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TIERGESCHICHTEN/011: Lern lieber fliegen ... (SB)



Irgendwo hoch in den Zweigen eines mächtigen Baumes befand sich das Krähennest. Nach einer langen Zeit des Brütens schlüpften drei winzige Krähenküken aus ihrem Ei. Noch bot das Nestgeflecht für alle ausreichend Platz. Doch das sollte sich schon bald ändern. Mit dem Verlust des erstens Flaums wuchsen den Kleinen richtige Vogelfedern und auch an Umfang nahmen sie erstaunlich rasch zu. Kein Wunder, denn die Kräheneltern waren unentwegt dabei, Nahrung heranzuschaffen und ihre Krähenkinder zu füttern, und die waren mit einem schier unersättlichen Appetit gesegnet. Tagein, tagaus sperrten die Jungvögel ihre Schnäbel auf und forderten nach noch mehr Leckerbissen. Schließlich kam die Zeit, da es ans Fliegenlernen ging. Und genau damit beginnt eine ungeheuerliche Begebenheit, die einer der kleinen Krähen beinahe das Leben kostete.

Geben wir den Dreien Namen und nennen sie Jan, Ole und Uwe. Die beiden Erstgeschlüpften Jan und Ole zeigten einen besonnenen und ernsthaften Charakter. Sie lauschten den Hinweisen ihrer Eltern und bemühten sich, ihren Anweisungen zum Fliegen Folge zu leisten. Bald schon starteten sie ihre ersten Flugversuche. Doch Uwe, der Jüngste, war ein Faulpelz. "So schwer wird das mit dem Fliegen schon nicht sein. Ich mache es mir hier lieber im Nest gemütlich, während die anderen üben", dachte er bei sich. Zuhören war zudem nicht seine Stärke, da er stets in seinen eigenen Traumwelten spazieren ging. Als aber seine Brüder ihre Schwingen ausbreiteten und sich stolz in die Lüfte erhoben, dann vor dem Nest ihre Flugkünste zeigten, blickte ihnen Uwe doch neidisch hinterher. Lange zögerte er nicht. "Das kann ich auch!", tönte er laut und kletterte auf den Rand des Nestes. Bei dem Blick hinunter wurde ihm zwar etwas mulmig zumute, aber nun gab es kein Zurück mehr. Mit ausgebreiteten Flügeln stürzte er sich hinab. Aber, oh weh! Er flog gar nicht, er fiel! Wild flatterte er um sich und konnte jedoch keinen Halt finden. Unsanft landete er auf dem Boden, umgeben von hohem Gras.


Die Krähe stürzt wild flatternd den hohen Baum hinab - Buntstiftzeichnung: © 2021 by Schattenblick

Der kleinen Krähe misslingt der erste Flugversuch
Buntstiftzeichnung: © 2021 by Schattenblick


Ganz benommen blickte er sich um, schüttelte sich und schrie aus Leibeskräften nach seiner Mutter. Doch sie kam nicht. Wahrscheinlich flog sie gerade in der Nähe herum, um Futter herbeizuschaffen. Erst jetzt erschrak die kleine Krähe Uwe, denn hier unten auf dem Boden sah alles ganz befremdlich aus. Hohe grüne Halme ringsum und als sie den Kopf in den Nacken legte, um nach oben zu schauen, fiel ihr Blick auf den riesigen Stamm des Baumes, auf dem sich ihr Nest befand. Wieder hob Uwe zu einem lauten Krächzen an. Oben am Nestrand beugten sich seine Brüder hinab, doch helfen konnten sie ihm nicht. Jan und Ole brüllten ihrem kleinen Bruder zu, er möge doch versuchen, zu fliegen. "Du musst deine Flügel auf und ab bewegen, sieh her, so ungefähr!", wies Jan ihn an und vollführte eben solche Flugbewegungen.

Uwe schaute zu und bemühte sich tatsächlich, seine Schwingen auf und ab zu heben. Doch statt zu fliegen, drehte er sich im Kreis, schwankte und wankte, stolperte und schrie aus lauter Verzweiflung: "Hilfe, ich kann das nicht, so helft mir doch!" Seine Brüder wussten nicht, was sie unternehmen sollten. Da näherte sich die Mutter-Krähe, landete auf dem Nest und fragte besorgt: "Wo ist Uwe?" Jan und Ole deuteten mit ihren Schnäbeln nach unten. Da zögerte sie keine Sekunde und flog hinab. "Ich hab Hunger, ich hab Hunger!", schrie Uwe. Nachdem sich Mutter-Krähe davon überzeugt hatte, dass dieser kleine Kerl keinen weiteren Schaden genommen hatte, hob sie ihre Schwingen und flog nochmals los, um für den Abgestürzten etwas Essbares zu beschaffen.

Als Uwe das sah, beruhigte er sich. Nun war er sich sicher, dass seine Mutter sich um ihn kümmern würde, auch wenn er hier am Boden lag. Gerade als er wieder guten Mutes war, weckte ein deutlich vernehmbares Rascheln seine Aufmerksamkeit. Still und reglos starrte er in die Richtung, und nur wenige Augenblicke später stand eine riesige Katze vor ihm. Sie fauchte, setzte zum Sprung an und zwar so, dass sie ihn mit ihren krallenbewehrten Tatzen zerrissen hätte. Uwe blieb das Herz stehen. Das war sein Ende. Hier gab es für ihn kein Entkommen. Diese gierige Katze war schnell, viel zu schnell. Hätte er fliegen können, wäre es kein Problem für ihn, diesem Raubtier zu entfliehen - aber eben das konnte er nicht. Kampflos wollte er sich jedoch nicht ergeben. Wozu hatte er einen kräftigen Schnabel? Zu allem bereit, erhob er sich und baute sich mit ausgebreiteten Schwingen vor der Katze auf. Das Katzentier schien davon wenig beeindruckt, es fauchte abermals ganz schrecklich böse und laut.

Nun wusste Uwe nicht mehr ein noch aus und voller Angst schrie er nach Mutter-Krähe, schrie wieder und wieder nach seinen Brüdern. Doch nichts geschah. Gerade als er sich vom Leben verabschiedet hatte, sah er ein Krähenpaar wild und wütend auf die Katze zustürzen. Von der anderen Seite eilte laut krächzend eine stattliche Krähe herbei und hieb der sprungbereiten Katze ihren Schnabel in den Rücken. Als dann auch noch ein weiterer Angriff aus der Luft drohte, ergriff sie mit einem wütenden Fauchen die Flucht und suchte das Weite im dichten Gebüsch.

Die große mutige Krähe war niemand anderes als Vater-Krähe, der just von einem Erkundungsflug zurückkehrte und die Hilferufe hörte. Die kleine Krähe Uwe atmete erleichtert auf. Umringt von seinen Brüdern, seiner Mutter und seinem Vater flatterte er wild im Kreis und schimpfte: "Was bin ich für ein Dummdussel, dass ich noch nicht fliegen kann, so wie Jan und Ole. Hättet ihr mich nicht gerettet, wäre ich jetzt tot. Ich will sofort fliegen lernen, bitte sagt mir, womit ich beginnen soll."

"Nun, du hast es dir unnötig schwer gemacht, denn hier auf dem Erdboden ist es nicht leicht fliegen zu lernen. Es wäre einfacher gewesen, all das im Nest zu erledigen. Vielleicht zeigen dir deine Brüder, was sie gelernt haben. Ich fliege wieder los, um für unser Essen zu sorgen. So gesprochen erhob sich Mutter-Krähe und verschwand hinter den Baumwipfeln. Vater-Krähe schüttelte den Kopf über seinen Jüngsten, aber statt ihm noch eine Standpauke zu halten, verteilte er seine leckeren Mitbringsel. "Dann seht mal zu, dass ihr alle rasch ins Nest zurückkommt und keine Angst, wir passen auf euch auf!" Auch Vater-Krähe schlug kräftig mit den Flügeln und erhob sich in die Luft.

Etwas ratlos sahen sich die Brüder an, dann hatte Ole eine Idee. "Ich glaube Uwe muss ganz schnell rennen und dann einen großen Hüpfer machen und kräftig mit den Flügeln schlagen." - "Ah, du meinst ungefähr so?", lachte Jan, rannte los und vollführte einige Sprünge, dabei schlug er seine Schwingen auf und nieder. Mit offenem Schnabel staunte Uwe über die Idee seiner Brüder. "Los Uwe, nun bist du dran! Streng dich an!", forderte Jan. Beim ersten Mal stolperte er und landete auf dem Bauch. Ärgerlich rappelte er sich wieder auf und hatte schon keine Lust mehr. "So geht das nicht!", schimpfte er. Aber seine Brüder ließen nicht locker. "Los Uwe, gleich noch mal, wozu hast du zwei Füße und zwei Flügel?", spornte Ole ihn an. Hier unten sitzen bleiben wollte Uwe auf keinen Fall. Missmutig unternahm der den nächsten Versuch, der schon viel besser aussah. So dauerte es noch eine ganze Weile, bis die kleine Krähe Uwe fliegend, froh und mächtig stolz, seinen Brüdern ins Nest folgen konnte.

Ende


15. Juni 2021

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 22. Juni 2021


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