisionsinstrumenten nötig war".

Es ist auch die hochmittelalterliche Arbeitsweise, die es den Wissenschaftlern ermöglicht, bei ihrer Detektivarbeit Erstaunliches ans Tageslicht zu fördern: Pergamentbögen aus dicken Schweine- oder Kuhhäuten waren kostbares Material. Um keinen Abfall zu produzieren, benutzten Baumeister Vor- und Rückseite, außerdem ritzten sie ihre Entwürfe zunächst "blind" auf die Pergamentbögen, tuschten sie später aus und radierten sie bei Bauplanänderungen gegebenenfalls auch wieder aus. So stießen Böker und sein Team im Ulmer Stadtarchiv auf der Zeichnung eines Sakramentshauses aus dem 15. Jahrhundert zu ihrer Verblüffung auf einen ausradierten, verloren geglaubten Plan, den sie dem schweizerischen Fribourg zuordnen konnten - eine von vielen Entdeckungen, nach denen die Entstehungsgeschichte der Bauwerke vollkommen umgeschrieben werden musste.

"Unser Vorteil ist, dass wir als Team arbeiten und nichts isoliert betrachten", sagt Böker. So war auch die bislang aufsehenerregendste Entdeckung möglich: Als Konstrukteur des Freiburger Münsterturms - architektonisch einmalig aufgrund seines Maßwerkhelms, der zahlreichen gotischen Turmbauten als Vorbild diente - identifizierten die Wissenschaftler Erwin von Steinbach (1244-1318). Den kannte man bisher als maßgeblichen Architekten des Straßburger Münsters, den Goethe in seinem Aufsatz "Von der deutschen Baukunst" als mythischen Genius beschrieb. Der entscheidende Hinweis fand sich fast 400 Kilometer entfernt im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg: ein ausradierter Entwurf zum Straßburger Münster auf der Rückseite eines Pergaments, das den Freiburger Münsterturm, den Chor des Breisacher Münsters und eine nie gebaute elsässische Wallfahrtskirche zeigt. "Der Entwurf trug eindeutig Steinbachs Handschrift, die uns von anderen Entwürfen bekannt ist", sagt Böker stolz.

Mittlerweile sind die Bauhistoriker vom Ulmer Stadtarchiv mit seiner wertvollen Sammlung hinüber zum Münster gegangen. Winterliche Sonnenstrahlen tauchen das Innere des gigantischen Sakralbaus in helles Licht - ein fantastisches Schauspiel, das auch Böker in seinen Bann schlägt: "In jedem einzelnen Stein steckt soviel Arbeit, als hätte man ihn komplett vergoldet", sagt er bewundernd. Dann richtet er seinen Blick in die Zukunft: "Noch in diesem Jahr können wir das DFG-Projekt zu Südwestdeutschland beenden." 95 Prozent der heute bekannten Quellen sind dann erforscht. Ein bereits beantragtes Folgeprojekt soll die übrigen Baurisse in Nürnberg, Regensburg und Frankfurt katalogisieren. Die Ergebnisse sollen bei einer Ausstellung in Ulm präsentiert und möglichst bald auch als großformatige Publikation erscheinen. "Das wird nicht nur eine gigantische Wirkung auf die Forschung zu gotischen Domen haben", prophezeit Böker, "sondern eine Neuschreibung der gotischen Architekturgeschichte insgesamt auslösen."


Zur Person Johann Josef Böker

Geboren 1953 im westfälischen Dalhausen, studierte Böker Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte in Köln, Saarbrücken, Münster und Oxford. Ab 1989 lehrte und forschte er als Professor für Architekturgeschichte an der McGill University, Montréal. Während eines kurzen Forschungsaufenthalts in Wien stieß er erstmals auf gotische Bauzeichnungen. "Aus fünf Wochen wurden fünf Jahre", an deren Ende er einen Bestandskatalog der weltgrößten Sammlung gotischer Baurisse veröffentlichte. 2005 folgte er einem Ruf an die Universität Karlsruhe, "um alle zu untersuchenden Bauwerke in unmittelbarer geographischer Nähe zu haben". Am KIT leitet er zusätzlich zur Gotik-Forschung auch das Südwestdeutsche Archiv für Architektur und Ingenieurbau (saai), das zuletzt eine Ausstellung zu Fritz Leonhardt, einem der einflussreichsten deutschen Ingenieure des 20. Jahrhunderts, organisierte.


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Quelle:
lookit - Ausgabe 1/2010, S. 24-27
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2010