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GUTE-NACHT/3638: Im verwilderten Garten - Der Fetzen (SB)

Gute-Nacht-Geschichten

Im verwilderten Garten - Der Fetzen

Im Garten von Großvater Hans Hansen sieht es aus wie Kraut und Rüben, nein schlimmer. Schließlich blühen auch Kräuter in bunten Farben, und Rüben sind als Gemüse gut geeignet. So können Kräuter und Rüben einen schönen Garten hervorbringen. Der Garten aber von Großvater Hansen ist nicht von dieser Art, er gleicht eher einer Müllhalde.

Schon im Vorgarten zieht ein kaputter Wagen mit platten Reifen die Blicke der Vorrübergehenden an. Er rostet dort einfach vor sich hin. Die Scheiben sind längst zerbrochen und eine Wagentür ausgehängt.

Im Garten hinter dem Haus liegen rostige Gitter auf einem Haufen alter Backsteine. Schon vor Jahren sollten die Backsteine zum Ausbessern der Hausmauer verwendet werden. Doch noch immer liegen sie herum, und die Risse in der Mauer werden zusehens breiter.

Kaum läßt sich ein Weg im Garten ausmachen, überall wuchern Brennesseln - zwar zur Freude der Schmetterlinge, deren Raupen sich an den Brennesselblättern satt fressen und dann verpuppen, aber zum Schaden der einstigen Blumenbeete, die es längst nicht mehr gibt. Die Brennesseln haben die Blumen lange schon vertrieben.

Der große Apfelbaum, der damals dem Garten einen schattigen Platz zum Verweilen bescherte, trägt bereits seit mehreren Sommern vertrocknete Äste, die keiner beschneidet. Auch der schöne Platz mit der Bank darunter ist von allerlei fremden Pflanzen zugewachsen. Sogar einige giftige haben sich hier angesiedelt.

Ein paar Meter weiter wächst ein Ahorn. Vor Jahren brach ein großer Ast. Damals war der Garten noch gepflegt. Großvater Hansen mähte regelmäßig den Rasen und beschnitt die Bäume und Sträucher, während Großmutter Hansen sich um die Blumenbeete kümmerte. Als der Ast brach, schmerzte das die beiden alten Leute und sie verarzteten den Baum. Großvater holte Werkzeug aus dem Schuppen, während Großmutter nach Bienenwachskerzenresten in der Weihnachtskiste suchte und einen alten schon ledierten Kopfkissenbezug aus der Stoffkiste kramte.

Großvater sägte den angebrochene Ast gerade ab, während Großmutter die Kerzenreste in einem Topf verflüssigte. Den Kopfkissenbezug schnitt sie so zurecht, daß das Stück Stoff gut über die frische Wunde des Baumes reichte.

Zuerst wurde die Schnittfläche von losen Teilen wie Sägespänen gereinigt. Dann strich Großmutter das flüssige Bienenwachs über die Fläche und legte sogleich das Stück Stoff darüber. Nun wurde auch auf der nach außen gerichteten Fläche des Stoffs noch einmal flüssiges Bienenwachs hinüber gepinselt.

"Sei bloß vorsichtig mit dem Wachs", hatte Großvater seine Frau gemahnt, "wenn du dich verbrennst, tut das höllisch weh und heilt lange nicht ab." - "Ich weiß", entgegnete Großmutter, "schließlich hab' ich mich schon mal an einer Kerze verbrannt."

Großmutter dachte nun darüber nach, wie das im Moment wohl für den Baum sei. Aber er brauchte an der offenen Schnittfläche anstelle der Baumrinde einen neuen Schutz. Echtes Bienenwachs war dafür bestens geeignet und der getränkte Baumwollstoff ein guter Verband.

Doch was ist jetzt nach Jahren aus dem Verband geworden? Wind und Wetter haben ihm nicht geschadet. Nur die nicht mit Wachs getränkten Ränder sind inzwischen mürbe geworden. Unter ihnen versammeln sich die Asseln. Ein kleiner Fetzen mit einem Knopfloch ist nur noch an einer Stelle mit dem Ganzen verbunden und reißt beim nächsten kräftigen Windstoß ab. Er fällt zu Boden und findet einen neuen Platz. Aber das ist eine andere Geschichte ...

"Gute Nacht!"

zum 24. September 2013