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GUTE-NACHT/3504: Boardy - im Schaufenster (SB)


Gute-Nacht-Geschichte von Boardy


Boardy - im Schaufenster



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Boardy steht im dunklen Flur. Lieber wäre er jetzt auf der Straße oder noch besser, er läge am Fußende von Kennys Bett. Was machte Kenny jetzt wohl? Bestimmt las ihm seine Mutter gerade eine Weihnachtsgeschichte vor. Schade, daß Boardy sie nicht mithören kann. Dafür hört er die Türglocke läuten. "Es ist keiner da!", ruft Boardy. Doch er weiß schon, daß ihn keiner versteht. Merkwürdig, warum klingelte der junge Mann, der ihn hierher brachte zuerst und benutzt jetzt seinen Schlüssel zum Aufschließen?

Doch es ist nicht der junge Mann. Eine kleinere Gestalt erscheint, geht ins Bad und kehrt wieder zurück. Diesmal geht das Wesen nicht an Boardy vorbei, sondern fällt fast über ihn. Im letzten Moment aber kann es sich abfangen, indem es auf Boardy tritt. Doch dies geschieht so unkontrolliert, daß das Brett zu rollen beginnt. Im letzten Moment kann sich die Person jedoch noch abfangen. Sie knipst das Licht im Flur an. Boardy erkennt eine junge Frau. "Das ist doch ein Skateboard!", ruft diese erstaunt. Sie besieht sich Boardy von allen Seiten, stellt ihn dann wieder auf den Boden zurück, knipst das Licht aus und verläßt die Wohnung.

Jetzt ist Boardy wieder allein. Wann wird wohl der junge Mann, den alle nur Karl rufen, wieder nach Hause kommen? Bis die Wohnungstür sich erneut öffnet, ruht sich Boardy von den Anstrengungen der letzten Tage etwas aus.


*


Am Samstagmorgen ist das Schaufenster des Schuhladens nicht mehr verhangen. Neugierige Blicke starren hinein. "Ist das jetzt ein Sportladen?", fragen sich die Passanten, denn der Anblick eines Skateboards zwischen all den Schuhen, regt ihre Phantasie doch gewaltig an.

Auch Eireens Chef findet an der Gestaltung des Schaufensters Gefallen. Besonders weil Eireen versprochen hat, bis zum Fest das Fenster jeden Tag ein bißchen umzugestalten, damit das Interesse der Kunden auch weiterhin geweckt bleibt. Für heute hat Eireen einfach in die Mitte des Fensters ein Skateboard plaziert, genau das Board, das bei ihrem Freund in der Wohnung stand. Als sie es sah, hatte sie gleich die Idee, das Board für das Schaufenster zu nutzen.

Da Karl zuerst nicht in der Wohnung war, telefonierte Eireen später noch einmal mit ihm und holte das Board dann auch gleich ab. Eireen war froh, daß Karl ihr das Brett ohne längere Überredungskünste benötigen zu müssen sogleich gab. Doch Karl war ebenso froh, das Board wieder los zu sein. Für ihn war es doch einfach zu klein.

So steht Boardy nun im Fenster des Schuhladens zwischen vielen anderen Schuhen. Zuerst paßt ihm das gar nicht. Denn nun ist er nicht mehr in einer Wohnung, sondern in einem Schaufenster gefangen. Aber als am Morgen die Passanten vorbeikommen, findet Boardy es hier gar nicht so schlecht. Denn nun braucht er den Weihnachtsmann nicht mehr zu suchen, sondern dieser kommt vielleicht selber hier vorbei.

In der Zwischenzeit betrachtet Boardy sich die Leute, die vorbeigehen. Da ist eine ältere Frau mit einem kleinen Hund, ein Mops oder so. Die alte Dame blickt interessiert in das Schaufenster, als suche sie etwas. Anschließend zieht sie mit ihrem Hund weiter. Boardy hat den Eindruck, daß sie in den Schuhladen kommen. Er achtet nicht mehr auf die zwei sondern seine Blicke verfolgen weitere Fußgänger. Manche sehen richtig lustig aus. Andere sind traurig und Boardy würde ihnen am liebsten helfen. Ihre vielen Päckchen davonfahren oder gar die Leute selber. Ja, Boardy würde gern mal wieder richtig skaten, am liebsten mit Kenny. "Ob Kenny auch hier vorbeikommt?", überlegt Boardy.


*


Zuerst dachte Boardy, das Skateboard: "Hier im Schaufenster halte ich es nicht lange aus." Einige Zeit später fand Boardy seine neue Lage gar nicht so schlecht, weil er annahm, daß vor dem Fenster sicherlich auch der Weihnachtsmann vobeikommen würde.

Jetzt aber denkt Boardy schon gar nicht mehr an den Weihnachtsmann. Er findet es so spannend wie viele Menschen vorbeigehen. Große, kleine, breite, dicke und dünne, häßliche und schöne und solche, die sich für besonders schön halten und sich deshalb ganz absonderlich bewegen. Boardy kann gar nicht genug schauen. Er vergißt sogar, warum er eigentlich hier ist.

Am Nachmittag wird für kurze Zeit Boardy das Sichtfeld mit einem Tuch versperrt. "Was soll das denn?", wundert er sich. Alle Schuhe, die bis jetzt auf Boardys Rücken standen, werden nun heruntergenommen und etwas anderes wird hinaufgestellt. Boardy erkennt es sogleich, als Eireen, die Verkäuferin, das große, flache, weiße und aus drei Kugeln bestehende Ding ins Schaufenster holt.

"Das ist ein Schneemann!", staunt Boardy. "Aber was soll ein Schneemann hier im warmen Schaufenster?", fragt sich Boardy, "schmilzt er denn nicht?" Boardy erinnert sich an eine Geschichte von einem Schneemann, die er einst in früheren Zeiten gehört hat. Kinder hatten den weißen Mann aus Schnee gebaut und vor ihr Haus gestellt. Danach wärmten sie sich drinnen im Zimmer auf und schauten durch die Fensterscheibe hinaus. Sie glaubten, daß auch der Schneemann frieren würde und holten ihn ins Haus. Kaum war er im warmen Zimmer, begann er schon große Tränen zu weinen. Die Kinder fragten ihn, was er denn hätte.

"Ich liebe die Kälte und den Sturm. Wenn ich das nicht haben kann, werde ich ganz traurig und fange an zu weinen." Nun wußten die Kinder, daß Menschen, Tiere und Dinge alles was geschieht, nicht auf die gleiche Art und Weise empfinden. Schnell brachten sie den Schneemann wieder vor das Haus und suchten sogar noch einen besonders kalten und windigen Ort für ihn aus.

Eireen plaziert den Schneemann genau auf Boardys Mitte und rückt die anderen Schuhe wieder zurecht. Anschließend nimmt sie das Tuch vom Fenster herunter. Nun können die Passanten erneut ins Schaufenster starren.

Boardy starrt nicht zurück. Er ist voll auf den Schneemann konzentriert. Ob er gleich zu tropfen beginnt? Doch der Schneemann taut nicht auf. Wie konnte das sein? Boardy fragt den Schneemann einfach: "Warum schmilzt du nicht. Du bist doch aus Schnee?" - "Schnee? Sowas kenne ich nicht", entgegnet der Schneemann. "Nun", beginnt Boardy seine Erklärung, "Schnee sieht aus wie dieser falsche, weiße Schnee hier im Fenster", erklärt Boardy, "nur daß draußen echter Schnee vom Himmel fällt und liegenbleibt. Dort draußen der Schnee ist aus weißen und kalten Kristallen, die vom Himmel fallen. Schau hinaus. Letzte Nacht ist er gefallen." - "Ich möchte auch einmal in den richtigen Schnee", wünscht sich der platte Schneemann. "Das läßt sich bestimmt anstellen", meint das Skateboard und plant, wie es den Schneemann mit nach draußen ins Freie rollen kann. "Vielleicht warten wir noch ein bißchen", schlägt Boardy vor, "bis der Schnee richtig üppig am Boden liegt." Der Schneemann ist einverstanden. "Aber was machen wir bis dahin?", langweilt sich der Schneemann. "Bis dahin schauen wir uns einfach zusammen die vorübergehenden Menschen an. Sie erzählen alle ihre Geschichte!", schlägt Boardy vor.


*


Auch heute wird die Dekoration im Schaufenster noch um ein paar Leute erweitert. Man könnte meinen, diese Leute hätten sich in der Zeit geirrt. Boardy jedenfalls wundert sich. Klar, die drei Kerle, die Eireen, die Verkäuferin, da noch mit auf das Skateboard und vor den Schneemann stellt, haben Weihnachtsmannmützen auf. Aber es sind keine Weihnachtsmänner. Ganz im Gegenteil. Doch was ist das Gegenteil von Weihnachten, stellt sich hier die Frage.

Boardy beantwortet sie nicht. Er schaut lieber wieder aus dem Schaufenster auf die Straße und hofft, daß es bald erneut schneit. Außerdem hält er noch immer Ausschau nach dem Weihnachtsmann. Doch hier scheint er nicht vorbei zu kommen, obwohl Boardy vorhin ein ganz deutliches Läuten wie von Glocken gehört hat. Was das wohl war?

Noch einmal schaut Eireen ins Fenster, bevor sie den Schuhladen abschließt und nach Hause geht. Schließlich möchte sie nicht, daß irgendetwas umgefallen ist. Eireen freut sich auf zuhause, genauso wie sie sich in den letzten beiden Wochen jeden Morgen gefreut hat, zur Arbeit zu gehen. Es macht einfach viel mehr Spaß, sich selber etwas auszudenken und es auch sichtbar werden zu lassen, als immer nur die Wünsche anderer Leute zu erfüllen. Eireen freut sich auf die drei freien Tage, die vor ihr liegen. Das diesjährige Fest wird bestimmt besonders schön. Eireen und ihr Freund Karl sind zum Essen eingeladen. Sie braucht jetzt nur noch ein Gastgeschenk. Etwas kaufen? Nein, vor Weihnachten bastelt sie gern. Gestern erst hat sie Geschenkanhänger ausgeschnitten und geklebt. Für heute hat sie sich vorgenommen, etwas Besonderes aus dem alten roten Puschelpantoffel zu machen. Ihr Chef konnte ihn ja nicht mehr ertragen. Doch bevor sie ihn wegwerfen würde, will sie sich lieber ausdenken, was mit so einem Pantoffel alles anzustellen wäre. Nunja, eine Idee hatte sie ja bereits. Eine Brillentasche wäre eine Möglichkeit. Doch sie selbst trägt keine Brille und auch Karl nicht. Also wird sich Eireen mit dem roten Pantoffel etwas anderes ausdenken. Aber was?


*


Im Schuhladen herrscht große Aufregung. Selbst die Schuhe und das Skateboard im Schaufenster bekommen dies mit. Was ist nur los? Welches große Tier ist hier im Anrollen, daß alle so aufgeregt sind.

Besonders viele Kinder gehören heute zu den Kunden. Alle haben sogar einen einzigen, alten Schuh dabei. Denn wer einen Schuh mitbringt, erhält ein kleines Präsent aus Schokolade. Alle mitgebrachten Schuhe kommen zum Beweis für diese gelungene Aktion ab ins Schaufenster. Ein riesiger Berg von Schuhen hat sich schon angehäuft. Dieser Berg soll aller Welt zeigen, wieviele Kinder noch an den Weihnachtsmann glauben. Und wenn die Kinder an ihn glauben, wird er auch wieder auf die Erde herunterkommen und das Besorgen der Geschenke, nicht mehr allein den Eltern überlassen.

"Wann geht es denn endlich los?", fragen die Kinder oder, "wo bleibt denn der Weihnachtsmann?" - "Der Weihnachtsmann? Oh, der Weihnachtsmann kommt", freut sich nun auch Boardy. Nur leider kann er über die vielen Schuhe nicht mehr hinwegschauen. Darum erkundigt er sich bei dem neu gewonnenen Freund, dem Schneemann, ob dieser denn etwas sieht. Leider hat auch der Schneemann den Weihnachtsmann noch nicht erspäht.

"Vielleicht müssen wir den Weihnachtsmann herbeisingen!", schlägt eine junge Frau vor. Boardy erkennt ihre Stimme sofort. Es ist die Verkäuferin Eireen. Sie hat Boardy überhaupt erst hierher gebracht. Doch jetzt soll sie ihn mal bitte hinter diesem ganzen Berg Schuhen wieder hervorholen. Sie drohen ja schon, auf die Dekoration zu plumpsen.

Im Laden beginnen die Kinder zu singen: "Oh du Fröhliche..." und "Morgen Kinder wird's was geben...". Plötzlich wird es ganz still im Laden. "Siehst du was?", fragt Boardy. Aber auch der Schneemann kann nicht um die Ecke gucken. Nur ein kleiner Spalt in der hinteren Wand zum Laden läßt den Schneemann etwas Rotes erspähen. "Das könnte der Weihnachtsmann sein!", verkündet der Schneemann. Boardy ist total aufgeregt. Ja, der Weihnachtsmann ist hier. Da die Kinder nicht mehr singen und sich ruhig verhalten, kann Boardy hören, wie sie nacheinander ihre Wünsche aussprechen.

"Da muß ich hin!", denkt Boardy, "endlich ist der Weihnachtsmann da und ich kann meine Wünsche vorbringen." Doch ist dies leichter gesagt als getan. Wie kann sich Boardy hinter dem riesigen Berg von Schuhen hervorkämpfen. Das schafft er nicht ohne Anlauf. "Am besten mit dem Kopf durch die Wand", entschließt er sich. Noch schnell eine Abmachung mit dem Schneemann, der noch immer auf ihm drauf steht und schon geht es los. So gut es geht bringt sich Boardy in Schwung. Dann bis drei gezählt: "Eins, zwei, drei!" Und schon springt der Schneemann in die Luft, während Boardy unter ihm hinwegsaust. Auch die Schokohasen haben einen Satz gemacht und sich in Sicherheit gebracht. Boardy steuert geradewegs auf den kleinen Spalt in der Dekorationswand zu und "Rumms!", er donnert genau davor und prallt zurück. Diese Dekoration ist eben nicht aus Pappe.

Den lauten Schlag des Zusammenstoßes haben die anderen im Laden auch gehört. Eileen schaut gleich nach, was da im Schaufenster los ist. "Komisch? Wieso steht denn das Skateboard so anders da?", staunt sie und nimmt es hoch. Dann kommt ihr ein Gedanke. Sie will das Board vor den Berg aus Schuhen stellen. Das findet sie gut. Gerade in diesem Moment verläßt der Weihnachtsmann wieder den Schuhladen und alle Kinder folgen. Fast wie der Rattenfänger von Hameln sieht der Zug aus. Diesen Gedanken hat wohl auch der Fotograf, der für die hiesige Zeitung die ganze Aktion festhält.

Boardy ist entsetzt! Jetzt hat er den Weihnachtsmann verpaßt. Er schaut dem Zug durch die dicke Schaufensterscheibe traurig nach. Plötzlich entdeckt er unter all den Kindern seinen besten Freund Kenny. "Kenny!", schreit er aus Skateboardskräften. Doch der kleine Junge vor der Scheibe hört ihn nicht und hat nur Augen für den roten Mann. "Ob Kenny ihm seine Wünsche schon vorgebracht hat?"

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zum 23. Dezember 2011