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TIERGESCHICHTEN/016: Wir verstehen sich ... (SB)



Der erste Herbststurm tobte über das Land und zerrte an Ästen und Zweigen. Bald wurde es ruhiger, die Luft klarer und kühler und stetig taumelten die welken Blätter von den Bäumen. Eine dichte Laubschicht bedeckte den Boden.

Eines Morgens trat die alte Frau ans Fenster, stützte sich aufs Sims und blickte aus ihrer warmen Stube hinaus in ihren Garten. "Tja, da muss ich wohl hinaus und das Laub zusammenharken." Sie setzte sich kurz an den Tisch, trank ihre Tasse Tee aus, zog sich warme Sachen an und begab sich an die kühle, frische Luft. Die Tür vom Geräteschuppen quietschte und klemmte, doch schließlich gelang es ihr, sie zu öffnen.

Als sie nach der Laubharke griff, fiel ihr Blick auf die Porzellanschüssel. "Ah, ja, Rotkehlchen wird bald kommen. Da werd ich die Schüssel schon mal draußen an ihren Platz stellen und mit frischem Wasser füllen", dachte sie und bugsierte Schüssel und Harke in den Garten. Die alte Frau war schon eine Weile am Harken und hatte bereits einen sehr ansehnlichen Blätterhaufen zusammen, als sie es plötzlich plätschern hörte. "Nanu? Das ist aber merkwürdig, da scheinen mir ja gleich ganz viele Rotkehlchen im Wasser zu baden. Das sehe ich mir doch mal genauer an", sprach`s, legte die Laubharke hin und schlich sich vorsichtig in Richtung Schüssel, lehnte sich an die Hausecke und staunte nicht schlecht. Rotkelchen ging hier nicht zu Werke, nein, ein struppiger schwarzer Hund schlabberte das Wasser auf. "Hey, was machst du denn da? Hast du kein Zuhause, wo du trinken kannst? Los, verschwinde, geh zu Herrchen oder Frauchen, die geben dir bestimmt etwas!"

Der Hund hob seinen Kopf, legte ihn schief, sah die Frau mit traurigen Hundeaugen an, blieb stehen und setzte sich dann neben die nun leere Schüssel.

"Na, jetzt geh schon, du wirst bestimmt schon vermisst. Ksch, ksch, ksch", fauchte sie etwas energischer. Schließlich trollte sich der schwarze Hund und verschwand im Gebüsch. Die Frau nahm die Wasserschüssel auf, ging ins Haus, füllte sie erneut mit Wasser und stellte sie an den alten Platz. Kaum hatte sie das getan, da raschelte es, als würde jemand mit Laub werfen. Mit schnellen Schritten bog sie um die Hausecke und sah die Bescherung. Ihr fein säuberlich zusammengefegter Blätterhaufen war verschwunden. Zwischen dem weit verstreuten Laub scharrte der schwarze Hund auf dem Rasen, so dass Blätter und Grasbüschel nur so flogen. "Hund, was soll das?", bestürzt schimpfte die alte Frau. Der Übeltäter aber setzte sich brav hin und winselte. Seine großen, traurigen Augen stimmte sie nachdenklich. "Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Hast vielleicht gar kein Zuhause?", sprach sie nun sanft zu dem Tier.

Plötzlich lauschte sie, war da nicht ein Plätschern zu hören, nur diesmal viel leiser? "Hey, Hund, hörst du das auch?" Vorsichtig schlich sie sich zur Hausecke und freute sich, als sie tatsächlich Rotkehlen in der Schüssel sah, das vergnüglich ein Bad nahm. Es plusterte sich auf, tauchte wieder ins Nass, schüttelte sein Gefieder und hüpfte ein wenig auf und nieder, auf dass das Schauspiel von Neuem beginnen konnte.


Der kleine Vogel sitzt mit ausgebreiteten Flügeln in der Wasserschüssel - Buntstiftzeichnung: © 2021 by Schattenblick

Rotkehlchen beim fröhlichen Baden
Buntstiftzeichnung: © 2021 by Schattenblick


Ohne sich zu bewegen, beobachtete die alte Frau den kleinen Vogel, den sie schon sehnsüchtig erwartet hatte. Während sie so dastand, spürte sie auf einmal eine leichte, sanfte Berührung von Fellhaaren an ihrem Bein. Sie blickte hinab auf den schwarzen Hund, der treuherzig zu ihr hinaufschaute. In diese Stille Trautheit drang ganz überraschend ein fauchendes "Miau". Geschmeidig sprang das Katzentier auf das badende Rotkehlchen zu. "Oje", dachte die Frau, "das ist sein Ende ..." und noch bevor sie Rotkehlchen durch lautes Klatschen in die Hände warnen konnte, sprang der Hund der Katze in den Weg, so dass sie direkt auf seinem Rücken landete. Um Halt zu finden, schlug sie ihre Krallen in sein Rückenfell, kreischte ein giftiges "Miauuuu" und ergriff eiligst die Flucht in den Nachbargarten. Der schwarze Hund jaulte auf und trottete winselnd auf die Frau zu. Rotkehlchen war verschwunden.

Traurig beugte sich die Frau zum Hund und untersuchte seinen Rücken. "Oje, da hat dich die blöde Katze doch erwischt. Ich werde die Kratzer wohl besser säubern und desinfizieren", erklärte sie dem Hund. Dabei fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, wie sie ihn nennen sollte. Solange du bei mir bist, heißt du ganz einfach "Hund". Geht das in Ordnung?" Das leise Fiepen nahm sie als ein "Ja" und forderte ihn auf, mit ins Haus zu kommen. Brav folgte er ihr. Sorgfältig verarztete sie ihn. "Irgendwo musst du doch eine Hundemarke haben", flüsterte sie, doch finden konnte sie keine. "Hund, du bleibst erst einmal hier bei mir. Du kannst bei dem kalten Wetter nicht draußen bleiben!" Dann knöpfte sie ihre Jacke zu: "Hey, Hund, hast du mich verstanden? Du bleibst hier und ich harke noch das Laub aus dem Haufen zusammen, den du so wunderbar zerstört hast!", lachte sie und schloss die Tür hinter sich.

Draußen wurde sie erwartet. Rotkehlchen saß auf einem Zweig und als es die alte Frau erkannte, flog es hinab auf den Gartentisch, hüpfte aufgeregt hin und her und noch ein wenig weiter in Richtung Frau.

"Hallo, Rotkehlchen, da kannst du aber von Glück sagen, dass die Katze dich nicht erwischt hat!"

"Na ja, eigentlich hat mich der Hund gerettet", piepste der kleine Vogel.

"Ja, ja, richtig. Willst du dich bei ihm bedanken?"

"Sicher, aber zunächst einmal habe ich riesigen Hunger und würde mich freuen, wenn du mir etwas zu Fressen geben könntest?", bat Rotkehlchen

"Oh ja, natürlich bekommst du etwas Feines. Ich hab doch schon extra Vogelfutter eingekauft. Du muss wissen, dass ich dich schon erwartet habe. Na ja, sagen wir mal, ich habe gehofft, dass du auch dieses Jahr den Winter wieder bei mir verbringen wirst."

Als die Frau so mit dem Rotkehlchen sprach, erschrak sie plötzlich und fasste sich an den Kopf. "Was mache ich denn? Ich rede mit einem Vogel und er antwortet mir. Fange ich nun an zu spinnen?" Sie war ziemlich verwirrt.

"Was ist mit dir, gute Frau?", wollte Rotkehlchen wissen.

"Tiere, also Vögel können nicht sprechen - und du tust es! Das kann doch nicht sein, das gibt es nicht", beharrte die alte Frau.

"Nun, wir unterhalten uns doch ganz prima, oder?", lachte das Rotkehlchen, "aber wenn es dich beruhigt, dann lasse ich das sein, das mit dem Sprechen. Doch eines möchte ich dir noch mitteilen. Es gibt Menschen, die die Tiere auf eine ganz eigene Art verstehen und die so zu uns sprechen, dass wir wissen, was sie uns sagen wollen."

Die Frau traute ihren Ohren nicht und schüttelte den Kopf, als wollte sie alles darin wieder an den rechten Platz räumen. Als sie zu dem kleinen Vogel blickte, hörte sie nur ein leises Piepsen, genauso, wie sie es von Rotkehlchen kannte.

Nachdem sie dem Vogel Futter hingestreut hatte, schritt sie nachdenklich ins Haus. Dort wurde sie von Hund freudig erwartet, dem sie nun von ihrem merkwürdigen Erlebnis mit Rotkelchen ausführlich berichtete.

Ende


1. Dezember 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 170 vom 4. Dezember 2021


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