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GUTE-NACHT/3220: Der kleine Nachtwächter und das dunkle Gespenst (SB)


Gute Nacht Geschichten

In der Stadt mit den hohen Mauern und den vielen Türmen zieht der kleine Nachtwächter vom Abend bis zum nächsten Morgen seine Runden. In den Straßen ist alles ruhig. Die Lampen in den Häusern sind gelöscht. Nur bei dem Dichter brennt noch Licht. Der Schatten an der Wand verrät aber, daß der Dichter den Kopf längst auf seine Arme niedergesenkt hat. "Bestimmt ist er über einem seiner Verse eingeschlafen!", denkt der kleine Nachtwächter und geht leise an dem Haus vorüber.

Sein Weg führt ihn zum Haus von Konrad, dem Jungen, der gern selbst einmal als Nachtwächter durch die Straßen ziehen möchte. Heute aber ist es ganz still in dessen Zimmer. "Weil er gestern Nacht so lange aufgeblieben war, ist er heute bestimmt so müde, daß er gleich ins Bett gefallen ist", meint der kleine Nachtwächter.

Anscheinend ist in dieser Nacht alles sehr schläfrig, selbst der Wetterhahn auf dem Kirchturm scheint seine Augen geschlossen zu haben.

Bald beendet der kleine Nachtwächter seine erste Runde durch die Stadt und steigt die Treppe auf die Stadtmauer hinauf. Eigentlich setzt er hier stets seinen Rundgang einmal um die Stadt fort, bevor er sich auf das leere, umgestülpte Holzfaß setzt und einen Bissen zu sich nimmt. "Nur ein bißchen ausruhen!", denkt der kleine Nachtwächter bei sich. Seine Füße sind heute schwer wie Blei.

Es vergeht keine Minute, da fallen auch ihm die Augen zu. Sein letzter Blick nimmt gerade noch den Schwanz einer Ratte wahr, die in diesem Moment unter einen Stapel Holz verschwinden will. "Aber wieso verharrt sie dort? Das ist ungewöhnlich", kann der kleine Nachtwächter gerade noch feststellen, bevor auch er eingeschlafen ist. Jedoch läßt auch im Schlaf den kleinen Nachtwächter dieses letzte Bild nicht los. "Wieso bewegt sich die Ratte nicht?", zieht es durch seinen Traum.

Der Wunsch, herauszufinden, was da vor sich geht, wird so stark, daß der kleine Nachtwächter wieder erwacht, und dies um keinen Augenblick zu spät. Denn gerade in diesem Moment greift etwas nach seiner Lampe und nach dem Schlüsselbund an seinem Gürtel. Das läßt sich der kleine Nachtwächter nicht gefallen und haut dem Fremden auf seine Finger. Aber was ist das? Die Finger lösen sich in Luft auf und von dem Fremden bleibt nur dunkler Rauch zurück.

"Du bist wohl ein Gespenst!", ruft der kleine Nachtwächter aus. "Aber ein dunkles Gespenst?", fragt er sich gleich im nächsten Augenblick, "ich wußte gar nicht, daß es so etwas gibt." Da wird ein Lachen laut: "Gespenst! Hahaha! Ich bin der Alp! Und ich komme wieder." Der kleine Nachtwächter will nach seiner Laterne greifen. Doch er kann sie im ersten Moment nicht entdecken, denn die Kerze darin ist erloschen. Aber zum Glück hat er ja noch seine Taschenlampe und die schaltet er sogleich an. Jetzt verändert sich das Lachen in einen angstvollen Schrei, und der dunkle Rauch löst sich auf. Auch die Eiseskälte, die den kleinen Nachtwächter frösteln ließ, verschwindet.

Mit seiner Taschenlampe leuchtet er über den Boden in die Dunkelheit und kann gerade noch entdecken, wie der Schwanz der Ratte unter dem Holzstoß verschwindet. "Das war aber knapp", atmet der kleine Nachtwächter auf. Ein bißchen schämt er sich, weil er bei seiner Arbeit eingeschlafen war. Zum Glück aber nimmt er seine Tätigkeit sehr ernst, so daß er auch im Schlaf über ungewöhnliche Dinge nachsinnt und ihn dies gerettet hat. "Komm bloß nicht wieder!", ruft der kleine Nachtwächter in die Dunkelheit hinein, "noch einmal laß ich mich nicht überlisten."


23. Juni 2010