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KALENDERGESCHICHTEN/085: 01-2018   Verkehrte Welt - die häßliche Maus ... (SB)


Das kleine Entchen steht vor der Schwelle, die Maus hinter ihr - Buntstiftzeichnung © 2017 by Schattenblick

Ein kleines Entchen befreite sich aus seiner engen Behausung und tat seinen ersten Schritt in die Welt. Rund herum lag noch die Eierschale, zerbrochen in viele Teile wie Scherbenstücke. Entchen schüttelte sich, seine Flaumfedern waren noch feucht und klebrig. Suchend blickte es sich um, doch niemand war bei ihm. Es war ganz allein. Mutig hob es sein Köpfchen, denn es wusste nicht, dass es nicht richtig ist, allein zu sein. Aber eines wusste es schon ganz genau - es gefiel ihm hier nicht. Es war dunkel und irgendwie ungemütlich. Aber wohin sollte es gehen, welche Richtung einschlagen? Ungelenk und wackelig drehte es sich im Kreis bis es einen Lichtstrahl entdeckte. Die Entscheidung war gefallen, dorthin sollten seine kleinen Entenfüße es tragen. Mit jedem Schritt wurde es heller und heller bis Entchen schließlich auf ein Hindernis traf. Eine Türschwelle, die jedes Kind leicht überschreiten könnte, doch für das kleine Flaumtier türmte sich hier ein klobiger Holzbalken auf und versperrte ihm den Weg.

"Oh je, was ist denn das? Wie soll ich denn da drüber kommen?", dachte es bei sich, ohne zu merken, dass es laut gesprochen hatte.

"Das ist gar nicht so schwer, ich zeig 's dir!"

Erschrocken drehte sich Entchen in Richtung der fremden Stimme. Da stand dicht hinter ihm ein graues, kleines Etwas mit großen Ohren, schwarzen Kulleraugen und einem langen dünnen Schwanz. Entchen staunte und starrte das Fremde einfach nur an.

"Hey, was schaust du mich an, als wollte ich dich fressen, also wirklich. Da will man schon mal helfen und wird gleich -", weiter sprach die Maus nicht, denn Entchen unterbrach sie.

"Oh! Wer bist du?"

"Ha, du bist wirklich neu hier, denn hier kennt mich jeder. Ich bin der mutige, starke, furchtlose, unbesiegbare Henry Maus!", tönte der Mäuserich und warf sich voller Stolz in die Brust.

"Hmmm, hast du aber einen langen Namen, ich weiß nicht, ob ich mir den merken kann. Darf ich vielleicht einfach Henry zu dir sagen?", erkundigte sich das Entchen.

"Aber klar doch, keine Sache, das geht in Ordnung. Aber nun mal raus damit, wie heißt du und wo kommst du so plötzlich her?"

"Von dahinten, ich kann es dir zeigen, aber wie ich heiße? Hmmm, ich weiß nicht. Bisher hat mich niemand irgendwie genannt oder gerufen. Es war aber auch einfach gar niemand da", erklärte es.

"Na also, ist das denn die Möglichkeit, wo gibt 's denn so was?" Henry Maus überlegte einen kleinen Augenblick und verkündete dann feierlich: "Dann werde ich dir einen Namen geben, einverstanden?"

"Ja bitte, aber nicht einen so ganz langen, den ich nicht behalten kann."

"Klar, du siehst für mich aus wie eine Ente Gina, ja, du solltest Gina heißen", schlug er entschieden vor.

"Eine Ente? Eine Ente Gina? Gina, Gina, ja, das hört sich gut an, das gefällt mir", rief sie begeistert.

"Gut, dann ist das abgemacht, Gina", probierte er gleich mal den Namen aus, "und nun zeige ich dir, wie du über die Schwelle gelangen kannst. Das ist nämlich ganz einfach."

"Gut, ich dachte schon es wäre sehr schwer, weil ich gar nicht wusste, wie ich über eine Schwelle, ist das richtig? Über eine Schwelle rüber kommen kann."

"Also, mache es mir einfach nach. Du gehst ganz dicht heran, dann setzt du deine beiden Vorderpfoten auf das Holz, so etwa, sieh her", dabei tat er genau das, wovon er sprach.

Aber Ente Gina schaute an sich herunter und suchte ihre Vorderpfoten. Dabei entdeckte sie, dass sie ganz anders aussah als Henry Maus. Ihr Fell war flauschig weich und gelb und sie konnte keine Pfoten finden, nur zwei orange-gelbe, flache Füße und da vorne, wo sich bei Henry diese besonderen Vorderpfoten befanden, da konnte sie nur mit zwei kleinen Flügelchen wackeln. "Gut, dann versuche ich es mit denen", entschied Gina sich im Stillen, beugte sich vor und stützte sich mit ihren kleinen Flügeln auf dem Holz ab. Henry Maus war zufrieden und ermunterte sie, mit etwas Schwung nun erst einen Fuß, dann ganz schnell auch den anderen hinterher zu ziehen. Gina landete mit ihrem Bauch auf der Holzschwelle und zappelte mit ihren Füßen in der Luft.

"Ohh, ich glaube ich schaffe es nicht!", schrie sie erschrocken auf.

Geschwind war Henry zur Stelle und schubste sie von hinten, so dass sie vornüber ins Freie plumpste. Sofort rappelte sie sich auf und stand wieder - noch etwas wackelig - auf ihren Entenfüßen, reckte ihren Hals und schüttelte ihr Köpfchen. "Puuh, hoffentlich gibt es nicht mehr so viele von diesen Dingern", stöhnte sie.

Henry Maus blieb auf der Schwelle sitzen und betrachtete die kleine Ente. Sollte er sie jetzt einfach allein lassen? Als erfahrene Maus wusste er natürlich, dass zu einem Entenküken auch eine Entenmutter gehörte und eigentlich auch viele Kükengeschwister. Aber hier auf dem Hof gab es seit ein paar Wochen keine Enten mehr, weder große noch kleine. Also, sein edles Mäuseherz verbot es ihm, sie einfach zurückzulassen, denn sie kannte sich noch überhaupt nicht aus in der Welt und würde sicherlich darin umkommen. "Also, Gina, wie es aussieht haben wir ein Problem!", begann er seine Rede.

"Ja? Toll. Was ist das, hoffentlich kann man das essen, ich habe nämlich großen Hunger."

"Äh? Wie? Was? Nee, ach egal, also noch mal anders gesagt. Du kannst nicht allein bleiben, das ist zu gefährlich. Wenn du magst, kannst du mit zu mir kommen. Ich habe zwar nur ein bescheidenes Mauseloch, aber ich denke, da finden wir beide Platz."

"Ja, sehr gerne, dann kann ich gleich mal sehen, wie Enten wohnen. Immerhin weiß ich jetzt schon, dass es graue Enten mit vier Pfoten gibt und welche, die wie ich gelb sind und Füße haben. Hoffentlich gibt 's auch was zu Essen in unserem Mauseloch."

"Ja, ja, Gina, bestimmt. - Uff, sie muss wirklich noch viel lernen", seufzte Henry.

Das hatte das kleine Entchen schon nicht mehr gehört, denn des tapste eifrig und ungeduldig im Kreis herum. Henry Maus wunderte sich darüber, dann aber sah er, dass Gina am ganzen Körper zitterte. "Oh je", dachte er und laut sprach er: "Gina, wir sollten uns beeilen ins Warme zu kommen, also hoppla, einfach mir nach, es ist nicht weit."

"Ist gut, warm ist gut, mir ist so kalt!"

Fortsetzung folgt ...


zum 3. Januar 2018


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