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GUTE-NACHT/2327: Familie Schwalbe - Däumelinchens Reise (SB)


Familie Schwalbe - Däumelinchens Reise

Am Abend sitzen Vater und Mutter Menschlein auf der Treppe vor ihrem Haus. Die Sonne ist am untergehen. Sie zeigt sich noch einmal rot am Himmel. Vater und Mutter Menschlein warten auf die Heimkehr ihrer Schwalben. Sie haben sich heute gar nicht oft sehen lassen. "Kennst du eine schöne Geschichte über eine Schwalbe?" fragt Mutter, die sich gern Geschichten erzählen läßt. "Ja, aber sicher kennst du die Geschichte von Däumelinchen schon. Darin kommt eine Schwalbe vor", sagt Vater Menschlein und ergänzt, "die Geschichte hat Hans Christian Andersen geschrieben." - "Erzähl sie mir bitte", sagt Mutter Menschlein.


*


Eine Frau wünschte sich so sehr ein Kind, konnte aber keines bekommen. Da ging sie zu einer alten Hexe und bat diese, ihr zu helfen. Die Hexe gab ihr ein Gerstenkorn. Das sollte die Frau einpflanzen. Die Frau tat wie ihr geheißen. Aus dem Korn wuchs eine schöne Blume, die aussah wie eine Tulpe. Direkt auf die Blüte küßte die Frau die Blume. Plötzlich öffnete sich die Blüte und ein kleines Mädchen, so groß wie ein Daumen, kam daraus hervor. Die Frau freute sich sehr über ihr kleines Töchterchen und nannte es Däumelinchen. Däumelinchen bekam ein Bett in einer Walnußschale. Diese wurde auf ein schwimmendes Blatt in der Mitte eines Tellers, der mit Wasser gefüllt war, gesetzt. Nachts aber kam eine häßliche Kröte und nahm Däumelinchen mit sich fort, denn die Kröte wollte das kleine Mädchen mit ihrem Sohn verheiraten. Doch Däumelinchen wollte nicht heiraten. Da halfen ihr die Fische, vor der Kröte zu fliehen. Nun begann das nächste Abenteuer. Auch ein Maikäfer wollte Däumelinchen zur Frau. Nur weil alle anderen Maikäfer fanden, daß Däumelinchen häßlich sei, wurde sie verstoßen und auf einer Wiese am Waldrand ausgesetzt.

Den ganzen Sommer über lebte Däumelinchen dort allein. Sie fand zu essen und trank den Tau des Morgens. Dann aber kam der Winter ins Land und Schneeflocken fielen vom Himmel. Für Däumelinchen waren sie so groß wie eine ganze Schaufel voll Schnee. Däumelinchen suchte nach einem Unterschlupf, sonst hätte es erfrieren müssen. Eine Feldmaus nahm das Mädchen bei sich auf und gab ihr zu essen. Dafür hatte Däumelinchen versprochen, allerhand Arbeiten für die Feldmaus zu erledigen.

Jede Woche einmal kam der Nachbar der Feldmaus vorbei. Es war der reiche Maulwurf. Die Feldmaus ließ Däumelinchen dann Lieder singen. Bei dem Klang ihrer Stimme verliebte sich der Maulwurf in sie, denn er war ja blind, konnte sie also nicht sehen, nur ihre liebliche Stimme hören. Nun war die Feldmaus nicht so gut, wie sie immer tat. Sie versprach sich von einer Heirat zwischen dem Maulwurf und Däumelinchen eine reiche Belohnung von seiten des Maulwurfs. So schürte sie dessen Verliebheit und nahm ihm alle Zweifel, die er noch hatte.

Eines Tages lud er dann Däumelinchen in seine Wohnung ein. Sie solle sich aber nicht an dem toten Vogel stören, der da unter der Erde auf dem Weg zu seiner Wohnung läge. Däumelinchen mochte den Maulwurf nicht, denn er sprach schlecht von all den Dingen, die sie selbst liebte, die Sonne und die Blumen. Doch sie ging mit dem Maulwurf, um die Feldmaus nicht zu verärgern. In dem dunklen Gang zwischen den beiden Wohnungen unter der Erde lag eine Schwalbe. Sie war wohl abgestürzt, weil sie vom Winter überrascht worden war und war nun erfroren. Der Maulwurf rümpfte seine Nase und sprach schlecht über das fliegende Volk. Frau Feldmaus pflichtete ihm bei, denn sie wollte es sich mit dem Nachbarn nicht verderben. Däumelinchen schwieg still. Sie liebte Vögel, die ihr im Sommer so schön vorgesungen hatten. Deshalb konnte sie in der Nacht auch nicht einschlafen. Sie mußte die ganze Zeit an die Schwalbe denken. Sie wollte ihr etwas bringen, damit sie in der kalten Erde doch warm läge. Aus Heu flocht Däumelichen eine Decke und schlich sich in tiefster Dunkelheit zu der toten Schwalbe, deckte sie zu und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. Plötzlich vernahm Däumelinchen ein Klopfen in der Brust der Schwalbe. Sie war nicht tot, sondern nur bewußtlos gewesen. Die warme Decke hatte sie wieder zum Leben erweckt.

Däumelinchen erschrak und zitterte heftig, denn der Vogel war viel größer als sie selber. Dann aber faßte Däumelinchen all ihren Mut zusammen und legte die Baumwolle, die sie bei der Feldmaus gefunden und auch mitgenommen hatte, dicht um die arme Schwalbe. Sie sollte es jetzt, da sie gar nicht tot war, doch warm haben. Auch den Kopf bedeckte das Mädchen mit einem Minzeblatt, das sie selbst als Decke gehabt hatte.

Auch in der nächsten Nacht schlich sich Däumelinchen wieder zur Schwalbe. Sie war lebendig, aber ganz matt. Nur einen kleinen Augenblick konnte sie ihre Augen öffnen und Däumelinchen ansehen. Däumelinchen hatte keine Laterne, nur ein faulendes Stück Holz in der Hand, das etwas Licht abgab. Die Schwalbe bedankte sich bei Däumelinchen und wollte wieder davonfliegen. Doch Däumelinchen erklärte, da oben sei noch immer Winter, es würde schneien und die Schwalbe würde bestimmt dort oben erfrieren. "Bleib nur in deinem warmen Bett, ich werde dich pflegen!" versprach Däumelinchen. In einem Blatt brachte Däumelinchen der Schwalbe Wasser. Die Schwalbe trank und erzählte nun, wie sie sich ihren Flügel an einem Dornbusch verletzt und deshalb nicht mit den anderen Schwalben in die wärmeren Länder fortfliegen konnte. Zwar bemühte sie sich, doch war sie zuletzt doch nur zur Erde gefallen. Mehr erinnerte die Schwalbe nicht mehr.

Den ganzen Winter blieb die Schwalbe unter der Erde bei Däumelinchen. Weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhren etwas davon, denn sie konnten die Schwalbe nicht leiden. Däumelinchen aber liebte die Schwalbe.

Als dann das Frühjahr kam, erwärmte die Sonne die Erde. Jetzt öffnete Däumelinchen das verschlossene Loch am Ende des Ganges, den der Maulwurf gegraben hatte. Hier konnte die Schwalbe wieder nach oben gelangen. Die Sonne schien so herrlich, da fragte die Schwalbe, ob Däumelinchen denn nicht mitkommen wolle. Sie könne auf ihrem Rücken mitfliegen. Däumelinchen dachte an die Feldmaus und wie traurig diese sein würde, wenn Däumelinchen sie einfach verließ. Deshalb sagte sie: "Nein." "Lebe wohl, lebe wohl!" sagte die Schwalbe und flog davon. Däumelinchen traten Tränen in ihre Augen, denn sie hatte die Schwalbe von Herzen gern. "Quivit, quivit!" hörte sie die Schwalbe singen und war sehr betrübt.

In der folgenden Zeit erhielt Däumelinchen von der Feldmaus nie die Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein zu treten. Auch wuchs bald das Korn auf dem Feld über dem Haus der Feldmaus hoch in die Luft, daß Däumelinchen gar nicht mehr den Himmel sehen konnte. Doch lange in den Himmel zu starren, war Däumelinchen sowieso nicht vergönnt. Denn die Feldmaus trieb sie den ganzen Sommer über an, ihre Aussteuer zu nähen. Schließlich hatte der Maulwurf um Däumelinchens Hand angehalten. Däumelinchen mußte mit der Spindel spinnen. Vier Raupen, die die Feldmaus angestellt hatte, webten Tag und Nacht für sie. Abends kam der Maulwurf zu Besuch und unterbreitete Däumelinchen seine Hochzeitspläne. Wenn der Sommer vorbei sei, wollte er sie zur Frau nehmen. Däumelinchen gefiel das gar nicht. Sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht. Jeden Morgen und jeden Abend stahl sich Däumelinchen aus der Tür hinaus. Jetzt trieb der Wind die Kornähren auseinander, daß der blaue Himmel zu sehen war. Däumelinchen erkannte, wie hell und schön es hier draußen war, und sie wünschte sich so sehr, die liebe Schwalbe wiederzusehen. Aber diese kam nicht.

Nach dem Sommer kam der Herbst. Jetzt hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer beisammen. In vier Wochen sollte nun Hochzeit sein. Aber Däumelinchen weinte und war nicht glücklich. "Werd' nicht widerspenstig", schimpfte die Feldmaus, "sonst beiße ich dich mit meinen Zähnen. Schließlich bekommst du einen schöner Mann und er ist reich, trägt einen schwarzen Samtpelz und hat Küche und Keller voll."

Dann kam der Tag der Hochzeit. Der Maulwurf kam, um Däumelinchen zu holen. Sie sollte bei ihm tief unter der Erde wohnen und nie mehr an die warme Sonne gelangen. Bei der Feldmaus hatte Däumelinchen wenigstens von der Tür aus, die Sonne sehen können. "Wenn ich mit dem Maulwurf gehe, möchte ich der Sonne wenigstens Lebewohl sagen", bat Däumelinchen. Die Feldmaus erlaubte dies. Däumelinchen sollte aber ganz schnell wieder zurückkommen. Däumelinchen streckte die Arme empor und ging eine kleine Strecke vor dem Haus der Feldmaus entlang. Das Korn war geerntet. Nur die trockenen Stoppeln standen noch herum. Däumelinchen entdeckte eine kleine rote Blume, die da stand und trug ihr auf, der kleinen Schwalbe Grüße auszurichten.

"Quivit, quivit!" ertönte es da plötzlich über Däumelinchens Kopf. Sie blickte hinauf und erkannte die kleine Schwalbe. Däumelinchen war hoch erfreut. Die Schwalbe kam herbei und Däumelinchen erzählte ihren Kummer. Sie wolle den häßlichen Maulwurf nicht zum Manne nehmen und auch nicht unter der Erde leben, wo niemals die Sonne scheine.

Es war die Zeit, daß die Schwalbe wieder in wärmere Länder aufbrach. Deshalb schlug sie Däumelinchen vor, doch dieses Mal auf ihren Rücken zu steigen und mitzufliegen. "Binde dich mit deinem Gürtel fest, dann fliegen wir dem Maulwurf einfach davon!" Däumelinchen stimmte zu und stieg auf den Rücken des Vogels. Ihren Gürtel band sie an der stärksten Federn der Schwalbe fest. Dann begann die Reise.

Nach einem langen Flug kamen sie in den warmen Ländern an. Die Sonne schien klarer, der Himmel war zweimal so hoch, und grüne und blaue Weintrauben wuchsen hier. Es gab Zitronen und Apfelsinen und es duftete nach Myrten und Minze. Doch die Schwalbe flog noch weiter bis sie an ein weißes Marmorschloß kam, das an alte Zeiten erinnerte. Hier gab es hoch oben an den Säulen viele Schwalbennester. Eines davon gehörte der Schwalbe, die Däumelinchen trug.

"Das ist mein Haus!" sagte die Schwalbe. "Du aber suche dir eine der prächtigsten Blumen dort unten aus, und ich werde dich dort hineinsetzen, denn du sollst es schön hier haben." Däumelinchen entdeckte eine große, weiße Marmorsäule, die zu Boden gefallen und in drei Stücke zerbrochen war. Zwischen den Teilen aber wuchsen die schönsten weißen Blumen, die Däumelinchen je gesehen hatte. Die Schwalbe flog Däumelinchen hinunter und setzte sie auf einer der Blumen ab. Wie erstaunt war Däumelinchen da, denn mitten in der Blume saß ein kleiner Mann. Ganz weiß, fast durchsichtig, als sei er aus Glas. Auf dem Kopf trug er eine Goldkrone und an den Schultern wuchsen ihm Flügel. Es war der Blumenelf. Hier in diesem Land lebte in jeder Blume ein kleiner Mann oder eine kleine Frau.

"Wie ist er schön!" staunte Däumelinchen und flüsterte diese Worte der Schwalbe zu. Der kleine Mann, es war der Prinz, erschrak beim Anblick der Schwalbe, denn für ihn war sie ein Riesenvogel. Als er aber Däumelinchen erblickte, freute er sich sehr, denn sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Er nahm seine Goldkrone vom Kopf und setzte sie Däumelinchen aufs Haar. "Möchtest du meine Frau und Königin über alle Blumen werden?" fragte er sie.

Ja, diesen Mann wollte Däumelinchen. Er war wahrlich ein ganz anderer als der Sohn der Kröte, der Maikäfer und der Maulwurf mit seinem schwarzen Pelz. Däumelinchen willigte ein. Aus jeder Blume kam nun eine Dame oder ein Herr und brachte Däumelinchen ein Geschenk. Das beste Geschenk aber war ein Paar Flügel von einer großen, weißen Fliege. Dieses wurde Däumelinchen auf dem Rücken befestigt. Nun konnte auch sie von Blume zu Blume fliegen. Auch der Prinz hatte für Däumelinchen ein Geschenk. Er gab ihr einen neuen Namen. "Maja sollst du von nun an heißen!"

16. Mai 2007

Gute Nacht