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MEMORIAL/211: Vor 150 Jahren - Italien begann in Eritrea, sein Kolonialreich zu errichten (Gerhard Feldbauer)


Vor 150 Jahren

Mit dem Erwerb der Bucht von Assab in Eritrea begann Italien, sein Kolonialreich zu errichten
Missionare bereiteten den Boden, Kaufleute führten im Auftrag der Regierung die Verhandlungen

Von Gerhard Feldbauer, 18. Dezember 2019



Abbildung: Michele Cammarano [Public domain] via Wikimedia Commons

Eritreakrieg (1885-1889) - Niederlage Kolonialitaliens in der Schlacht bei Dogali am 26. Januar 1887, Gemälde des italienischen Kunstmalers Michele Cammarano (1896)
Abbildung: Michele Cammarano [Public domain] via Wikimedia Commons

Mit Blick auf die heutigen Auseinandersetzungen der imperialistischen Hauptmächte um die neokoloniale Neuaufteilung der Welt ist es lehrreich, am Beispiel Italiens zu betrachten, wie das und mit ähnlichen Methoden schon vor über einem Jahrhundert erfolgte.

Am 5. Januar 1870 begann die Genueser Reederei Rubattino, die u. a. eine Linie nach Indien über den Suezkanal unterhielt, im Auftrag der Regierung mit einigen Stammeshäuptlingen im Süden von Eritrea Verhandlungen über den Erwerb von Besitzungen in der Bucht von Assab. Die Vorarbeit hatten, wie damals üblich, ein früherer Missionar, Giuseppe Sapeta, und Forschungsreisende der 1867 gegründeten Afrikagesellschaft geleistet. Nach der Unterzeichnung eines entsprechenden Vertrages im März des Jahres wurden als Erstes Lagerhallen für Kohle zum Bunkern der Rubattino-Schiffe errichtet. Vor der Erklärung Eritreas 1889/90 zur ersten italienischen Kolonie verkaufte Rubattino die Besitzungen an die Regierung in Rom. Die ägyptische Regierung erhob Einspruch, da sie ihre Vorherrschaft bedroht sah.


Bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen

Das italienische Großkapital, das durch die späte Herstellung der nationalen Einheit und der daraus resultierenden verspäteten industriellen Entwicklung, ähnlich wie Deutschland, bei der kolonialen Aufteilung der Welt zu spät gekommen war, suchte den Ausbruch aus seiner "Gefangenschaft im Mittelmeer", dessen Ausgänge andere Großmächte besetzt hielten. Die Straße von Gibraltar kontrollierten die Engländer, zusammen mit Frankreich desgleichen den Suezkanal. Die Dardanellen überwachten die Türken. Um sich ein Sprungbrett für eine expansive Mittelmeerpolitik zu schaffen, wollte Rom vor allem an der nordafrikanischen Küste Fuß fassen. Es liebäugelte mit dem von der Türkei beherrschten Tunis, der "alten römischen Provinz Karthago".

Auf der Berliner Konferenz 1878 konnte Italien seine Ansprüche auf türkische Gebiete jedoch nicht durchsetzen. Es versuchte, über eine Konzession für den Bau einer Eisenbahnlinie nach Tunis zum Ziel zu kommen, zog aber gegen eine stärkere Konkurrenz den Kürzeren. Die französische Baugesellschaft Batignol hatte 1876 die Rechte für den Bau einer Strecke von Sukh-elArba nach Tunis durchgesetzt. Batignol erhielt auch die Konzession zur Ausbeutung der Bleierze von Djebba und für den Hafenausbau in Tunis. 1881 besetzte Frankreich Tunis, um seine "Rechte" zu sichern.

Rom reagierte ein Jahr später mit dem Beitritt zum Dreibund mit Deutschland-Österreich/Ungarn, von dem es sich mehr Unterstützung für seine kolonialen Ambitionen erhoffte. Es erhielt zwar freie Hand für die noch "weißen Flecken" in Nord- und Ostafrika, jedoch nicht die von Umberto I. während eines Staatsbesuches in Berlin angesprochene militärische Rückendeckung. Bismarck entgegnete schroff: "Der Dreibund ist keine Gesellschaft für Eroberungen im Interesse Italiens." [1]


Foto: Unbekannt [Public domain] via Wikimedia Commons

Andrea Costa, erster sozialistischer Abgeordneter Italiens - "Keinen Mann und keinen Groschen für die Kolonialpolitik"
Foto: Unbekannt [Public domain] via Wikimedia Commons

Die Mitgliedschaft im Dreibund hatte für Rom den Nachteil, dass es die Irredenta (Bewegung Unerlöstes Italien), die sich auf die italienischsprachigen Gebiete im Trentino, auf Triest und an der dalmatischen Küste richtete, zügeln musste. So wandte es sich Afrika und Kleinasien zu. Die äußeren Bedingungen waren günstig. Der antiägyptische Mahdistenaufstand im Sudan 1881-85 und die britische Intervention 1882 zwangen Kairo zum Rückzug von der Küste des Roten Meeres. Zunächst scheiterte Rom jedoch, als es 1887 versuchte, von Dogali im nördlichen Eritrea aus ins äthiopische Hochland vorzustoßen. Nachdem bei den Kämpfen rund 500 italienische Soldaten gefallen waren, wurde das Unternehmen abgebrochen. Darauf wirkte vor allem die erste Antikriegsaktion der sozialistischen Bewegung ein. Andrea Costa, seit 1882 der erste und zunächst einzige sozialistische Parlamentsabgeordnete, trat der Expansion mit der Losung entgegen: "Keinen Mann und keinen Groschen für die Kolonialpolitik". [2]


Die erste Niederlage einer Kolonialmacht in Afrika

1889/90 brachte Rom das gesamte Küstengebiet am Roten Meer zwischen den Häfen Assab und Massaua in Besitz und erklärte es zu seiner ersten Kolonie Eritrea. Danach annektierte es den Südteil der Somalia-Halbinsel.

Im Siegesrausch vergaß Umberto I. die Niederlage bei Dogali und wollte erneut zur Eroberung Äthiopiens ansetzen. Um das Land in Sicherheit zu wiegen, griff Italien zu einer altbekannten Methode und schloss am 2. Mai 1890 mit Kaiser Menelik II., der gerade den Thron bestiegen hatte, einen Freundschaftsvertrag. Äthiopien erkannte darin den italienischen Kolonialbesitz am Roten Meer an. Der italienische König interpretierte die "Freundschaft" dahingehend, dass Äthiopien nunmehr unter seinem Protektorat stehe. Nachdem Rom der Forderung von Addis Abeba, die Protektoratserklärung zurückzunehmen, nicht nachkam, kündigte Menelik 1893 den "Freundschaftsvertrag". Italien schlug den Weg des Krieges ein. Die Flotte blockierte die Küste und versuchte, Äthiopien von der Waffenzufuhr abzuschneiden. Außerdem schürte Rom Stammesgegensätze und versorgte vermeintliche Gegner des Menelik II. mit Waffen. Umberto I. wähnte sich des Sieges so sicher, dass er bereits neues Silbergeld, das ihn mit der Kaiserkrone zeigte, prägen ließ.

Die Eroberung scheiterte ein weiteres Mal. Angesichts der ihre Unabhängigkeit bedrohenden Intervention unterstellten sich die äthiopischen Stammesführer dem Oberbefehl des Kaisers. Am 1. März 1896 kam es bei Adua, einer kleinen Stadt im nordäthiopischen Hochland in der Provinz Tigre, zur Schlacht. Die italienischen Kolonialtruppen zählten 18.000 Mann und 56 Geschütze. Die äthiopischen Stämme boten 60.000 Krieger mit 42 Geschützen auf, welche die Kolonialtruppen nach mehrstündigen blutigen Kämpfen in die Flucht schlugen. Italien erlitt eine vernichtende Niederlage, die erste einer Kolonialmacht in Afrika. Nur 2.500 Kolonialsoldaten entkamen. Die äthiopischen Verluste betrugen 10.000 Mann. Die flüchtenden Kolonialsoldaten ließen die gesamte Kriegstechnik zurück. [3]

Die Niederlage löste neue Proteste gegen die Kolonialpolitik aus. Von den Sozialisten in Rom, Turin, Neapel und zahlreichen weiteren Städten organisierte Kundgebungen verhinderten die Entsendung weiterer Truppen zur Fortsetzung des Krieges. Ministerpräsident Francesco Crispi musste zurücktreten.


Graphik: Le Petit Journal - F. Méaulle, scan by Vob08derivative work: Zheim (Diskussion) [Public domain] via Wikimedia Commons

Kaiser Menelik II. während der Schlacht von Adua - Zeitgenössische, in der französischen Zeitung Le Petit Journal am 28. August 1898 veröffentlichte Darstellung
Graphik: Le Petit Journal - F. Méaulle, scan by Vob08derivative work: Zheim (Diskussion) [Public domain] via Wikimedia Commons

Im Friedensvertrag vom Oktober 1896 erkannte Italien die Unabhängigkeit Äthiopiens an, während Menelik die Zustimmung zur römischen Kolonialherrschaft in Eritrea erneuerte. Im Widerspruch zu seiner vertraglich eingegangenen Verpflichtung schloss Rom 1906 mit Paris und London einen Vertrag, der Äthiopien zur gemeinsamen Einflusszone erklärte. Mussolini nahm ihn 1935 zum Vorwand, die Eroberung Äthiopiens zu rechtfertigen.

Neben Triest und Albanien blieben nicht nur türkische Gebiete weiterhin im Blickfeld. In der Periode des Übergangs des Kapitalismus ins imperialistische Stadium verschärfte sich der Kampf um die Neuaufteilung der Welt, den die USA mit dem Spanisch-amerikanischen Krieg 1898/99 eröffneten. 1901 sicherten sie sich das Recht auf den Bau des Panamakanals, unterwarfen Kuba 1903 ihrem Protektorat. Mit der Eroberung der Philippinen und Puerto Ricos wurden die USA zur Kolonialmacht.

Großbritannien hatte 1875 die Kontrolle des für seine Kolonien in Afrika wichtigen Suezkanals übernommen. Danach eroberte es Ägypten, Sudan, die südafrikanischen Burenrepubliken und Burma. Frankreich, das seine amerikanischen und indischen Kolonien an Großbritannien verloren hatte, nahm in Asien Vietnam, Kambodscha und Laos in Besitz, in Afrika Kongo-Brazzaville, Algerien, Tunesien, Marokko, Dahomey, Guinea, Madagaskar.

Das deutsche Kaiserreich hatte Togo, Kamerun, Ostafrika, Neuguinea, den Bismarckarchipel und die Marshallinseln genommen. Das Zarenreich annektierte große Gebiete Mittelasiens: Taschkent, Buchara, Chiwa, Turkmenien. 1877/78 besiegte es die Türkei. Ab 1894 beteiligte es sich an der imperialistischen Unterwerfung Chinas in eine Halbkolonie. Wie die anderen Großmächte strebte es nach weiteren Expansionen, forderte Gebiete auf dem Balkan, die Meerengen, verlangte Anteile an der Beherrschung Persiens und Ostasiens.


"La Grande Italia"

Italien wollte es ihnen gleich tun und meldete seinen Großmachtsanspruch an. Zu Kernsätzen der imperialistischen Propaganda wurden die Losungen von "La Grande Italia" und dem Mittelmeer als "Mare Nostrum". Die Ideologen des Kolonialismus traten als Interessenvertreter der "Erben des antiken Rom" auf, die dazu berufen seien, die italienische Zivilisation in die Welt zu tragen. Forschungsreisende halfen mit verlogenen Reiseberichten, die kolonialen Eroberungen vorzubereiten. Obwohl die entstehende Rassenideologie sich graduell von der späteren der Hitlerfaschisten unterschied, gingen die in dieser Zeit geborenen Theorien von der generellen Überlegenheit der europäischen Völker aus und klassifizierten die Afrikaner als "minderwertige Menschengruppe", als eine verwandte Form von Anthropoiden oder Affen, die eine besondere Neigung zur Kriminalität und zu Lug und Trug hätten. Parallel dazu wurde der Mythos vom "guten Italiener" in die Welt gesetzt, der sich durch seine "humanen Züge" deutlich von den Praktiken der übrigen Kolonialmächte unterscheide. [4]

Als Österreich-Ungarn 1908 Bosnien und die Herzegowina annektierte, setzte Italien 1911 an, seine Vorherrschaft im Mittelmeer und die Besitzergreifung von Kolonien in Nordafrika in die Tat umzusetzen. Die Türkei, das historische Osmanische Reich, befand sich seit der Niederlage im Krieg 1877/78 mit Russland in einer Zerfallskrise. So überfiel Italien das von ihr abhängige Tripolitanien und die Kyrenaika. Ökonomisch hatte die mit dem Vatikan liierte Bank von Rom vorgearbeitet und sich mehrere Bergbaukonzessionen gesichert. Sie wurde auf dieser Basis der größte Landeigentümer in Tripolitanien und der Kyrenaika (zusammen mit dem Fessan, das heutige Libyen). Ihr folgte die Schwerindustrie mit Ansaldo und der Elektrokonzern Marconi.


Foto: Unbekannt [Public domain] via Wikimedia Commons

1911 - italienische Geschütze vor Tripolis
Foto: Unbekannt [Public domain] via Wikimedia Commons

Um die Erinnerung an die Niederlage bei Adua vergessen zu machen, wurde der Krieg als ein "militärischer Spaziergang" propagiert. Zur Bekanntgabe des Befehls Viktor Emanuel III. zum Auslaufen der italienischen Flotte erklang am 29. September 1911 die Melodie "Tripoli, bel suol d'amore" (Tripolis schönes Land der Liebe). Durch den erstmaligen Einsatz von Luftschiffen und Flugzeugen für Bombardements gelang es, Tripolis, Bengasi und das Küstengebiet rasch einzunehmen. Trotz der brutalen Kriegführung wurde der Feldzug für 1.405 Italiener zum "Spaziergang in den Tod". Ihnen standen 14.800 Araber gegenüber, darunter viele massakrierte Zivilisten, Frauen und Kinder. In der "Prawda" vom 28. September 1912 schrieb Lenin, der Krieg werde fortdauern, "denn die Araberstämme im Inneren des afrikanischen Kontinents, weitab von der Küste, werden sich nicht unterwerfen. Man wird sie noch lange 'zivilisieren' - mit dem Bajonett, mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durch die Vergewaltigung ihrer Frauen." Lenins Voraussicht bewahrheitete sich. Die Partisanen brachten den weiteren Vormarsch in den Wüsten zum Stehen. Den Widerstand in der Nähe der Oasen von Dscharabub und Siwa sowie im Fessan konnten die Italiener nie völlig brechen. Die Oasen von Kufra im Süden der Kyrenaika erreichten sie erst Anfang der dreißiger Jahre.

Mit stillschweigender Billigung Russlands, Großbritanniens und Frankreichs besetzte Italien noch den Dodekanes. Die Entente-Mächte ließen Rom gewähren, um es dem Dreibund zu entzweien. Die Türkei trat im Frieden von Ouchy am 18. Oktober 1912 Tripolitanien, die Kyrenaika und den Dodekanes an Italien ab. Rom schloss die Eroberungen zur Kolonie Libyen zusammen. Als die italienische Flotte auch noch zum Überfall auf die Dardanellen ansetzen wollte, geboten London, Paris und Petersburg Einhalt. Das Geschwader musste abdrehen. Auf der Londoner Konferenz vom Dezember 1912 erhielt Italien zusammen mit Deutschland, Österreich/Ungarn, Russland, Frankreich und Großbritannien das Mandat über Albanien.


Graphik: Memnon335bc [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)] via Wikimedia Commons

Der Italienisch-Türkische Krieg im Mittelmeer (29. September 1911 bis zum 18. Oktober 1912)
Graphik: Memnon335bc [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)] via Wikimedia Commons


Wechsel zur Entente

Als Mitglied des Dreibundes lehnte Italien 1914 einen Kriegseintritt mit der Begründung ab, es handele sich um keinen Verteidigungsfall. In Wahrheit ging es der italienischen Großbourgeoisie darum, sich im beginnenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt auf die Seite zu schlagen, die ihm den größeren Anteil an territorialen Gewinnen versprach. Es ging vor allem um die alten irredentistischen Forderungen: die Brennergrenze, Gebiete im Trentino, um Triest und an der dalmatischen Küste. Während der Kuhhandel nach beiden Seiten begann, erklärte Rom, um die Partner unter Druck zu setzen, aber auch die Antikriegsbewegung zu beruhigen, zunächst seine Neutralität.

Auf Druck aus Berlin wollte Österreich Italien Trient zu überlassen, keinesfalls jedoch Triest. Den Ausschlag für das italienische Kapital gaben schließlich die größeren Brocken, welche die Entente in Aussicht stellte. Am 26. April 1915 unterzeichnete Rom den Geheimvertrag mit der Entente, der ihm umfangreiche Gebietsansprüche - darunter das österreichische Südtirol - zugesagte. Am 24. Mai trat Italien gegen Österreich in den Ersten Weltkrieg ein.


Fußnoten:

[1] Heinz Meinicke-Kleint: Algerien, Marokko, Tunesien. Unterjochung und Befreiung. Berlin/DDR 1965, S. 25 f.

[2] I Giorni della Storia D'Italia. Dal Risorgiomento a Oggi. Novarra 1991, S. 194 ff.

[3] Heinrich Loth: Geschichte Afrika (Berlin/DDR, 1976), S. 2 f. In Giorni, S. 252 f., werden als offizielle italienische Verluste 4.000 Tote genannt.

[4] Gabriele Schneider: Mussolini in Afrika, Köln 2000, S. 12 u. 38 ff.

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Quelle:
© 2020 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2020

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