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GUTE-NACHT/3307: Der einsame Pantoffel im öffentlichen Leben (SB)


Gute Nacht Geschichten vom einsamen Pantoffel


Den Schuhladen haben Bello und Oma Erna kurz vor sechs Uhr erreicht. Gerade will eine Schuhverkäuferin zusperren, da drängt sich Bello noch hinein. "Hunde dürfen eigentlich nicht bei uns eintreten", sagt die Verkäuferin, läßt die beiden aber noch einkehren. "Wir möchten nur kurz ihren Chef sprechen, den hilfsbereiten Schuhverkäufer, der mich vor zwei Tagen nach Hause gefahren hat. Das war wirklich nett."

Die Schuhverkäuferin hat einen langen Tag hinter sich. Jetzt wo das Wetter umschlägt und die Menschen kalte Füße bekommen, wollen alle warme Schuhe und Stiefel haben. Da kommt so mancher Verkäufer ins Schwitzen. Schuhkartons runterholen und wieder hinaufbugsieren. Dann das lange Betüddeln, wenn sich die Kunden nicht entscheiden können und schon weitere Kunden auf Hilfe warten. Die Verkäuferin ist sichtlich am Ende ihrer Kräfte. Aber sie versucht freundlich zu klingen: "Unser Chef ist heute außer Haus in einer anderen Filiale. Am besten sie kommen morgen wieder."

Vom schnellen Gehen in die Stadt, damit sie auch noch rechtzeitig am Schuhladen ankommt, ist Oma Erna ganz schwindelig geworden. "Darf ich mich einen Moment setzen?" - "Ja, bitte", ich schließe inzwischen zu", sagt die Verkäuferin. Oma Erna geht gleich durch den Kopf und zum Mund wieder heraus: "Aber wir müssen doch noch nach Hause?" - "Ist schon recht", lächelt die Verkäuferin an diesem Tag zum ersten Mal, "ich möchte nur nicht, daß noch weitere Kunden kommen, denn wir haben längst Ladenschluß. Meist kaufen die Kunden, die so spät kommen, doch nichts mehr. Sie können sich nicht entscheiden, weil sie sich unter Druck gesetzt fühlen und vertagen ihren Kauf doch auf morgen. Meist allerdings gehen sie dann in ein anderes Geschäft und ich sehe sie nie wieder." Verlegen sagt Oma Erna: "Tut mir leid, auch ich werde jetzt nichts kaufen." - "Ist schon in Ordnung", sagt die Verkäuferin und überlegt, ob sie mit ihrem Vortrag über die Gepflogenheiten von Kunden etwas zu weit gegangen ist.

"Wissen sie, ich habe vor zwei Tagen ein paar rote Pantoffeln gekauft ...", beginnt Oma Erna. "Ach ja, und jetzt wollen sie die bestimmt umtauschen oder ihr Geld zurück. Ich dachte mir schon so etwas, als ich diese schrecklichen Pantoffeln auspackte. Ich dachte bei mir: `Das werden die nächsten Ladenhüter werden.' Wissen sie, die sind noch aus dem vergangenen Jahr. Auch da haben wir nur ein einziges Paar dieser Sorte verkauft. Wer will schon knallrote Pantoffeln. Kinder vielleicht, die mögen es schön bunt, aber Erwachsene ..." Oma Erna räuspert sich: "Nein, nein, ich möchte sie nicht zurückbringen." - "Oh", sagt die Verkäuferin und ärgert sich im Stillen über ihre vorlaute Rede. So konnte sie doch nicht mit einer Kundin sprechen. Aber es war ihr einfach mal so von der Seele gekommen. Die Verkäuferin faßt sich wieder: "Ja, aber was möchten sie dann?"

"Ich war diejenige, die im letzten Jahr dieses eine Paar Pantoffeln gekauft hat. Ich hatte es meinem - Gott hab ihn seelig - nun verstorbenen Mann geschenkt. Er war sehr erfreut darüber und zog sie immer an. Nun hat mein Bello den einen Pantoffel zerfetzt. Den brachte ich vor zwei Tagen als Muster mit. Ich habe nämlich ein gleiches Paar Pantoffeln für meine Tochter gekauft." - "Sehen sie", unterbricht die Verkäuferin und will das zuvor Gesagte etwas abmildern, "Kinder mögen rote Pantoffeln."

Oma Erna lächelt und fährt fort: "Nunja, meine Tochter ist dreiundzwanzig. Aber sie zeigte Interesse an Vaters Pantoffeln und darum wollte ich ihr die Gleichen zu Weihnachten schenken. Den kaputten Linken habe ich hiergelassen. Doch nun habe ich sein heiles Gegenstück - den rechten Pantoffel - wiedergefunden - er war nämlich verschwunden - und jetzt wollte ich die beiden wieder vereinen." - "Tut mir sehr leid, den Kaputten haben wir dann sicher fortgeworfen, denn er ist mir nicht begegnet", sagt die Verkäuferin und denkt im Stillen, "wie süß." Die ganze Sache erinnert sie an etwas. Sie hatte sich einmal eine Weihnachtsgeschichte ausgedacht, in der nur Schuhe die Rollen spielen. Ein Babyschuh lag in der Krippe und war das Christkind, die Jesuslatschen sollten Josef darstellen und das Paar Ballerinas stand für Maria. Auch die Heiligen drei Könige waren durch Schuhe dargestellt und sogar der Engel im Himmel. Das hatte sich die Verkäuferin als junges Mädchen ausgedacht und ihren Eltern zu Weihnachten vorgespielt. Daß ihre Eltern sich gar nicht darüber freuten, fand sie sehr traurig. Vielleicht hatte sie deshalb die Geschichte ganz vergessen. Doch in ihrem Unterbewußtsein war sie gespeichert geblieben. War das der Grund, warum sie Schuhverkäuferin werden wollte?

Ein Lächeln überzieht ihr Gesicht und sie hat eine tolle Idee. An diesem Abend wird sie noch nicht so schnell nach Hause gehen, sondern das Schaufenster umdekorieren. Mal sehen, ob ihr Chef morgen genauso reagiert wie ihre Eltern. "Kommen sie mit, ich gebe ihnen und ihrem Hund noch ein Glas Wasser", bietet die Verkäuferin an und nimmt die beiden mit in den hinteren Raum.

Diesen Augenblick nutzt der rechte rote Pantoffel, um aus der dunklen Tasche wieder hervor zu kommen. Schnell versteckt er sich unter einem Regal. Nachdem das Wasser Oma gestärkt hat, verabschiedet sie sich und tritt den Heimweg an.

Im Laden erlischt an diesem Abend erst um Mitternacht das Licht. Auf der Straße vor dem Schuhladen geht niemand mehr vorbei. Das ist der Schuhverkäuferin recht. So braucht sie das Schaufenster nicht mit einer Plane zu behängen, um es vor neugierigen Blicken zu schützen. Morgen können dann alle Passanten gern schauen, was sich im Fenster getan hat. Aus grauen Schuhkartons baut die Verkäuferin eine Art Haus auf, es könnte auch ein Stall sein. Hier verstreut sie gelbliches Füllmaterial anstelle von Stroh. Außerhalb der Behausung verwendet sie nur weiße Schnipsel, sie erinnern an Schnee. Ein großer Stern steht über dem Haus und beginnt per Knopfdruck zu leuchten.

Nun kommen die Bewohner des Stalls an die Reihe. Sie leben nur vorübergehend hier. Denn sie sind auf der Durchreise. Doch ein Kind hat sich eingestellt und wurde geboren. Es liegt nun in der Krippe bei Ochs und Esel ... Die Verkäuferin hat eine fixe Idee, die sie endlich nach Jahren in die Tat oder besser in ein Bild im Schaufenster umsetzen will. Verschiedene Schuhpaare übernehmen hierbei die Rollen von Josef, Maria und dem Jesuskind. Auch die Heiligen drei Könige sollen nicht fehlen sowie Ochs und Esel. Während die Verkäuferin sich nach der passenden Besetzung der Rollen in ihren Regalen umschaut, schiebt sich ein roter, neugierig gewordenen Pantoffel unter einem Regal, das ihm als Versteck diente, hervor und schleicht sich an den Ort des Geschehens heran.

"Mhm", grübelt die Verkäuferin, "mitten im Winter ist es gar nicht so leicht für meinen Josef sommerliche Latschen, möglichst noch mit Bändern zum Umwickeln der Waden zu finden. Ich werde wohl auf den Dachboden gehen müssen, um dort unter der alten Ware ein Paar zu finden. Doch zuerst suche ich mir noch Maria und das Jesuskind aus." Winzige, hellblaue Babyschuhe nimmt die Verkäuferin mitsamt dem kleinen Karton als Krippe und stellt sie direkt in die Mitte des Schaufensters. Sie bestimmen jetzt schon die Aussage der Anordnung.

Die Rolle der Maria ist nicht so leicht zu besetzen. Hochhackige Damenschuhe kommen genauso wenig in Frage wie altbackene Damenpumps. Die Verkäuferin entscheidet sich für violette Ballerinas, um die sie noch ein seidenes, braungemustertes Tuch legt. Der Babypappkarton gefällt der jungen Frau nicht so recht als Krippe. Irgendwie sollte sie doch etwas Passenderes finden. Na, vielleicht entdeckt sie ja auch hierfür etwas auf dem Dachboden. Sie verläßt den Laden, um nachzusehen.

Das ist die Gelegenheit für den rechten roten Pantoffel, sich direkt im Schaufenster danach umzusehen, was dort vor sich geht. Das Haus aus Schuhkartons findet der Pantoffel etwas eigentümlich. "Was wenn es regnet oder schneit? Da weicht ja die Pappe auf." Dann betritt der Pantoffel die zentrale Stelle des Schaufensters. Hier liegen die Babyschuhe ganz allein herum. "Oh, ihr Kleinen! Fühlt ihr euch einsam?", fragt der rote Pantoffel und kann nicht anders, als die beiden einmal Huckepack zu tragen. Doch oh Graus. Gerade betritt die Verkäuferin wieder das Podest des Schaufensters. Der rote Pantoffel bewegt sich nicht mehr und auch die Kleinen, die sich in die warme, weiche Höhle ihres Trägers eingekuschelt haben, bleiben reglos liegen.

Bevor die Verkäuferin nun den auf dem Dachboden gefundenen Josef an seinen Platz trapiert, mustert sie die bisher erschaffene Bühne noch einmal genau. Wie vom Donner gerührt, bleibt die Verkäuferin stehen. Zuerst geschieht gar nichts. Dann aber findet sie ihre Worte wieder: "Das ist es! Genau so soll es sein!" Bei diesen Worten kniet sie vor dem roten Pantoffel nieder und streicht über den weichen Plüsch. Ein klein wenig zieht sie die beiden Babyschuhe wieder aus ihrer Höhle heraus, so daß sie besser zu sehen sind. "So ist es gut", strahlt die Verkäuferin. Schnell sind jetzt die Jesuslatschen als Josef in Szene gesetzt. Als die Heiligen Drei Könige müssen ein paar Stiefel, spitz zulaufende, elegante Herrenschuhe und ein paar schwarze Sportschuhe herhalten. Für Ochs und Esel finden sich sogar Hausschuhe mit passendem Tiermotiv, so daß jeweils nur ein Schuh benötigt wird. Der Engel auf dem Dach wird durch ein Paar goldene Damenschuhe dargestellt.

Einen letzten prüfenden Blick wirft die Verkäuferin über die Szene. Alles ist perfekt. Nichts braucht mehr geändert zu werden. "Was werden nur die Kunden morgen sagen und mein Chef?", überlegt die Verkäuferin und ist siegessicher. Laut sagt sie: "Ich bin begeistert!" Plötzlich fällt ihr die alte Dame wieder ein, die diese ganze Aktion im Grunde ausgelöst hatte. "Bestimmt wird sie morgen wiederkommen und dann ihren fehlenden Pantoffel im Schaufenster sehen! Sie wird ihn wiederhaben wollen", grübelt die Verkäuferin. Einen kurzen Augenblick denkt sie an eine Spraydose mit brauner Farbe als Tarnung und zur Verdeutlichung, daß die beiden Babyschuhe in einer Krippe liegen.

Dann aber erkennt sie ihre hinterhältigen Gedanken und ist sich plötzlich ganz sicher, daß die alte Dame bestimmt ihr Einverständnis zu dieser Aktion geben wird. Schließlich kommt ihrem geliebten roten Pantoffel in diesem Fall eine Hauptrolle zu. Also verzichtet die Verkäuferin auf die Sprayaktion.

© 2010 by Schattenblick

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Bis Weihnachten hat Oma Erna noch eine Menge zu tun. Auf jeden Fall will sie vor dem große Fest alles noch auf Hochglanz bringen. Keines ihrer Kinder soll sagen, daß sie nicht mehr in der Lage ist, mit ihrer Wohnung allein fertig zu werden. Aber damit sie nicht alles auf einmal putzen braucht, hat sich Oma Erna einen Plan zurecht gelegt. Ihre Wohnung besteht aus der Stube, dem Schlafzimmer, der Küche, dem Bad und dem Flur, also fünf Räume. Das Putzen dieser Räume verteilt sie auf die nächsten Wochen. Schließlich hat Oma Erna auch noch Kekse zu backen und weitere Geschenke zu basteln. Und es ist schon Dezember.

Früher hat Oma Erna ihren Kindern zum 1. Dezember immer einen selbstgebastelten Adventskalender geschenkt, damit ihnen die Zeit bis zum Weihnachtsfest nicht zu lang wurde. Jedes Jahr dachte sie sich etwas Neues aus. Einige der Kalender sind auch noch oben auf dem Dachboden. Das fällt Oma Erna gerade ein. Sie hat nicht die Ambitionen jetzt noch für ihre großen Kinder neue Kalender herzustellen. Aber irgendwie ist Bello ja auch ein kleines Kind, und er hat es sicher verdient bis zum Weihnachtsfest verwöhnt zu werden. Deshalb beschließt Oma Erna einen Säckchenkalender aus den Weihnachtskisten herauszusuchen. Die Säckchen will sie dann mit Hundeleckerlies befüllen.

"Und was ist mit mir?", fragt der Unsichtbare aus seinem Lieblingssessel am Fenster heraus. "Du bist ja wohl groß genug und brauchst keinen Adventskalender mehr, aber wenn du magst, so lese ich dir jeden Abend eine Weihnachtsgeschichte vor."

Oma Erna geht auf den Dachboden und findet schnell den Adventskalender mit den Säckchen. Bello braucht also nicht lange in der Wohnung auf Omas Rückkehr zu warten. "Aus dem Winterputz wird heute nichts mehr", sagt Oma Erna und zieht sich an. Sie will mit Mops Bello in den Tierfutterladen gehen. Schließlich braucht sie ja etwas zum Befüllen. Bello bekommt die Leine umgebunden und schon geht es los. Schnell sind die Leckerlies im Laden besorgt. Normalerweise darf Bello mit in den Laden. Heute aber muß er am Eingang warten, damit er nicht sieht, womit Oma Erna ihn in den nächsten Tagen bis zum Weihnachtsfest überraschen will.

Wieder vor dem Laden findet es Oma Erna gar nicht so kalt. "Wir können noch einen kleinen Spaziergang wagen", sagt sie zu Bello und denkt im Stillen daran, einen kleinen Umweg über den Schuhladen zu nehmen. Vielleicht ist der Besitzer ja heute selber da und es gibt doch noch eine Chance, den kaputten Pantoffel zurück zu erhalten.

Es ist nicht mehr weit bis zum Laden, vielleicht noch zehn Meter. Da sieht Oma Erna eine ganze Menschentraube vor dem Laden, den sie ansteuert, stehen. "Was ist da wohl los", denkt sie, "sonst ist doch hier nie so viel Kundschaft." Beim Näherkommen bemerkt Oma Erna, wie einige Passanten schimpfend vor dem Fenster stehen, andere laut loslachen. Zwei Frauen scheinen sich sogar darüber zu streiten, was in dem Fenster vor sich geht. Das Fenster wurde auf alle Fälle weihnachtlich dekoriert. Denn jetzt, nur noch aus fünf Metern Entfernung, sieht Oma Erna einen Stern aufblinken. Dann steht sie vor dem Laden. Die Menschentraube versperrt ihr die Sicht. So zwängt sich Oma Erna durch die Passanten. Auch Bello kommt mit, schließlich ist er angeleint. Direkt am Fenster springt er hoch und stellt die Vorderpfoten auf der kleinen Mauer ab.

Sobald Oma Erna einen Blick in das Fenster geworfen hat, ist sie dermaßen erstaunt, daß sie die Menschen um sich herum gar nicht mehr so nah wahrnimmt. Ihre Verwunderung wird um so größer, je länger sie in das Fenster starrt. Diese Szene kannte sie doch irgendwoher.

Langsam dämmert es ihr. Hier ist die Geschichte des kleinen Jesuskindes, wie sie zu Weihnachten fast überall gezeigt oder gar vorgeführt wird, einmal auf ganz andere Weise dargestellt, nämlich durch Schuhe. Jetzt muß Oma Erna lachen. Doch sie will sich nicht den Zorn der übrigen Passanten einfangen. Da aber fällt ihr Blick genau auf den zentralen Punkt des Geschehens und Oma Erna stutzt. Ja, jetzt wird sogar sie wütend.

Bello hinter sich herziehend kehrt Oma Erna in den Schuhladen ein. Dort ist heute Hochbetrieb. Viele Kunden möchten etwas kaufen und am liebsten Schuhe aus dem Schaufenster. "Das geht nicht", sagt die Verkäuferin, "das ist doch unsere Dekoration."

Meist ist Oma Erna ein geduldiger Mensch und wartet bis sie an der Reihe ist. Doch dieses Mal ist das nicht der Fall und sie geht gleich zwischen die Verkäuferin und ihren Kunden: "Aber für mich werden sie in ihr Dekorationsfenster steigen", sagt sie sogleich, "und sie werden mir den Schuh wiedergeben, nach dem ich gestern abend gefragt habe."

Jetzt erst erkennt die Verkäuferin Oma Erna wieder. "Ach sie sind es. Warum sind sie so aufgebracht. Die Krippe in dem Fenster ist nicht ihr Pantoffel. Er ist kein bißchen kaputt." - Oma Erna läßt nicht locker: "Das möchte ich bitte sehen." Die Verkäuferin, die heute schon genug Lob und Schmach zugleich geerntet hat, steigt ins Fenster und holt den roten Pantoffel mitsamt den kleinen Babyschuhen aus dem Fenster. Plötzlich drehen sich alle Kunden vor dem Fenster zur Scheibe und einige beginnen zu rufen: "Das Jesuskind wird entführt." Die Verkäuferin hebt die Hände, als wolle sie sagen: "Keine Panik, ich bringe die Krippe gleich zurück." Von dem Podest heruntergestiegen reicht sie Oma die rote Krippe. "Sehen sie, der Pantoffel ist nicht kaputt, so wie ihrer es sein soll." Zuerst überlegt Oma Erna, ob der Pantoffel vielleicht geflickt wurde, doch das wäre zu erkennen. Deshalb entschuldigt sie sich und verabschiedet sich sogleich.

Bello dagegen ist nicht Omas Meinung. Gestern noch so friedfertig hier im Laden, will er sich heute die Krippe schnappen und springt an der Verkäuferin hoch. "Aus Bello! Pfui! Hör sofort auf, sonst bekommst du keinen Adventskalender!", schimpft Oma Erna und kann es nicht fassen, warum sich der Mops so aufführt. Schnell sucht sie den Ausgang des Ladens, um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen.


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"Bello, ich weiß gar nicht, was mit dir vorhin im Schuhladen los war. Du bist doch sonst immer ganz lieb zu Fremden?", sagt Oma Erna, als die beiden wieder zuhause ankommen. Schon im Flur hört Oma Erna Opa rufen: "Was war denn los?" - "Einen Moment bitte", denkt Oma, holt sich in der Küche eine Tasse Kräutertee aus der Thermoskanne und geht in die Stube. Dort setzt sie sich in den leeren der beiden Sessel. Bello wagt es heute nicht, sich auf Opas imaginären Schoß zu setzen. Nun erzählt Oma Erna alles, was sich im Schuhgeschäft zugetragen hat. Sie schließt mit den Worten: "Mich wundert wirklich, wo die Verkäuferin diesen roten Pantoffel her hat. Du mußt dir einmal vorstellen, er sah genauso aus, wie die roten Pantoffel von dir."

Plötzlich fällt Oma Erna ein, doch einmal nach dem vor zwei Tagen wiedergefundenen rechten Pantoffel zu schauen. Oder war es der Linke und der Rechte war der kaputte? Jedenfalls mußte einer der beiden Schuhe hier im Haus sein. Wo hatte sie ihn noch zuletzt gesehen?

"Los Bello, hilf mir suchen. Such den roten Pantoffel, such, such!" Ein bestimmtes Kribbeln im Bauch befällt Oma. Dieses Gefühl taucht immer auf, wenn etwas nicht stimmt oder sie eine heiße Spur verfolgt. Dann fällt es ihr auch wieder ein. Im Regal im Flur hatte sie den Pantoffel neulich entdeckt. Doch warum sucht Bello die ganze Zeit nur in der Stube? War er doch nicht so schlau, wie sie immer angenommen hat?

Oma Erna geht zur Garderobe. Leider findet sie hier nicht, was sie sucht. Hatte sie den Pantoffel doch woanders gesehen? Sie hatte ihn doch gleich nachdem der Schuhverkäufer gegangen war hier entdeckt. Während Oma Erna hin und her überlegt, schnüffelt Bello die ganze Zeit am Sofa herum.

"Ach, ja!", Oma Erna faßt sich an den Kopf, "das hatte ich ja glatt vergessen." Oma betritt die Stube: "Du hattest mir den Pantoffel am nächsten Tag zum Sofa gebracht, als es mir so schlecht ging. Kein Wunder, daß ich mich nicht mehr daran erinnert habe." Oma Erna hebt die Decke vom Sofa, um den Pantoffel darunter zu befreien. Doch wieso findet sie ihn jetzt nicht. "Er kann bloß vom Sofa herunter gefallen sein", geht es Oma durch den Kopf, "aber warum findet Bello ihn dann nicht? Spukt es hier im Haus? Irgendwas geht doch hier vor sich. So ein Pantoffel verschwindet doch nicht einfach, taucht dann plötzlich wieder auf und verschwindet danach vollständig. Es muß für all das eine Erklärung geben?" So überlegt Oma Erna. Und sie findet eine Erklärung: "Bestimmt habe ich das mit dem Pantoffel und dem Sofa durcheinander gebracht. Der Schuhverkäufer ist gekommen, nachdem ich den Pantoffel gefunden habe. Er dachte an seine Krippe und hat ihn einfach mitgenommen. Aber wie kann ich das beweisen? So ein netter Mann, das hätte ich wirklich nicht von ihm gedacht, daß er einer alten Frau einen Pantoffel stiehlt?"

Oma grübelt noch ein Weilchen vor sich hin. Da meldet sich ihr schlechtes Gewissen oder ist es Opa, der ihr ins Gewissen redet? "Nur weil du keine Erklärung für diesen Vorfall hast, beschuldigst du einen fremden Menschen, etwas dir weggenommen zu haben. Machst du es dir da nicht zu einfach? Wir wissen doch, daß es manchmal Dinge gibt, die sich nicht erklären lassen oder erst sehr spät aufgedeckt werden. Was, wenn Annette wieder hier in der Wohnung war und den Pantoffel mitgenommen hat. Das hat sie ja schon einmal mit dem anderen getan."

"Jetzt bist du es aber, der einen Menschen verdächtig. Ach, was soll es, alles wegen so einem albernen, alten Pantoffel. Ich habe auch noch was anderes zu tun, als mir über verlorene Dinge, den Kopf zu zerbrechen." Damit ist das Thema für Oma Erna erst einmal beendet. Bello dagegen sucht noch immer in der Stube herum. Erst am nächsten Tag wird er andere Dinge im Kopf haben.

Der rote rechte Pantoffel dagegen liegt wieder im Schaufenster des Schuhladens und läßt sich als Krippe bewundern. Das neue öffentliche Leben scheint ihm zu Kopf gestiegen zu sein. Denkt er überhaupt noch an sein Versprechen?



Advent 2010