Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → LESEN UND LERNEN

BÜCHER/0469: "Maia oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf" von Eva Ibbotson (SB)


Maia
oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf

von Eva Ibbotson

erschienen bei Cecilie Dressler Verlag


Aus der Bücherei der nächsten Stadt bringt mir meine Mutter oft einen ganzen Stapel Bücher als Lesevorrat für einige Wochen mit. Manche Bücher lesen wir gemeinsam, mit anderen stürze ich mich allein ins Abenteuer. Dieses Mal hatte sie mir für die Ferien nur 5 Bücher besorgt und drei davon hatte ich bereits erobert. So blieb nur noch ein Sachbuch und das Kinderbuch "Maia oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf" übrig.

"Maia" hatte meine Mutter schon einige Male ausgeliehen - das erste Mal vor vier Jahren. Ich hatte es nie angerührt, weil mich das Wort "Korsett" abschreckte und ich das Bild auf dem Umschlag auch nicht gerade aufregend fand. Doch dieses Mal hatte ich wohl keine Wahl. Es blieb mir nichts anderes an Lesestoff übrig, wenn ich nicht auf die Romanschinken meiner Mutter zurückgreifen wollte. Ich begann also zu lesen ...


... von Maia, dem Waisenkind, das in das Internat "Mayfair-Akademie für junge Damen" geht. Maia hat Vater und Mutter bei einem Unfall verloren. Nun wird nach Verwandten gesucht, die sich um sie kümmern und sie vielleicht bei sich aufnehmen. Diese Verwandten werden auch gefunden. Allerdings leben sie in Brasilien. Sie sind vor Jahren ausgewandert. Mr und Mrs Carter erklären sich bereit, Maia in ihrem Haus aufzunehmen und mit ihren beiden eigenen Mädchen, den Zwillingen Beatrice und Gwendolyn, großzuziehen.

Brasilien - was wird Maia dort erwarten? Maias Lehrerin gibt den Mädchen ihrer Klasse gleich eine passende Hausaufgabe in Geographie auf: zum nächsten Unterricht soll jede etwas über Brasilien und den Amazonas herausfinden. Die Mädchen berichten von riesigen Krokodilen, Alligatoren genannt, die einem "mit einem Haps den Kopf abbeißen können"; von Piranhas, die wie ganz gewöhnliche Fische aussehen, aber einem "Stück für Stück das Fleisch von den Knochen reißen"; von Mücken, "deren Stich Gelbfieber" überträgt und davon, daß es dort so heiß sei, "dass einem das Wasser wie in Eimern vom Körper läuft, so schwitzt man".

Maia können diese gruseligen Vorstellungen nicht schockieren. Auch sie hat über Brasilien einiges in der Schulbibliothek gelesen und folgendes herausgefunden:

"Der Amazonas ist der mächtigste Fluss der Welt. Der Nil ist zwar etwas länger, aber der Amazonas führt das meiste Wasser. Man nennt ihn deswegen auch Flußmeer und überall in Brasilien gibt es Flüsse, die in ihn münden. Manche von ihnen sind schwarz und manche braun und die, die aus dem Süden kommen, sind blau; das hängt davon ab, was unter dem Wasser ist.
   Ich werde auf einem Schiff der Booth Line fahren; den Atlantik zu überqueren dauert vier Wochen. Und wenn ich in Brasilien angekommen bin, muss ich noch tausend Meilen auf dem Fluss reisen, zwischen Bäumen hindurch, deren Zweige ins Wasser hängen; es gibt scharlachrote Vögel und Sandbänke und eine Art großer Meerschweinchen, die man Capa... Capybaras nennt und die man zähmen kann.
   Nach weiteren zwei Wochen auf dem Schiff erreiche ich die Stadt Manaus, dort ist es wunderschön. Es gibt ein Theater mit einem grüngoldenen Dach und Geschäfte und Hotels, geradeso wie hier. Die Gummipflanzer sind nämlich sehr reich geworden und konnten eine solche Stadt mitten im Dschungel errichten. Dort werde ich von Mr und Mrs Carter und von Beatrice und Gwendolyn erwartet ..."
(Seite 14/15)

Abschiednehmen fällt schwer. Doch die Aussicht, das wunderbare Land Brasilien kennen zu lernen, weckt Maias Abenteuerlust. Leider kommt alles anders. Zwar leben die Carters in dem exotischen Brasilien - die Geschichte spielt 1910 -, lassen aber von ihrer englischen Lebensweise nicht ab. Sie verbarrikadieren sich quasi in ihrem Haus und verlassen es selten, um bloß nicht von "Ungeziefer" wie Mücken oder Kakerlaken gestochen oder gebissen zu werden. Sie essen nichts von den leckeren Früchten und Gemüsen, die hier in Süd-Amerika wachsen, sondern importierten alle Lebensmittel in Büchsen und Paketen aus England, und sie pflegen keinen Kontakt zu den Einheimischen. Diese lassen sie nur für sich arbeiten. Die Carters teilen nicht die Meinung des Polizeichefs, des Colonel da Silva, der über die Menschen in Brasilien sagt: "Es gibt hier sehr viele Mischehen und wir sind stolz auf all unsere Vorfahren." (Seite 90)

Zum Glück ist mit Maia auch Miss Minton als Gouvernante für die drei Mädchen mitgekommen. Sie ist für Maia wie eine Freundin oder etwa doch nicht? Wieso lassen alle sie im Stich? Zuerst die Eltern; dann ihr Freund Clovis, der Schauspielerjunge, den sie auf der Überfahrt kennenlernt und der so gut den Kleinen Lord spielen kann; dann Finn, der Halbindianer, der den Stamm seiner Mutter ausfindig machen will, und nun auch noch Miss Minton, deren Koffer bereits gepackt ist, aber die Maia nichts von einem Weggehen verraten hat ...


Maias Geschichte ist voll von Sehnsüchten, Freundschaften und Veränderungen, von Situationen, in die es sich zu fügen schickt oder deren Ausgang jeder einzelne am besten selbst in die Hand nimmt. Die Spannung steigt dadurch, daß die Geschichte nicht nur aus der Sicht von Maia erzählt wird, sondern der Leser auch mit Clovis, Finn, Miss Minton und dem Professor des Museums in Manaus, ja sogar manchmal mit den Zwillingen und deren Eltern mitfiebert und mitleidet ...


*


Das Buch ging mir so nahe, daß ich beschloß, die Schriftstellerin zu bitten, eine Fortsetzung zu schreiben, und ich sah im Internet nach. Dort fand ich ein Interview mit der Autorin Eva Ibbotson, in dem sie über ihr Leben berichtet und erzählt, was ihr für ihre Geschichten wichtig ist: "Ich brauche ein glückliches Ende. Wenn jemand mir eine Million Pfund bieten würde für einen unglücklichen Schluss, ich würde das Geld zurückgeben." Außerdem erzählte sie, daß für sie Humor ungeheuer wichtig sei.

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/485429/
(Deutschlandfunk Büchermarkt - Interview mit Eva Ibbotson vom 11.02.2006)


Bei meinem Vorhaben, Eva Ibbotson zu schreiben, fand ich heraus, daß sie leider im vergangenen Jahr verstorben ist.

Dennoch hier meine Zeilen an sie:

Liebe Frau Ibbotson
Es tut mir leid, daß ich ihre Geschichte von Maia nicht schon früher gelesen habe, denn dann hätte ich ihnen sagen können, wie gern ich einen Fortsetzungsband gelesen hätte. Sie hätten sicher einen Weg gefunden, wie die beiden Zwillinge Clovis in peinliche Situationen gebracht hätten, und wie er glanzvoll daraus wieder hervorgeht; wie Finn vielleicht ein versöhnliches Gespräch mit seinem Großvater führt und was vor allem aus Maia und Miss Minton wird, die sicher noch so einiges bei den Indianern am Amazonas erleben könnten. Schade, daß ich mir jetzt die ganzen Geschichten allein ausspinnen muß.


*


Für alle, die wie ich auf den Geschmack gekommen sind, liste ich noch ein paar weitere Buchtitel von Eva Ibbotson auf. Leider stimmen die deutschen Titel oft nicht mit dem Originaltitel überein:

- Die Morgengabe
- Die Vertraute
- Hecky Hexe oder Das Geheimnis der Hexen von Wellbridge
- Ein Hauch von Jasmin
- Sommerglanz
- Das Geheimnis von Bahnsteig 13
- Das Lied eines Sommers
- Sternenmelodie
- Die kleine Komtesse oder Vicky und der Weihnachtsengel
- Das Geheimnis der 7. Hexe
- Das Geheimnis der verborgenen Insel
- Das Geheimnis des wandernden Schlosses
- Das Geheimnis der verborgenen Insel
- Maia oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf
- Annika und der Stern von Kazan
- Das Geheimnis der Geister von Craggyford
   oder Rick und die Spukgesellen oder Aktion Geisterrettung
- Das Geheimnis der schottischen Füße

Im August 2011 soll folgendes Buch erscheinen:
Das Geheimnis der sprechenden Tiere


*


Maia oder Als Miss Minton ihr Korsett in den Amazonas warf
Text von Eva Ibbotson
Einbandillustration von Peter Gut
aus dem Englischen von Sabine Ludwig
erschienen im Februar 2003
bei Cecilie Dressler Verlag, Hamburg
320 Seiten, gebunden
15 x 21 cm
ab 10 Jahren
EUR 13,90
ISBN-13: 978-3-7915-1009-5

Auszeichnungen:
04.2003 - Die besten 7 Bücher für junge Leser (DeutschlandRadio / Focus)
07.2003 - Die Kinder- und Jugendbuchliste (RB/SR)



1. Juni 2011