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MEMORIAL/250: Am 28. Oktober 1922 kam Mussolini an die Macht - 100 Jahre später wird Giorgia Meloni Ministerpräsidentin (Gerhard Feldbauer)


Am 28. Oktober 1922 kam der faschistische Diktator Benito Mussolini an die Macht

100 Jahre später wird die Führerin der faschistischen Brüder Italiens Giorgia Meloni Ministerpräsidentin

von Gerhard Feldbauer, 27. Oktober 2022


Mit dem "Marsch auf Rom" ergriff Benito Mussolini, der "Duce" (Führer) des Partito Nazionale Fascista (PNF), in einem Militärputsch am 28. Oktober 1922 die Macht und errichtete eine bis 1945 anhaltende Diktatur, an der sich, noch bis 1926, bürgerliche Parteien beteiligten. 100 Jahre später, am 21. Oktober 2022, wurde Giorgia Meloni, die Führerin der Brüder Italiens (FdI), die aus dem 1946 als Nachfolger der Partei Mussolinis wiedergegründeten Movimento Sociale Italiano (MSI) hervorgingen, Ministerpräsidentin.

Die Geschichte wiederholt sich "nicht haargenau", meinte Sebastian Haffner, der Vergleiche anstellte und schlussfolgerte, auch wenn sie "hinken", seien "gewisse Parallelen" nicht zu übersehen. [1] Wie sehen die Vergleiche der Situation vor 100 Jahren mit der von heute aus?


Linke Regierung drohte

Bei den Wahlen im November 1919 erreichte die Sozialistische Partei (ISP) 32,4 % und wurde mit 156 Sitzen im Parlament erste Partei. Die führende großbürgerliche Liberale Partei kam zwar noch auf 179 Mandate, verlor aber ihre absolute Mehrheit. Mit ihrer Niederlage begann die Krise des bürgerlichen Staates. Es zeichnete sich die Machtergreifung durch die revolutionäre Linke ab. [2] Diese befand sich in einer starken Position. Beim Eintritt Italiens im Mai 1915 an der Seite der Entente in den Ersten Weltkrieg hatte sie als einzige westeuropäische Sektion der Zweiten Internationale nicht den Kriegskrediten zugestimmt. Ihre Vertreter gehörten zu der von Lenin auf den Konferenzen 1915 und 1916 in Zimmerwald und Kienthal formierten revolutionären Linken, die Stellung gegen den imperialistischen Krieg bezog. Nach der Februarrevolution in Russland kam es im August 1917 in Turin zum bewaffneten Aufstand gegen Hunger und Krieg. Die ISP-Führung begrüßte die russische Oktoberrevolution.

Mit der Bildung der Gruppe Ordine Nuovo am 1. Mai 1919 und ihrer gleichnamigen Zeitschrift, trat Antonio Gramsci den von der Zweiten Internationale ausgehenden opportunistischen Erscheinungen entgegen und wollte die ISP in eine "Revolutionäre Partei des Proletariats", die sich zu einer kommunistischen Gesellschaft bekennt und der Kommunistischen Internationale beitritt, gestalten. Gegen die Kriegsfolgen und die Wirtschaftskrise mit maßlosen Teuerungen und einer halben Million Arbeitslosen begannen machtvolle Arbeiterkämpfe. Millionen streikten nicht mehr nur, um ihre soziale Lage zu verbessern, sondern für den Sturz der kapitalistischen Ordnung. Im Herbst 1919 besetzten die Arbeiter alle großen Unternehmen in Norditalien, wählten Fabrikräte, übernahmen die Produktion und bildeten bewaffnete Rote Garden zur Verteidigung der Betriebe. Im Süden nahm die Inbesitznahme von Ländereien der Latifundistas Massencharakter an. Die revolutionären Linken erhielten Auftrieb durch die Gründung der Kommunistischen Partei (Partito Comunista d'Italia) am 21. Januar 1921 in Livorno.


Kapital setzte auf Mussolini

Gegen die revolutionären Massenkämpfe gingen die Kampfbünde Mussolinis mit barbarischem Terror vor. 1920 wurden 2.000 Männer, Frauen, Kinder und Greise und im ersten Halbjahr 1921 1.500 durch Faschisten und öffentliche Sicherheitskräfte getötet. In der Emilia, der Romagna, der Toskana, in Umbrien und Venetien terrorisierten sie 15 Millionen Menschen. [3] Die führenden Kapitalkreise - Ansaldi, Conti, Donegani, Agnelli, Pirelli [4] - befürchteten dennoch, die Liberalen würden den Linken nicht standhalten. Während in Deutschland die Führung der SPD mit einem Noske an der Spitze die revolutionäre Arbeiterbewegung niederschlug, fehlte dem italienischen Imperialismus ein solcher Retter. Deshalb setzten die genannten Kapitalkreise seit 1919 wieder auf Mussolini. Durch seine mehrjährige Mitgliedschaft in der ISP, in der er seit 1912 Chefredakteur des Avanti war, eignete er sich besonders dazu, sein Vorgehen pseudorevolutionär zu tarnen. Erst nachdem er bei Kriegsausbruch 1914 offen sozialchauvinistische Positionen bezog, wurde er aus der ISP ausgeschlossen.

Zur Gründung seiner faschistischen Kampfbünde (Fasci di Combattimento) stellten die Großindustriellen ihm im März 1919 das Gebäude ihrer Industrie- und Handelskammer an der Piazza San Sepolcro in Mailand zu Verfügung. [5] Bei der Bildung dieser Kampfbünde konnte Mussolini auf die bereits im Januar 1915 zur Unterstützung des Kriegseintritts der eben genannten Konzerne geschaffenen Fasci d'Azione Rivoluzionaria zurückgreifen. Deren Mitglieder nannten sich bereits Fascisti (Faschisten), woran besonders deutlich wird, dass die Wurzeln des Faschismus bereits im Ersten Weltkrieg liegen und sein Machtantritt nicht durch die spätere "bolschewistische Gefahr" provoziert wurde. Ihr schon zu dieser Zeit von den erwähnten Industrie-Bossen finanziertes Kampfblatt Popolo d'Italia [6] gab einen Vorgeschmack auf den später von Mussolinis Sturmabteilungen betriebenen Terror. Vor der Parlamentsabstimmung über den Kriegseintritt hetzte die Zeitung, die Abgeordneten, die noch nicht zum Kriegseintritt entschlossen seien - das waren vor allem die Sozialisten -, "sollten vor ein Kriegsgericht gestellt werden". Für "das Heil Italiens" seien, wenn notwendig, "einige Dutzend Abgeordnete zu erschießen", andere "ins Zuchthaus zu stecken".

Im November 1921 formierte Mussolini aus den Fasci di Combattimento den PNF. Von bei der Gründung etwa 30.000 war die Bewegung auf 320.000 Mitglieder angewachsen. Aus den Tressoren des im April 1920 gegründeten Industriellenverbandes Confederazione dell'Industria, einer "Art Generalstab der Konterrevolution" [7], und der im August gebildeten Confederazione dell'Agricoltura flossen den Faschisten reichlich Gelder zu. Vittorio Emanuele signalisierte Zustimmung, wenn die Monarchie nicht angetastet werde. Der Vetter des Königs, der Herzog von Aosta, Kommandeur eines Armeekorps, sicherte für einen Staatsstreich Unterstützung zu. Der Vatikan ergriff mit Pius XI. offen Partei für die Faschisten.

So abgesichert beschloss der PNF-Kongress in Neapel am 24. Oktober 1922 den "Marsch auf Rom". Am 26. brachen die ersten 40.000 Mann zu Fuß auf. Der Rest folgte in LKWs. Mussolini selbst traf sich am 28. in Mailand mit Vertretern des Industriellenverbandes mit dem Gummikönig Pirelli an der Spitze, der ihm mitteilte, der König werde ihn zum Ministerpräsidenten berufen. Der lehnte dann auch eine von Premier Facta vorgeschlagene Verteidigung der Hauptstadt ab, Facta trat zurück. Während die Faschisten in Rom grölend durch die Straßen zogen, plündernd und mordend das Arbeiterviertel San Lorenzo heimsuchten, beauftragte Emanuele am 30. den "Duce" del Fascismo mit der Regierungsbildung. Er übergab die Exekutive einer Partei, die im Parlament von 508 Sitzen nur 36 belegte. Am nächsten Tag traten Liberale, Nationalisten und die Katholische Volkspartei in die Regierung ein und "legitimierten" den Putsch. Die 306 Vertreter der bürgerliche Parlamentsmehrheit stimmten für Mussolini. Es gab nur 106 Gegenstimmen, vor allem aus den Arbeiterparteien. [8]


Unbeschwertes Verhältnis mit Völkermord

Die jetzige Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni, bekennt sich offen zum Erbe Mussolinis und erklärte: "Ich habe ein unbeschwertes Verhältnis zum Faschismus." [9] Ein andermal, sie habe "keine Probleme" damit. Dazu muss man einen Blick auf die barbarischen Verbrechen werfen, die unter Mussolinis Diktatur von 1922 bis 1945 begangen wurden. Schon die bereits erwähnten über 21.000 Toten vor dem "Marsch auf Rom" waren ein Völkermord am italienischen Volk. Mit der Verfolgung der "Großitalien"-Pläne führte Mussolini völkerrechtswidrige Kolonisierungskriege mit unzähligen Kriegsverbrechen. Bei der Unterjochung der Kyrenaika 1930 (alle genannten Gebiete gehören heute zu Libyen) wurden Konzentrationslager errichtet, in die 80.000 Nomaden eingesperrt wurden. Viele Menschen verhungerten dort oder fielen Seuchen zum Opfer. Bei der Eroberung Äthiopien (damals Abessinien) 1935/36 wurde auf Befehl Mussolinis das Giftgas Yperit eingesetzt, das die meisten der während des Feldzuges ums Leben gekommenen etwa 275.000 Menschen tötete. [10]

Marschall Rodolfo Graziani, Generalgouverneur von Italienisch-Ostafrika, befahl am 19. Februar 1937 nach einem erfolglosen Attentat, das auf ihn verübt worden war, ein Massaker, dem allein in der Hauptstadt 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Unzählige christlich-koptische Geistliche und alle Kadetten der Militärakademie von Addis Abeba wurden umgebracht. Im Kloster Debre Libanos ließ Graziani nahezu 300 Ordensbrüder erschießen. Unzählige Äthiopier sperrte das Kolonialregime in Konzentrationslager, wo die meisten elendiglich zu Grunde gingen. Insgesamt kamen unter der faschistischen Herrschaft etwa 750.000 Äthiopier ums Leben. Meloni hatte nichts dagegen, dass 2012 für Marschall Rodolfo Graziani, der im Oktober 1922 Teilnehmer des "Marsch auf Rom" und später in der RSI [11] Mussolinis Kriegsminister war, in dessen Geburtsort in der Gemeinde Affile im Latium am Rande der Hauptstadt eine Gedenkstätte errichtet wurde.

Wenn Meloni in ihrer Rede am 25. Oktober 2022 in ihrer Regierungserklärung vor der Abgeordnetenkammer entgegen ihren früheren Bekenntnissen zum Faschismus Mussolinis versuchte, sich davon zu distanzieren, scheitert das an den Tatsachen. Zu denen, die die eben angeführten Verbrechen in der RSI begingen, gehörte der Staatssekretär des "Duce" Giorgio Almirante, der nicht nur sein führender Rassenideologe, so als Herausgeber des Blattes Difesa della Razza, war, sondern auch einen "Genickschusserlass" gegen Partisanen erließ. Almirante gründete im Dezember 1946 in Gestalt des Movimento Sociale Italiano (MSI) die Mussolinipartei wieder. Als seine Witwe Assunta Almirante am 26. April dieses Jahres verstarb, nahm Meloni an ihrer Beerdigung in Rom mit zahlreichen führenden Faschisten ihrer FdI, die am Sarg "den römischen Gruß" zeigten, teil und würdigte die Frau des MSI-Gründers als "eine Säule des historischen Gedächtnisses der italienischen Rechten".

Der rassistische Ideologe Julius Evola, dessen Herrenmenschentheorien MSI-Gründer Almirante unter Mussolini übernahm, verherrlichte die arische Rasse als "Söhne der Sonne", als Herrenmenschen, denen "alles erlaubt ist", während die Masse aus "Leuten, die überhaupt keine Rechte haben", bestehe, auch nicht das Recht auf Leben, und über deren Vernichtung "man keine Träne zu vergießen braucht". [12] Das auf dieser rassistischen Ideologie beruhende im Juli 1938 von Mussolini verkündete "Rassenmanifest", mit dem grundsätzlich und wesentlich die faschistischen Rassengesetze Hitlerdeutschlands übernommen wurden, hat Melonis Verbündeter, Lega-Vorsitzender Matteo Salvini, ausdrücklich anerkannt.


Zu völkerrechtswidrigen Angriffskriegen

Machen wir über die Beteiligung Mussolinis an der Niederschlagung der Spanischen Republik mit über einer Million Toten, der Hilfe beim Überfall auf die UdSSR mit der Entsendung einer 230.000 Mann zählenden Russlandarmee (ARMIR), von der nur einige Tausend nach Italien zurückkehrten, über die unzähligen Opfer der völkerrechtswidrigen Angriffskriege in Griechenland, Ägypten, Sudan, Britisch-Somaliland, Kenia und Libyen, die mit katastrophalen Niederlagen endeten, einen Sprung zur im November 1943 von Mussolini unter dem Besatzungsregime der Hitlerwehrmacht errichteten RSI, in der SD, Gestapo und Sicherheitspolizei mit den Camicie Nere (Schwarzhemden) und der Miliz gegen die italienische Bevölkerung einen erbarmungslosen Vernichtungskrieg führten. Für Geiselerschießungen, das Niederbrennen von Dörfern, Mord und Folter stehen als Beispiele die Ardeatinischen Höhlen bei Rom (335 durch Genickschuss ermordete Geiseln), die Gemeinde Marzabotto (1.830 auf grausame Weise umgebrachte Bewohner) oder der Fall des SS-Henkers von Mailand, Hauptsturmführer Savaecke (verantwortlich für die Deportation von Juden und die Ermordung von Widerstandskämpfern).

Wie der Historiker Gerhard Schreiber festhielt, wurden in der Salò-Republik im statistischen Mittel - ohne die gefallenen Partisanen und regulären Soldaten einzubeziehen - täglich 165 Kinder, Frauen und Männer jeden Alters umgebracht. Nicht erfasst sind in diesen Opferzahlen auch die 40.000 italienischen Juden, die in der RSI in die Konzentrationslager verschleppt wurden, wo die meisten umgebracht wurden. Ebenso nicht enthalten in diesen Zahlen sind die rund 30.000 italienischen Soldaten, die sich nach der Kapitulation weigerten, in der Salò-Republik an der Seite der Wehrmacht weiterzukämpfen und in Konzentrationslagern ermordet wurden. Auch damit, man muss es noch einmal wiederholen, hat Giorgia Meloni also ein "unbeschwertes Verhältnis".

Angesichts der heutigen Ausstrahlung der faschistischen Entwicklung in Italien auf Länder wie die Niederlande, Ungarn und Polen oder zuletzt Schweden, die Meloni begrüßt, ist ein Vergleich zur Vorreiterrolle, die das Mussolini-Regime in den 20ern bis in die 30er Jahre hinein spielte, durchaus angebracht. Das Entstehen der faschistischen Bewegung Mussolinis und ihr Machtantritt im Oktober 1922 wirkten sich auf das 1920 in Ungarn an die Macht gekommene Horthy-Regime und in Bulgarien 1923 auf die Etablierung der Zankow-Diktatur ebenso aus wie 1926 auf die Errichtung der militärfaschistischen Diktatur unter General de Fragoso Carmona in Portugal. Die Putschpläne Francos wurden 1936 unter Leitung italienischer und deutscher Militärs und der Nutzung der militärischen Erfahrungen vor allem der Mussolini-Faschisten ausgearbeitet.


Wieder Vorreiterrolle?

Besonders nachhaltig aber wirkten sich Beispiel und Erfahrungen des römischen Faschismus auf die Formierung des deutschen unter Hitler bis zu dessen Machtantritt in Deutschland aus. Das zeigte sich im direkten Einfluss der "Führerpersönlichkeit" Mussolinis auf Hitler, im Entstehen der Strukturen seiner Bewegung und ihrer Kampfmethoden, besonders der sozialen Demagogie und des Terrors. Hitler nannte seine SA wörtlich nach den von Mussolini geschaffenen Squadre d'Azione, den Sturmabteilungen. Er übernahm den von Mussolini erfundenen Führertitel "Duce" und den "römischen Gruß", mit dem sich dieser mit erhobenem rechten Arm grüßen ließ. Ein unwesentlicher Unterschied bestand in dieser Zeit nur in der Farbe der Uniformhemden, die bei den italienischen Faschisten schwarz war, bei den deutschen braun. "Das Braunhemd", so räumte Hitler in seinen "Monologen im Führerhauptquartier" noch 1941 ein, zu einem Zeitpunkt, da sich das Verhältnis zum "Duce" schon arg verschlechtert hatte, "wäre vielleicht nicht entstanden ohne das Schwarzhemd". Er gestand ebenso, dass Mussolini einmal für ihn "eine ganz große Persönlichkeit" darstellte. [13]

Nach dem "Marsch auf Rom" begann die Mehrheit der deutschen Kapitalkreise, die bis dahin dazu geneigt hatten, gestützt auf die Rechtsparteien und die militaristischen Verbände wie den Stahlhelm, die Monarchie wieder zu errichten, sich auf eine bürgerliche Partei faschistischen Typs, wie sie Hitler im Begriff war aufzubauen, zu orientieren. [14] Nach dem erfolgreichen "Marsch auf Rom" begannen dann Ruhrschwerindustrielle um Thyssen und Stinnes, Hitler und Ludendorff finanziell kräftig zu unterstützen, damit es diesen gelinge, an der Spitze der bayrischen Reaktion nach dem Vorbild Mussolinis einen ebenso erfolgreichen "Marsch auf Berlin" durchzuführen. Thyssen äußerte bereits im September 1923, es müsse "ein Diktator gefunden werden, ausgestattet mit der Macht, alles zu tun, was nötig ist." Hitler und die deutschen Faschisten konnten, als sie dann 1933 an die Macht kamen, nicht nur auf ein Jahrzehnt Erfahrungen der Mussolini-Diktatur zurückgreifen, sondern auch deren Schwächen und Fehler auswerten.


Draghi in der Königsrolle

Ziehen wir noch einen Vergleich zur Gegenwart. In Italien hatte Mario Draghi im Januar 2021 eine so genannte "Regierung der nationalen Einheit" aus den faschistischen Parteien der Forza Italia (FI) von Ex-Premier Berlusconi und der Lega Salvinis mit dem sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) und der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) gebildet. Der frühere EZB-Banker galt mit dieser Regierung als Garant der Sicherung der neoliberalen Herrschaft des Kapitals. Mit seinem Rücktritt Ende Juli 2022 verschärfte sich dessen Krise. [15] Der PD, die entscheidende Stütze Draghis, war nicht mehr in der Lage, sich gegen M5S, die unter dem Druck ihrer linken Basis Italiens Unterstützung für den Krieg in der Ukraine ablehnte, durchzusetzen. In dieser Situation übernahm Draghi als Staathalter Brüssels in Rom die Königsrolle und sicherte Meloni, wenn sie die Wahlen gewinne, seine Unterstützung zu. Derart gefördert wurde ihre FdI an der Spitze der faschistischen Allianz, die etwa 43 % erreichte, mit 26 % erste Partei und bildet die Regierung.

Sicher, die Vergleiche hinken, denn Meloni siegte in Parlamentswahlen. Dass sie die Parteien verbietet, ist nicht zu erwarten, hat sie auch gar nicht nötig. Denn, wie die preisgekrönte sardische Schriftstellerin Michela Murgia, Mitbegründerin der "Initiative zur Rettung von Flüchtlingen in Seenot", dazu festhielt, erfolgt der "Übergang" zum Faschismus heute nicht mehr mit "klassischer Waffengewalt", sondern "durch Manipulation der demokratischen Instrumente", mit der man "ein ganzes Land faschistisch machen kann, ohne auch nur einmal das Wort 'Faschismus' auszusprechen". Das bezieht sich auf die von Berlusconi begründete Herrschaft der "Videokratie", die von Salvini im digitalen Zeitalter auf Facebook, Instagram, Twitter, in Talkshows und in den klassischen Medien perfektioniert wurde. Und die Mainstream-Medien setzten das mit ihren täglich stereotyp verkündeten Berichten über den zu erwartenden Wahlsieg Melonis fort.


Von der Leyen ist "glücklich"

Das Zusammenspiel zwischen der EU und dem Faschismus in Italien wurde noch einmal bei der Vereidigung der Regierung Melonis am 22. Oktober deutlich. Während die Direktorin der linken Zeitung Manifesto, Norma Rangeri, schrieb "jetzt beginnt der Albtraum", Italien werde unter einer Regierung "reueloser Faschisten" ein "schreckliches Erwachen erleben", telegrafierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch während der Einführungszeremonie "herzliche Glückwünsche" und erklärte, sie sei "glücklich, mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten".


Anmerkungen:

[1] Im Schatten der Geschichte. Historisch-politische Variationen. Stuttgart 1995, S. 25 f.

[2] Lenin "Über den Kampf innerhalb der Italienischen Sozialistischen Partei", Werke, Bd. 31, Berlin/DDR, 1959, S. 373-385.

[3] Antonio Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Frankfurt/Main 1986, S. 101 ff.

[4] Alan Friedmann: Das Gesicht der Macht, München 1989, S. 47 ff.

[5] I Giorni della Storia d'Italia. Cronaca quotidiana dal 1815 a Oggi. Novara 1997, S. 359.

[6] Der Titel ist ein Ausdruck der Demagogie Mussolinis, denn er knüpfte an dem Namen der Zeitschrift der Demokraten in der Revolution 1848/49 L'Italia del Popolo an.

[7] Giuliano Procacci: Geschichte Italiens und der Italiener, München 1983, S. 351.

[8] Giorni, S. 382-384.

[9] So am 28. April 2022 auf der Beerdigung von Assunta Almirante, der Witwe des Gründers des Movimento Sociale Italiano (MSI), die 1946 als Nachfolger der Partei Mussolinis entstand. "Corriere della Sera", 29. April 2022.

[10] Angelo del Boca: Le Guerre coloniali del Fascismo. Rom/Bari 1991, S. 232 ff.

[11] Von Mussolini nach seinem Sturz im Juli 1943 am 25. November unter dem Besatzungsregime der Hitlerwehrmacht mit Sitz in Salò am Gardasee gebildetes Rumpfitalien.

[12] Angelo Del Boca/Mario Giovanni: I Figli del Sole. Mezzo Secolo di Nazifascismo nel Mondo, Mailand 1965.

[13] Zit. nach Gerhard Schreiber: Deutsche Kriegsverbrechen in Italien, München 1996, S. 13.

[14] Kurt Gossweiler: Kapital, Reichswehr und NSDAP 1919-1924, S. 304.

[15] Stefano G. Azzarà: Der absolute Liberalismus, jW, 8./9. Sept. 2022.

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Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick an 28. Oktober 2022

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