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KALENDERGESCHICHTEN/075: 03-2017 - Der kleine Dschinn - ein kleiner Neid ... (SB)


Eine große Wölfin liegt auf dem Boden und ein kleines Wolfsbaby versucht auf ihren Rücken zu krabbeln - Buntstiftzeichnung © 2017 by Schattenblick

Ein Dschinn im Wolfspelz

Der kleine Dschinn hockte schon seit geraumer Zeit auf der weißen Blüte unter der Eiche auf dem Friedhof. Immer wieder blickte er voller Sehnsucht zu dem Grabstein, hinter dem sich der Eingang zum Reich der Dschinn befand. Doch für ihn gab es vorerst keine Heimkehr. Er hatte noch eine Aufgabe vor sich, die doch schwieriger war, als er anfangs gedacht hatte. Die Begegnungen mit dem garstigen Eichhörnchen und der eigensinnigen Hummelkönigin setzten ihm zu. Er war wütend und traurig zugleich und so verharrte er eben an diesem Ort, bis ihm ein ganz in Vergessenheit geratener Gedanke kam. Er konnte sich hinwünschen, wo immer er wollte. Nur hatte er das noch nie zuvor ausprobiert.

Viel Freude hatte ihm das Verwandeln bereitet und so war auch nur das seine Lieblingsbeschäftigung. Aber nun wollte er es versuchen. Nur wusste er nicht, wohin er sich wünschen sollte. Er kannte sich nicht aus auf der Welt. In seinem Kopf entstand allmählich ein Bild von einem kühlen, dunklen und feuchten Ort und genau dort wollte er hin. Das schien ihm vertraut. Nur ganz wenige Augenblicke später fand er sich in einem finsteren, dichten Wald wieder, umringt von Baumriesen mit gewaltigen Blätterkronen, von hohen schlanken Tannen und furchtbar viel Grünzeug und Gestrüpp, von Moosen und Farnen am Boden.

"Oh je, wo bin ich denn hier gelandet?", wunderte sich der kleine Dschinn, "ist ja beinahe so schön wie bei mir zu Hause." Neugierig sah er sich um, konnte aber niemanden entdecken. Nach einer Weile hörte er ein leises, vielstimmiges Heulen, dem er sogleich nachging. Vor einer Erdhöhle unter einem Baum hatten sich vier Wolfsbabys versammelt, die sich in Wolfsheulen übten. Diesmal hielt der kleine Dschinn sich im Verborgenen, denn er wollte sie erst einmal beobachten und so viel lernen wie nur möglich, damit er sich auch wie ein richtiger Wolf verhalten konnte, wenn er sich in einen verwandelte. Es schien als hätten die Kleinen nach ihrer Mutter gerufen, denn wenige Augenblicke später erschien sie. Groß, stark und mit einem prächtigen Fell, beeindruckte sie ihn mächtig. So wollte er auch werden, genau so!

Sie wurde von den kleinen Wölfen stürmisch begrüßt, doch irgendetwas schien Mutter Wolf zu beunruhigen. Besorgt blickte sie um sich und versuchte ihre Kinder in die Höhle zu bugsieren, was nicht recht gelingen wollte, denn die hatten Hunger und versuchten sich an ihre Mutter zu drängen, um von ihr zu trinken. In dieses aufgeregte und ungestüme Treiben knallte plötzlich ein Schuss. Starr vor Angst blieben alle still, die Mutter scheuchte die Kleinen in den Wald. Diesmal stürmten alle los, als wüssten sie genau, dass sie um ihr Leben rannten. Ein zweiter Schuss schallte durch die Luft und nun tauchten fünf andere große Wölfe auf, die ebenfalls die Richtung in den dunklen Wald einschlugen, um unter den dicht stehenden Bäumen Schutz zu finden.

Der kleine Dschinn beschloss ihnen zu folgen. Doch da war dieses jämmerliche, klägliche Weinen erklungen, dass ihn innehalten ließ. Da war noch jemand in der Höhle! Vorsichtig näherte er sich und entdeckte tatsächlich ein kleines Wolfsbaby. Nun war guter Rat teuer. Was sollte er nur tun? Als das Kleine wieder so herzerweichend winselte, verwandelte der kleine Dschinn sich in eine Wölfin. Sofort hörte das Wolfsbaby auf zu weinen und tapste hastig und voller Freude auf ihn zu. "Mama, Mama, wo sind denn alle? Was war das für ein Knallen, ich fürchte mich so!"

Oh je, nun saß der kleine Dschinn in der Patsche, denn er wusste wieder einmal gar nichts über Wölfe und erst recht nichts über eine Wolfsmutter. "Nun, mein Kleiner, alle sind fort, in großer Hast in den Wald geflohen." - "Und was machen wir jetzt?", wollte das Wolfsbaby wissen, "ich hab solchen Hunger!" Kaum hatte es das ausgesprochen, hing es bereits an einer Zitze und saugte munter los, noch bevor der kleine Dschinn sich Gedanken darüber machen konnte, ob er denn überhaupt Milch in sich hatte. Das fühlte sich komisch an. Geduldig wartete er bis das Wolfsbaby sich satt getrunken hatte.

"Komm, wir wollen den anderen folgen!", bestimmte der kleine Dschinn und setzte sich schon in Bewegung. Eilig taperte das Wolfskind hinterdrein. Als sie schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt hatten, jaulte es laut auf: "Ich bin so müde, meine Pfoten tun mir weh, ich mag gar nicht mehr laufen!" - "Ist ja gut, wir machen eine kleine Pause! Da drüben ist ein schönes Plätzchen hinter dem großen Busch." Dort legten sie sich nieder und das Wolfsbaby kuschelte sich dicht an ihn. "Sag mal, wie soll ich dich denn nennen?", wollte der kleine Dschinn wissen.

"Aber Mama", gähnte das Kleine, "ich bin doch Katja." Und kaum war es ausgesprochen, waren nur noch die leisen, gleichmäßigen Atemzüge des schlafenden Fellknäuels zu hören. "Oh", dachte der kleine Dschinn, "ein Mädchen und es hält mich tatsächlich für seine Mutter. Was soll ich nur tun? Was, wenn die anderen Wölfe und ihre richtige Mutter inzwischen viel zu weit weg sind? Was, wenn ich sie gar nicht mehr finden kann?" Was soll ich denn mit Katja anfangen? Soll ich ihr verraten, dass ich jemand ganz Fremdes bin?" Mit all diesen Gedanken schlief auch er schließlich ein.

Irgendwann in der frühen Morgendämmerung erwachte er und hatte eine wundervolle Idee: "Wenn Katja glaubt, ich sei ihre Mutter, dann hat sie mich bestimmt sehr lieb. Ob ich sie das frage und ob ich ihr anvertrauen kann, dass ich in Wirklichkeit ein Dschinn bin. Fürchtet sie sich dann? Oder folgt sie mir vielleicht sogar ins Dschinnreich? Es ist doch wohl einen Versuch wert. Ich muss es nur ganz vorsichtig anstellen". Auf einmal stupste ihn ein Wolfsnäschen in den Bauch und schwupps, da saugte Katja genüsslich die warme Milch. "Mmmh, Mama, das war lecker! Wollen wir nun die anderen Wölfe suchen gehen?", fragte sie und leckte sich dabei ihr Mäulchen. Aber sie wartete gar keine Antwort ab, sondern stellte sich auf ihre vier Pfoten, streckte und reckte sich und wackelte mutig weiter in den Wald hinein. Der kleine Dschinn erhob sich und ging ruhig neben ihr her. Er fasste nun all seinen Mut zusammen und wollte gerade seine Frage stellen, als sie ein Wolfsgeheul ganz in ihrer Nähe hörten. Katja blieb sofort stehen und heulte so laut sie konnte zurück. "Mama, warum singst du nicht mit, los, du kannst es doch viel besser als ich?!"


Ein Babywolf steht mit erhobenen vorgerecktem Kopf und heult - Buntstiftzeichnung: © 2017 by Schattenblick

Buntstiftzeichnung: © 2017 by Schattenblick

Doch das war gar nicht mehr nötig, denn schon erreichten die ersten Wölfe die beiden. Der Schreck fuhr dem kleinen Dschinn in die Glieder. Wenn jetzt gleich die richtige Mutter von Katja auftauchte, was dann? Seine Gedanken überschlugen sich. Schnell, eine Entscheidung musste getroffen werden. "Katja darf nichts merken, ich muss sofort verschwinden!" Er sah die Mutter zuerst und in dem Moment, wo auch das kleine Wolfsbaby sie erkannte, verwandelte er sich in einen Baum. Gleich hinter der Wolfsmutter hopsten die vier Geschwister munter herum. Etwas verwirrt blickte Katja ihre Mutter an: "Huch, wie hast du das denn gemacht? Gerade standest du noch neben mir und nun kommst du mir entgegen?" Die Wolfsmutter verstand nichts von dem, was ihre Kleine da von sich gab und wollte es auch gar nicht wirklich begreifen, denn sie freute sich so sehr über das Wiedersehen. Die gesamte Wolfsfamilie war wieder vereint. Sie begrüßten sich und verließen gemächlich diesen Ort.

Zurück blieb der Baum, der ihnen traurig hinterher blickte. Der kleine Dschinn beschloss, hier erst einmal zu bleiben. Obwohl er betrübt war, hatte er doch neue Hoffnung geschöpft, denn das Wolfsbaby hatte ihn mit Sicherheit lieb gehabt. "Also, ist es möglich, jemanden zu finden, der mich wirklich gern hat!" Mit dieser Zuversicht verweilte er als Baum und ruhte sich aus. Doch schon bald sollte er gestört werden ...

Weitere Abenteuer des kleinen Dschinn folgen


1. März 2017


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