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TIERGESCHICHTEN/001: Ein Floh zum Kaffee (SB)



Ein Floh zum Kaffee


Vor ein paar Jahren gab es noch viel mehr Igel als das heute der Fall ist. Einer der stacheligen Gesellen war sogar Stammgast bei uns im Garten, auch wenn man ihn nicht immer zu Gesicht bekam.

Vom Wohnzimmer meiner Oma aus konnte man direkt in den Garten gehen, und oft saß sie dort in ihrem Stuhl auf den Steinfliesen und ließ sich von der Sonne bescheinen. Aber an dem Tag, von dem diese Geschichte erzählt, sollte es Kaffee und Kuchen bei ihr geben. Die ganze Familie war zu Gast. Mein Vater, meine Mutter, meine beiden Geschwister, die neun beziehungsweise zehn Jahre älter sind als ich, meine andere Oma und selbstverständlich der Opa, der natürlich nicht zu Gast war, weil er ja mit meiner Oma zusammenlebte.

Also, Oma hantierte noch in der Küche, und da der Kaffee noch nicht ganz fertig war, trieben sich alle anderen im Garten herum. Da entdeckte ich den Igel. Er steckte gerade seine Nase durch die dichten Äste eines Kiefernbusches, unter dem er sein Versteck hatte. Schnell rief ich meinen Bruder, der ganz in der Nähe stand, und gemeinsam bestaunten wir den behäbigen Stachelmax, der vorsichtig sein schwarz glänzendes Näschen nach vorne schob und mutig ein paar Trippelschritte in unsere Richtung eilte, als hätte er uns gar nicht bemerkt. Ich näherte mich ihm vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken. Doch da stutzte er schon, wackelte mit seiner beweglichen Schnauze prüfend in der Luft herum und zog seine vorwitzige Nase ganz schnell ein, als ich noch einen Schritt näher kam.

Ich hockte mich vor ihn hin und berührte ihn sacht an seinem pelzigen Gesichtchen. Doch das mochte er gar nicht. Er zuckte heftig zusammen und rollte sich sofort zu einer Kugel ein. Mein Bruder war nun auch herangekommen, und wir gerieten darüber in Streit, ob man so eine Stachelkugel in die Hand nehmen kann oder nicht. Ich war der Meinung, daß die Stacheln viel zu spitz seien und man sich bestimmt daran verletzen würde. Mein Bruder beharrte darauf, daß das nicht stimme und man den Igel nur richtig anfassen müsse. Zum Beweis umfaßte er den Igel mit beiden Händen und hob ihn langsam hoch. Das arme Kerlchen zog sich noch weiter in sich zurück. Mein Bruder legte ihn nun mit dem Bauch nach oben auf seine Handfläche. So bestaunten wir ihn von unten, obwohl er da kaum anders aussah als von oben. Nur eine Mulde in dem dichten Stachelwald verriet, daß der Igel darunter seinen Bauch und seinen Kopf verbarg.

Ich wollte ihn jetzt auch einmal halten, und so legte mein Bruder ihn mir auf die geöffneten Handflächen. Ich war erstaunt, wie schwer der Igel war. Er war wohl schon recht alt. Tatsächlich, ich mußte zugeben, daß die Stacheln gar nicht so weh taten. Dann setzten wir ihn wieder unter seinen Busch und beobachteten ihn eine Weile, in der Hoffnung, sein Kopf würde wieder zum Vorschein kommen. Bestimmt fünf Minuten warteten wir, da glätteten sich plötzlich die in alle Richtungen stakenden Stacheln, und das schwarze glänzende Kugelnäschen tastete sich vorsichtig unter der Kugel hervor. Neugierig tanzte es hin und her, dann folgte die Schnauze mit den winzigen Äuglein. Die krallenbewehrten Pfötchen schlüpften ebenfalls aus dem weichen Bauchfell heraus, und schon machte sich der Igel wieder auf den Weg.

Meine Oma rief: "Der Kaffee ist fertig!" Und wir rannten die paar Schritte zum Wohnzimmer zurück. "Wo wart ihr denn?", fragte uns meine Mutter, und wir erzählten ihr von dem Igel. "Na ein Glück, daß ihr ihn nicht auch noch mitgebracht habt, der hatte doch bestimmt eine ganze Menge Flöhe. Geht euch bloß schnell die Hände waschen, es steht schon alles auf dem Tisch." Gesagt, getan, wir beeilten uns, um ja auch die größten Tortenstücke abzukriegen.

Als wir dann eine ganze Weile so nebeneinander auf dem Sofa saßen - bequem zurückgelehnt, den Kuchenteller in der Hand - und uns über die Schwarzwälder Kirschtorte hermachten, da wurde mein Blick von einem winzigen hüpfenden Etwas abgelenkt, das sich über meinen Arm verdächtig schnell dem Kuchenteller näherte. Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Mein Bruder schaute mich verwundert an und sah, wie meine Augen sich auf das ungefähr stecknadelkopfgroße Wesen hefteten, das inzwischen auf dem Griff der Kuchengabel angelangt war, mit der ich eben noch ein Stück Torte abstechen wollte.

Ich rührte mich nicht und der Floh rührte sich nicht. Hilfesuchend wanderte mein Blick zu meinem Bruder, der die Augen verdrehte und mir in verschwörerischem Tonfall zuflüsterte: "Laß dir bloß nichts anmerken, daß das nur nicht die Oma sieht, die kriegt ja einen Herzanfall!"

Ich schaute unauffällig in die Runde und registrierte beruhigt, daß alle viel zu sehr mit ihrer Torte beschäftigt waren, um irgendetwas zu bemerken. Der Floh war inzwischen auf den Tellerrand gesprungen, was mir wieder mehr Sorgen bereitete. Möglichst unauffällig versuchte ich ihn mit dem Finger zu verscheuchen. Doch den Gefallen tat er mir nicht. Zu meinem Entsetzen machte er einen gewaltigen Satz und landete auf dem mit einem weißen Tischtuch gedeckten Tisch. Ich hätte nie für möglich gehalten, daß Flöhe so weit springen können.

Der Schweiß brach mir aus. Hastig steckte ich einen Happen Torte in den Mund, um mich nicht zu verraten und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie der Floh in kleinen Sprüngen quer über den Tisch hopste, vorbei an Kaffeetassen und Schalen voll Sahne und Gott sei Dank nicht auf die Idee kam, einem der anderen Kuchenteller einen Besuch abzustatten. Die Umsitzenden waren zum Glück in ein interessantes Gespräch verwickelt, so daß ihnen nichts auffiel. Gespannt verfolgte ich weiter den Weg des Flohs. Mehrmals entschwand er meinem Blickfeld. Doch erleichtert konnte ich dann gerade noch beobachten, daß er am anderen Ende der Tafel auf den Boden hopste und auf dem gemusterten Teppich nicht mehr zu sehen war. Ich hörte meinen Bruder neben mir aufatmen und bemerkte erst jetzt, daß er genauso den abenteuerlichen Weg des Flohs verfolgt hatte wie ich.

Wir grinsten uns an und holten in kürzester Zeit nach, was wir in unserer Aufregung nicht gewagt hatten - zu essen. Außer meinem Bruder und mir hat keiner der Anwesenden etwas von dem Floh gemerkt, und es ist auch bis heute unser Geheimnis geblieben.

Zeichnung: Floh zum Kaffee - © 2010 by Schattenblick

Erstveröffentlichung am 12. September 1997

7. August 2010