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ABENTEUER/006: Viel Wind um Uropas Pfeife. Luftströmungen (SB)

Leuchtturm, © Schattenblick 2010
Viel Wind um Uropas Pfeife

Mit Anhang: Luftströmungen


"Brrrrrrrrr-op." Malte stellte den Motormäher aus. Opa hatte ihm erlaubt, in dem kleinen Garten links von Opas Leuchtturm den Rasen zu mähen. Dieser Garten war für die Kinder eine neue Entdeckung und das nicht nur wegen des reichhaltigen Beerenobstes, das hier hinter einer kleinen Mauer windgeschützt gedeihen konnte und frisch vom Strauch gepflückt einfach köstlich schmeckte. Irgendwie war es auch ein verwunschener Ort, denn Opa hatte hier überall seine "Spielsachen" versteckt oder wie Christbaumschmuck in die Bäume gehängt. Da gab es bunte, drehbare Propeller - wie sie sich Ole schon immer für sein Fahrrad gewünscht hatte -, die sich ganz oben auf dem Mäuerchen, zwischen die Fugen gesteckt, im Wind drehten. Auch von den Ästen der Obstbäume und an einem gespannten, zierlichen Draht über den Büschen hingen bizarre Gebilde aus Blech und Alufolie, die sich im Wind bewegten, glitzerten und klingelnde Geräusche von sich gaben, wenn sie aneinanderstießen. In jeder Ecke gab es hier etwas zu gucken und zu tun.

Ole und Kerstin hatten schon einen großen Teil des gemähten Grases zu Haufen zusammengeharkt. Malte, der den Rasenmäher in den Schuppen stellte, kam mit einer Schubkarre zurück, um das Gras mit Kerstin zusammen aufzuladen und zum Kompost zu karren. Kerstin liebte diese Arbeit, mehr noch allerdings die großen Haufen, in die sie sich bäuchlings hineinwarf. "Darf ich mit der Schubkarre fahren?", fragte sie ihren großen Bruder. "Aber nur, wenn du dich nicht so schwer machst oder das ganze Gras herunterschubst", brummte der gutmütig.

Ole harkte und harkte. Doch irgendwie war der Wurm - oder der Sturm? - drin. Denn immer, wenn Ole einen Haufen aufgetürmt hatte, kam plötzlich ein Windstoß, fuhr dazwischen und wirbelte das Gras in alle vier Himmelsrichtungen. Ein Ärger war das, und wenn der Wind nicht bald abnahm, würde es mit dem Picknick auch Essig sein, denn hauptsächlich dafür unternahmen sie ja die ganze Anstrengung. Opa hatte ihnen nämlich zur Belohnung versprochen, draußen an der Feuerstelle im Garten an diesem Abend Würstchen zu grillen.

Opa sah ihnen vom Leuchtturm aus zu und schmunzelte. Tja, der Wind konnte einem hier an der See leicht einen Strich durch die Rechnung machen. Seine Enkel bangten jetzt bestimmt um ihr Grillfest, doch er wußte ja, daß wegen so einem bißchen Wind nicht gleich das ganze Picknick ins Wasser fallen mußte. Apropos, da fiel ihm ein, daß er ja noch die Würstchen vom Metzger holen mußte. Eilig turnte er die vertrauten Stiegen hinunter und lief durch den Garten.

"Sucht schon alles zusammen, was wir für unser Picknick brauchen", rief er den Kindern zu, "ich bin gleich wieder da." - "Ooopa", kreischte Kerstin hinter ihm her, "der Wind wird immer doller." - "Macht nix, mien Deern", schrie er zurück, "der ebbt schon wieder ab, den Lümmel kenn ich." Und weg war er.

"Lassen wir doch den Wind das Gras vom Rasen fegen", nörgelte Ole genervt und schmiß sich der Länge nach hin. Schon wieder hatte ihm ein Windstoß das Werk vernichtet. "Ich mag nicht mehr harken." - "Okay, dann sammel mit Kerstin das Gras ein, ich harke den Rest." Malte harkte wie ein Besessener, aber immer mit dem Wind. Dabei behielt er Opas Windspiele im Auge. Sobald sie heftiger klingelten oder sich die Propeller auf dem Mäuerchen drehten, warf Malte seinen Anorak auf den Haufen und hielt ihn damit fest.

Nicht lange danach hatten sie den Garten in Ordnung gebracht, eine Decke für das Picknick mit Steinen beschwert und einen Korb mit allem Nötigen in der Küche zusammengestellt. Opa hatte nach dem Frühstück eine Riesenschüssel Kartoffelsalat gemacht - extra für das Fest. "Ich will aber Ketchup", maulte Kerstin und - als wieder mal keiner reagierte - rannte sie zurück in die Küche.

Malte hatte in der Zwischenzeit einen kleinen Reisighaufen entzündet und schichtete darauf Holz. Wenn Opa mit den Würstchen kam, sollte schon ein brauchbares Feuer prasseln. Und so war es dann auch. Das Grillfest wurde eine wahre Sensation.

Zu ihrer Verwunderung ließ der Wind tatsächlich gegen Abend nach, so daß sie, nachdem alle satt waren, noch einmal ordentlich Holz nachlegten und einfach gemütlich am warmem Feuer sitzen blieben, während es schon dämmerte. Ole spielte eine leise Melodie auf der Mundharmonika. "Na", meinte Opa, "der Wind hat euch heute ganz gut zu schaffen gemacht, was?", Kerstin und Malte nickten. "Das war komisch, als ob er es mit Absicht getan hätte. Immer ist er genau in die Grashaufen gefahren." - "Sowas kenne ich gut", meinte Opa und stopfte sich gemütlich seine Pfeife. "Ja, ja!"

Das war mal wieder typisch, sah doch alles nach einer Geschichte aus, die unbedingt erzählt werden wollte, und doch mußte man sie Opa wieder wie Würmer aus der Nase ziehen.

"Opa", drängte sich Kerstin an ihn heran. "Na, was is denn, mien Lütten?" - "Ooopa, hattest du nicht gerade angefangen, etwas zu erzählen?" - "Erzählen, iich? - Ja wieso denn das, warum sollte ich denn etwas erzählen? Und überhaupt, nachher glaubt ihr sowieso wieder nur, ich hätte mir das ausgedacht." - "Ach bitte, lieber Opi, bitte, erzähl doch, wieso du das mit dem Wind so gut kennst." - "Na gut Kerstin, ich erzähl es dir mal irgendwann. Aber guck doch mal, die beiden Jungs, wollen das jetzt gar nicht hören." - "Mensch Opa, das ist aber gemein", eiferten jetzt Malte und Ole durcheinander. "Wir sind doch schon ganz heiß auf eine neue Story von Eteo Ro. Schließlich hast du ihn doch irgendwann auch mal richtig gerettet, oder nicht?" - "Tja, aber bis dahin war es noch ein langer Weg. Erstmal mußte ich eine Menge über das Wetter lernen. Und dann war da noch die Sache mit diesem vermaledeiten Wind. Eteo Ro liebte solche Scherze ..." Und während es um sie herum dunkler und dunkler wurde bis die Sterne über ihren Köpfen funkelten, entstand vor ihren Augen, genau mitten im Feuer, wieder ein Zeitloch, das sie allesamt verschluckte und viele Jahre früher, an einem schönen Frühlingstag wieder ausspuckte ...


*


Dafür, daß ich damals die Schmuggler dingfest gemacht hatte, bekamen wir eines Tages von der örtlichen Zollbehörde ein großes Paket Tabak. Das heißt, eigentlich bekam ich es geschickt. "Herr Fritz Janssen, Esbjerg" stand auf dem Paket. Aufgeregt nahm ich es vom Postboten entgegen und lief damit in mein Zimmer, um es zu öffnen. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch kein richtiges Paket bekommen und es außerdem einem glücklichen Umstand zu verdanken, daß ich gerade in dem Moment dem Postboten begegnete, als ich von der Schule heim kam. Denn sonst wäre ich nie in den Genuß gekommen, mein eigenes Paket - ganz für mich allein - zu öffnen. Ein Paket zu bekommen war eine große Sensation, und wenn ich mich nicht beeilte, war bald das ganze Haus voller Nachbarn, die einen Blick darauf werfen wollten, ganz abgesehen von meiner eigenen Familie. Mit flinken, ein wenig zittrigen Fingern nestelte ich den Bindfaden auf und riß das Papier herunter. Und da war sie, die Tabakkiste. Im Begleitschreiben hieß es in sehr gestelzten Worten:


Sehr geehrter Herr Janssen,

in hochachtungsvoller Wertschätzung und Anerkennung
Ihres selbstlosen und mutigen Vorgehens ...
erlauben wir uns, Ihnen ...
einen Teil des sichergestellten Tabaks ... usw. usw.
zur Verfügung zu stellen.

Dann kam eine unleserliche Unterschrift.


Kaum hatte ich begriffen, was mir da geschickt worden war, griff ich auch schon in meine Jackentasche, und im gleichen Augenblick wurden mir drei Dinge klar:

1. Es mußte sich hierbei um eine Verwechslung handeln, denn einem zehnjährigen Jungen schenkt man normalerweise keinen Tabak, auch nicht in "hochachtungsvoller Wertschätzung".
2. Es würde, so wie ich unseren Postboten einschätzte, der nicht gerade ein Ausbund an Diskretion war, in weniger als einer halben Stunde hier von "guten Bekannten" wimmeln, die alle das Paket sehen wollten und
3. Papa würde bestimmt nach langer Zeit endlich wieder einmal eine Pfeife rauchen können - aber die Pfeife war nicht auf ihrem gewohnten Platz!

Es blieben mir also höchstens 20 Minuten, um die Pfeife zu beschaffen und sie möglichst ungesehen an die Stelle zurückzulegen, wo ich sie - in dem Wissen, daß Vater ohne Tabak auch seine Pfeife nicht vermissen würde - entwendet hatte. Sonst wäre mir ein Affentheater sicher.

Ich stopfte das Paket unter meine Bettdecke, raste wie der Blitz aus dem Haus und radelte, so schnell ich konnte, zurück zur Schule. Zum Glück hatte ich den Wind im Rücken. Auf dem Rückweg würde es dann allerdings nicht so gut gehen. Sicher fragt ihr euch jetzt, warum ich, um Vaters Pfeife zu finden, ausgerechnet in die Schule mußte.

Tja nun, alle Jungs haben so ihre Geheimnisse, ihr kennt das ja sicher. In unserer Schule war es der Dachboden, in dem wir uns eine Art Raucherecke eingerichtet hatten. Dort trafen wir uns in den Pausen immer zu geheimen Beratungen. Wer zu diesem Club gehören wollte, der mußte eine Pfeife bei sich tragen, und es durfte keine neu gekaufte sein. Sie einer entsprechenden Person zu entwenden und zu benutzen, ohne daß sie etwas davon merkte, gehörte quasi als Mutprobe zum Aufnahmeritual des Clubs. Allerdings rauchten wir keinen Tabak. Wir stopften sie nur mit Papierschnipseln und taten so, als würden wir rauchen.

Nun, Vaters Pfeife hatte ich heute mittag zuletzt bei einer dieser geheimen Versammlungen auf dem Schuldachboden benutzt und da sie nicht mehr in meiner Jackentasche steckte, mußte ich sie in der Schule gelassen haben.

Hausmeister Peterson war im Garten. Ich stellte mein Fahrrad an der Schulmauer ab und schlich mich über den Schulhof zum Kellerfenster. Hier konnte Peterson meinen Einstieg nicht bemerken.

Wie ein geübter Einbrecher schob ich meinen Arm durch die Lüftungsklappe und löste den Riegel. Am nächsten Tag würde ich in den Keller hinunterschleichen müssen und alles wieder ordnungsgemäß verschließen. Heute blieb mir dafür nicht die Zeit. Zum Glück gab es in unserem Dorf keine Einbrecher, und wenn doch, wer wäre schon freiwillig in der Schule eingebrochen? Außer Tafeln, Kreide und ein paar eselsohrigen Schulbüchern gab es hier nichts, was sich zu stehlen gelohnt hätte.

Vorsichtig schlich ich mich durch den Keller zum Treppenhaus. Zwei Stockwerke hatte die Schule. Die Treppen nahm ich im Laufschritt, denn ich war schon etwa fünf Minuten unterwegs. Für die Dachluke gab es keinen offiziellen Aufgang. Ich mußte einen Stuhl aus dem Klassenzimmer holen, hinaufsteigen und die Klappe herunterlassen, an der sich eine Schiebeleiter befand. Mit geübten Handgriffen ließ ich sie herunter und war im Nu in unserem Geheimversteck. Durch die Fensterluke schien ein Lichtstrahl herein, und der Staub tanzte in dem Kegel, den er bildete. Wo hatte ich bloß die verdammte Pfeife gelassen? Ich war wieder einmal ganz schön in der Klemme, denn von einer Pfeife war hier nichts zu sehen. Alte Bücher, stapelweise Schulhefte, dann unser aus Kisten zusammengesetzter Versammlungstisch mit der Kerze, den Streichhölzern, ein vergessenes Butterbrotpapier, ein Stück Bindfaden - doch keine Pfeife. Ich entzündete die Kerze auf dem Tisch. Vielleicht, wenn ich noch eine weitere Dachluke öffnete, damit noch etwas mehr Licht hereinkam ...?

Wieso ich jetzt an Eteo Ro dachte, war eigentlich klar. Schließlich hatte er mir schon öfter in brenzligen Situationen geholfen. Und dies war nicht nur eine brenzlige Situation, ich saß ganz schön in der Patsche. Aber hatte ich ihm denn bei seinem Problem geholfen, wie ich es ihm versprochen hatte? Nein, bisher war ich kaum einen Schritt weiter gekommen.

Ich hatte zwar schon einen Plan, doch davon wollte Eteo Ro noch nichts wissen. Meiner Ansicht nach mußten wir herausfinden, wann und wo ein Wetterballon gestartet werden sollte, und Eteo Ro müßte sich dann in das Gas des Ballons mischen. Mit einer dicken Heliumschicht umgeben sollte ihm die Ozonschicht nicht weiter schaden, er müßte dann nur herausfinden, wann der Ballon die Stratosphäre und damit die Ozonschicht durchstoßen und die Mesosphäre erreicht hätte, doch wußte ich ja, daß Eteo Ro noch allerhand technische Tricks auf Lager hatte, da sollte sich wohl auch ein gasförmiges Höhenmeßgerät finden lassen. Aber Eteo Ro weigerte sich stur. "Ich bin doch nicht lebensmüde", pflegte er zu sagen, "und steige in solch ein vorsintflutliches, primitives Fluggerät, mit dem ich wahrscheinlich strande". Nein, er traute unseren Wetterballons nicht, und er hatte auch keinen Pioniergeist, keinen Sinn, mal etwas zu improvisieren. Die Technik müsse perfekt sein, sonst würde er sich ihr nicht anvertrauen. Dazu gehörte beispielsweise auch, daß die Heliumkonzentration im Ballon einen ganz bestimmten Wert haben mußte, damit er über die Stratosphäre hinaus aufsteigen würde. Außerdem hätte er darauf vertrauen müssen, daß es mir gelang, rechtzeitig die eigentliche Wettersonde mit den schweren Meßgeräten abzukoppeln und mit einem leichtgewichtigen Dummy zu ersetzen. Doch um ihm das garantieren zu können, mußte ich guten Kontakt zu einer Wetterstation haben oder dort sogar eine Art Stellung bekleiden. Aber wer nimmt schon einen 10jährigen Jungen ernst? Damals wußte ich noch nicht, daß viele Jahre ins Land gehen würden, bis ich meinen Plan in die Tat umsetzen konnte.

Während ich nach der Pfeife suchte, ging mir dies alles durch den Kopf, und ich fühlte mich reichlich mies, wenn ich an Eteos Aussichten dachte, und daß er sich auf mich verlassen hatte. Plötzlich blies ein Wind durch eine der beiden Luken und löschte die Kerze aus. In der Dämmerung erinnerte ich mich plötzlich wieder ganz deutlich, wie ich die Pfeife hier oben noch in die Tasche gesteckt hatte, nachdem wir die Kerze ausgeblasen hatten. Also konnte sie nur noch im Klassenraum sein. Richtig, dort hatte ich die Jacke ausgezogen, vielleicht war sie dabei aus der Tasche gerutscht.

Im Eiltempo kletterte ich vom Dachboden, verschloß ihn und verwischte meine Spuren, so gut es ging. Im Klassenzimmer herrschte ein Durcheinander wie selten. Wir hatten zuletzt eine Bastelstunde gehabt, und überall lagen lose Fetzen und Papiere herum, auch auf dem Fußboden. Peterson würde uns am nächsten Tag sicher die Leviten lesen. Sonst pflegte er mit einigen von uns Schülern hier nach dem Unterricht mit dem Besen durchzugehen. Ganz offensichtlich hatte er das heute nicht getan. Das konnte nur äußerst dicke Luft bedeuten.

An meinem Platz fand ich die Pfeife nicht. Es war hoffnungslos. Ich würde erstmal einen Besen suchen müssen und dann aufräumen. Doch die Uhr tickte, und wenn ich jetzt nicht bald die Pfeife fand, konnte ich mich lieber gleich verstecken oder gar nicht mehr zu Hause blicken lassen.

Auf einmal entstand mitten in diesem geschlossenen Raum eine richtige Windböe. "Eteo, mein Freund", seufzte ich erleichtert, denn natürlich, konnte das nur ein Klimatiker bewirkt haben. - "Na, du hektischer Erdenwurm", hauchte er mir im Vorbeiflug ins Ohr, "dann sieh mal zu, daß du deinen Nasenkolben findest, lange gefällt es mir nämlich nicht mehr, all diese Papiere in meinem Körper herumzubugsieren." Der Wind hatte alle Schnipsel hochgewirbelt, und nun konnte ich in Ruhe den Fußboden absuchen. Richtig, da lag die Pfeife. Zum Glück war ihr nichts geschehen. "Ich hab' sie, danke Eteo", rief ich erleichtert und rannte mit meiner Beute auch schon aus dem Klassenzimmer. "Typisch", hörte ich Eteos Stimme im Ohr, "und dieses gelungene Manöver sieht mal wieder kein Schwein." Als ich zurückblickte, sah ich gerade noch einen eleganten Luftwirbel voller bunter Schnipsel, der im Papierkorb verschwand. Eteo hatte das Aufräumen besorgt und uns morgen viel Ärger erspart. Doch ich hatte jetzt keine Zeit, daran zu denken. Nur schnell in den Keller, zurück über den Schulhof und dann aufs Rad.

Der Wind vor der Schule war viel stärker geworden, die Baumwipfel schwankten, es würde also ein Kampf werden bis nach Hause, und ich hatte nur noch fünf Minuten. 'Wenn der Wind jetzt doch nur drehen würde', dachte ich, während ich mich in die Pedale stemmte. Mein Anorak blies sich wie ein Segel auf, und ich hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten. "Na, Tretfüßler", vernahm ich wieder das vertraute Spötteln, "dir geht wohl gleich die Puste aus? Schade, daß du kein Klimatiker bist, dann könntest du nach Hause fliegen, höhö." - "Nur gut, daß du immer was zu lachen hast, Eteo", ächzte ich mit letzter Kraft, "sonst wäre es doch auf unserer schnöden Erde viel zu langweilig für dich." Allmählich war mir klar, daß es Eteo war, der sich meinem Weiterkommen so entgegenstellte, und das brachte mich beinahe in Wut. "Mensch, warum hilfst du mir denn erst, wenn du mich jetzt nicht nach Hause läßt, Eteo", schnaubte ich wütend. "Verdammt, laß los." - "Na gut, aber 'Mensch' nimmst du zurück, beleidigen lasse ich mich nicht", meinte Eteo pikiert. Beinahe wäre ich vom Rad gestürzt, so plötzlich hörte der Widerstand auf. Ein Blick auf die Uhr sagte mir noch zwei Minuten. Ich trat, was die Pedalen hergaben. "Danke Eteo", rief ich, "du Teufelsklimatiker!" Da spürte ich plötzlich Verstärkung im Rücken. Wieder blies sich meine Windjacke auf, doch diesmal wurde ich von einem Sturm geschoben. Ich mußte kaum noch treten, so schnell war ich zuhause. Unterwegs hatten sich schon einige Leute nach mir umgedreht und etwas von einem Paket gerufen. Die Neuigkeit hatte sich wohl schon im ganzen Dorf herumgesprochen. In der Aufregung fiel zum Glück niemandem auf, daß ich einfach gegen den Wind segelte. Hoffentlich hatte Vater noch nicht nach seiner Pfeife gesucht.

Mein Fahrrad an die Hauswand werfen und die Treppe in zwei Sätzen hochspringen war eins. "Frihitz, Fritz, wo steckst du denn?", hörte ich schon meine Mutter, "das Essen ist fertig. Und sag mal, wo ist eigentlich das Paket, von dem das ganze Dorf spricht?" - "Äh, ich hol es gleich, ich muß noch 'mal kurz austreten." Auf dem Weg kam Vater mir entgegen. "Oh, äh, Papa, weißt du was?" Ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. "Ich habe heute ein Paket bekommen." - "Hab' ich schon gehört, mien Jung." - "Und dadada war Tabak drin, von der Schmuggelbeute. Ja, und da wollte ich dir nur schnell deine Pfeife und den Tabak holen, damit du sie dir nach dem Essen anzünden kannst. Ja, das wollte ich." - "So, so", meinte mein Vater und sein unbestechlicher Schulmeisterblick musterte mich von Kopf bis Fuß und blieb an der ausgebeulten Anoraktasche hängen. Mir wurde heiß. Er seufzte. Dann sagte er in aller Seelenruhe: "Das ist aber bannig nett von dir. Dann mach man fix, das Essen ist schon fertig", und ging in die Diele. Ich folgte kurz darauf mit dem Paket Tabak. Und als die Nachbarn kamen, wurde es ein recht lustiger Nachmittag.

Etwas später setzte sich mein Vater zu mir, stopfte die Pfeife und fragte: "Willst du jetzt mal eine richtige Pfeife rauchen, kalt kann sie dir ja wohl nicht besonders geschmeckt haben?" Ich schämte mich ein wenig, aber so kam ich zu meiner ersten Tabakspfeife. Ich muß sagen, mir wurde davon so elend schlecht, daß es wohl noch gut zehn Jahre dauerte, bis ich wieder etwas zu rauchen in die Hand nahm. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.


*


"Hat euch das Abenteuer mit Eteo Ro gefallen?"

"Oh, so gut, daß ich jetzt erst merke, wie unheimlich dunkel und kalt es geworden ist", sagte Kerstin und kuschelte sich an Opa. Das Feuer war inzwischen auch schon so weit niedergebrannt, daß man es getrost löschen konnte.

"Das mit dem Wind im Zimmer finde ich wirklich sonderbar", meinte Malte schlau. "Ich glaube, da hast du ein bißchen geflunkert." - "Oh nein, mein lieber Malte, aber ich wußte ja, daß ihr mir das sowieso nicht glauben würdet. Ich denke, ich laß das Geschichtenerzählen, denn schließlich sind sie mein Geheimnis. Aber wenn wir dieses Feuer hier gelöscht haben, werde ich dir in meiner Kajüte etwas zeigen." Er kippte einen Eimer Erde auf das Feuer und trat es aus. Im Schein von Opas Taschenlampe räumten sie alles zusammen und machten sich auf den Weg zum Leuchtturm. Opa plante: "Alle Mann unter die Dusche und bettfertig gemacht. Dann könnt ihr mich nochmal besuchen, ehe ihr in die Zelte kriecht."

Während die drei sich den Rauchgeruch aus den Haaren wuschen, und die Zähne putzen, machte sich Opa an den Abwasch und als sich alle in Trainingsanzügen in seiner warmen Stube einfanden, hatte er von einer Tischlampe den Lampenschirm abmontiert und die Birne eingeschaltet. Nun schnitt er aus einem kreisrunden Stück Alufolie eine Schlangenspirale aus. "Oh, die sieht ja aus wie die komischen Dinger in deinem Gemüsegarten", meinte Kerstin. "Gut beobachtet", meinte Opa. "Ach, kannst du nochmal die Dose mit dem Talkumpuder aus dem Badezimmer holen?" Kerstin flitzte los.

Opa ließ sich alle Zeit der Welt, schließlich sollten seine Enkel ordentlich warm und die Haare trocken werden, ehe er sie in die kalte Nacht entließ. Im Hintergrund lief das Radio mit den Nachrichten und dem Wetterbericht. "... mit frischem Wind aus Nordwest", sagte gerade die Ansagerin vom Wetterdienst. "Na, ein Glück, daß ihr das Gras heute gemäht habt", meinte Opa. "Morgen wird man gut Drachen steigen lassen können." - "Oh, toll", Kerstin stellte die Puderdose auf den Tisch. "So, Opa, wie ist das nun mit dem Wind?" - "Na, so", meinte Opa und streute ein wenig Talkumpuder auf die Birne der vorbereiteten Tischlampe.

Der Puder wurde offenbar von einer nach oben steigenden, warmen Luftströmung, also einem aufsteigenden Wind, emporgetragen. "Seht ihr", erklärte er nun, "die Luft wird von der Glühbirne erwärmt. Richtiger Wind entsteht, wenn die Sonne die Erde erwärmt. Wenn die Erde warm wird, heizt sie die Luft über dem Boden auf. Die warme Luft dehnt sich aus und wird dadurch leichter. Und leichte Luft steigt auf und macht schwererer, kühlerer Luft Platz. Diese Bewegung der Luft nennen wir Wind. Die Drehung der Erde sorgt zusätzlich für Wirbel. - Oben im Leuchtfeuerraum könnt ihr auf dem Computer Satellitenbilder sehen, die zeigen, daß durch die Luftbewegungen die Wolken über uns nie zur Ruhe kommen. - Hier Kerstin", Opa reichte ihr die Aluspirale, die er an einen Bindfaden gebunden hatte, indem er ein Stück Faden mit einer Nähnadel durch die obere Spitze gefädelt hatte. "Halt das mal über die Heizung da hinten." Kerstin lief los. In der warmen Heizungsluft trudelte die Schlange, als sei sie lebendig geworden. "Nun geh damit einmal zu meiner Schlafkoje und halte sie da hinein", kommandierte Opa. Und richtig, hier passierte gar nichts, träge hing die Schlange an ihrem Faden und bewegte sich kaum.

"Na, glaubt ihr mir jetzt?", fragte Opa, wenn es auch nur Miniaturwinde sind, die wir mit warmer Luft erzeugen können, dann ist das für einen Klimatiker ja wohl ein Klacks, einen Sturm im Wasserglas zu erzeugen, oder? So, und nun ab in die Kojen, oder habt ihr sonst noch Fragen?"

Ziemlich ehrfürchtig und ein wenig eingeschüchtert, aber rechtschaffen müde, wünschten die Drei ihm gute Nacht und verschwanden dahin, wohin er sie geschickt hatte.

Raute

ANHANG: Bewegte Luft - Windskala

Wie entsteht überhaupt Wind?

Nach dem Prinzip: Warme Luft ist leichter und steigt nach oben; von unten her kann kalte Luft nachfließen, während darüber die Warmluft dorthin zieht, wo es kühler ist.

Überträgt man diesen einfachen Mechanismus auf unseren Erdball, heißt das nichts anderes, als daß große Bewegungen zwischen dem heißen Äquator und den kalten Polen entstehen. Die täglich aufgeheizte Luft des tropischen Gürtels bewegt sich in die Höhe und zieht in kältere Gebiete, während darunter die polare Kaltluft Richtung Äquator fließt. Solche Luftbewegungen äußern sich als Winde. Nun muß man noch mitberechnen, daß sich die Erde im Gegenuhrzeigersinn um ihre Achse dreht. Das heißt, daß diese Hauptluftströme abgelenkt werden, der Nordwind aus der Arktis nach Westen, die warme Luft vom Äquator auf der Nordhalbkugel nach Osten. Winde werden nach der Richtung benannt, aus der sie kommen, also haben wir es mit tropischen Westwinden und polaren Ostwinden zu tun (Na, kapiert? Etwas verwickelt, nicht?)

Wer das Thema besonders spannend findet, der kann sich auch über die Entstehung von Wirbelstürmen und Hurricans informieren, die hier ausgespart bleiben, und er wird auf die Erklärung der "Hochs" und "Tiefs" (bekannt aus der täglichen Wetterkarte im Fernsehen) stoßen, die eigentlich mit zum Thema Luftbewegung und Luftdruck gehört. Hier wäre das zu viel auf einmal.

Um an dieser Stelle mal wieder den Wortlaut der Wettervorhersagen ein wenig klarer zu machen, ist eine Tabelle angehängt, in der die Windstärken genau festgelegt sind und die nach dem britischen Admiral Sir Francis Beaufort (1774-1857) benannt sind, der sie eingeführt hat.

Die Windgeschwindigkeit wird in km/h (Kilometer pro Stunde) gemessen. Die Kraftwirkung des Windes auf Gegenstände bestimmt die Windstärke. Die angegebenen Geschwindigkeiten gelten für eine Höhe von 10 m über ebenem Boden.


W I N D S K A L A     (Beaufortskala)
Windstärke
in Beaufort
Windgeschwindigkeit
in km/h
Bezeichnung
(an Land)
Wirkungen und Erläuterungen

  0   

  über   1

Stille

keine Wirkungen;
Rauch steigt gerade nach oben
  1   

   1 -   5

leichter Zug

Wind kaum merkbar für das Gefühl:
Rauch treibt in Richtung des Windes
  2   

   6 -  11

leichter Wind

Wind bewegt Laub; leicht bewegliche
Windfahnen zeigen die Windrichtung an
  3   

  12 -  19

schwacher Wind

Wind setzt Laub und dünne laubtragende
Zweige in ununterbrochene Bewegung
  4   

  20 -  28

mäßiger Wind

Wind setzt laubtragende Zweige und dünnere Äste in
Bewegung; Staub u. lockerer Schnee werden aufgewirbelt
  5   

  29 -  38

frischer Wind

kleinere Laubbäume beginnen zu schwanken;
auf Binnenseen haben Wellenausgeprägte Schaumkronen
  6   

  39 -  49

starker Wind

Wind bewegt große laubtragende Baumäste,
pfeift in freien Drahtleitungen
  7   

  50 -  61

steifer Wind

ganze Bäume schwanken;
Gehen bei Gegenwind ist behindert
  8   

  62 -  74

stürmischer
Wind
Wind bricht Zweige von laubtragenden Bäumen;
beschwerliches Gehen im Freien
  9   

  75 -  88

Sturm

kleinere Schäden an Häusern; Rauchkappen
und Dachziegel werden herabgeweht
 10   

  89 - 102

schwerer Sturm

selten; Bäume werden entwurzelt;
bedeutende Schäden an Häusern
 11   


 103 - 117


orkanartiger
Sturm

sehr selten im Binnenland;
auf See: außergewöhnlich hohe Wellenberge;
Wellenkämme überall zu Gischt verweht
 12   


 118 - 133


Orkan


sehr selten im Binnenland;
auf See: Luft mit Schaum und Gischt
angefüllt, keine Fernsicht mehr.


Fortsetzung folgt



Erstveröffentlichung im Schattenblick 15. Oktober 1999

1. Februar 2011