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MEMORIAL/100: Italien 1919 - Bevor die PCI gegründet wurde, suchte Gramsci den Kompromiss (Gerhard Feldbauer)


Vor 95 Jahren
Bevor die PCI gegründet wurde, suchte Antonio Gramsci den Kompromiss

- Er wollte zunächst die PSI in eine revolutionäre Partei des Proletariats umwandeln
- Dazu gründete er am 1. Mai 1919 die Zeitung Ordine Nuovo

von Gerhard Felbauer, 26. April 2014



Nachdem die Parteien der II. Internationale 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges in ihrer Mehrheit zum Sozialchauvinismus der imperialistischen "Vaterlandsverteidigung" übergegangen waren, bestand für die Linken in den Sozialdemokratischen/Sozialistischen Parteien die Aufgabe, den Bruch mit den Opportunisten zu vollziehen, sich im Sinne des Kommunistischen Manifestes zu kommunistischen Parteien zu konstituieren und sich in einer neuen, der von Lenin vorgeschlagenen Kommunistischen Internationale, zusammenzuschließen. In Italien suchte Antonio Gramsci, der spätere Begründer der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI), zunächst die Sozialistische Partei (PSI) für diesen Weg zu gewinnen. Gramsci ging von der Antikriegsposition aus, die die italienischen Sozialisten 1914 neben den Bolschewiki als einzige westeuropäische Sektion der II. Internationale bezogen und die sie gegen eine reformistische Minderheit während des ganzen Krieges behaupteten. Grundlage dafür war, dass auf dem Kongress 1912 die reformistische Fraktion aus der Partei ausgeschlossen worden war.


"Eine Ausnahme für die Epoche der II. Internationale"

Die Haltung der PSI war "eine Ausnahme für die Epoche der II. Internationale" und brachte die Partei "einen gewaltigen Schritt vorwärts, d. h. nach links", schätzte Lenin ein (Werke, DDR-Ausgabe, Bd. 21, S. 100; Bd. 28, S. 106). Im Mai 1915 ergriffen die "internationalistischen Sozialisten in Italien" (Lenin) die von ihm hoch gewürdigte Initiative zur Einberufung einer Konferenz aller Parteien, Arbeiterorganisationen und Gruppen, "die an den alten Grundsätzen der Internationale festhielten". Das Ergebnis waren die Tagungen in Zimmerwald (5. bis 8. September 1915) und in Kienthal (24. bis 30. April 1916). Schon Zimmerwald beflügelte die europäische Antikriegsbewegung und brachte eine revolutionäre Linke hervor, die sich von den opportunistischen Kriegsunterstützern abgrenzte. Für Lenin "einer der größten Erfolge der Konferenz" (Bd. 21, S. 369, 396). Die PSI-Führung begrüßte mehrheitlich die russische Oktoberrevolution und erklärte, der Kommunistischen Internationale beizutreten.


Gramsci gewann Romain Rolland, Henri Barbusse, Walt Whitman und Maxim Gorki zur Mitarbeit

Nach dem Beispiel der im März 1916 auf Initiative von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Deutschland gegründeten Spartakusgruppe (seit November 1918 Spartakusbund) bildete Gramsci zusammen mit Palmiro Togliatti, Umberto Terracini und Angelo Tasca die Gruppe Ordine Nuovo (Neue Ordnung), die ab 1. Mai 1919 die gleichnamige Zeitschrift herausgab. Es gelang, neben proletarischen Autoren hervorragende Intellektuelle zur Mitarbeit zu gewinnen. In der Ordine Nuovo schrieben neben Arbeiterkorrespondenten und Arbeiterdichtern pazifistische Intellektuelle der Weltliteratur wie Romain Rolland, Henri Barbusse, Walt Whitman und Maxim Gorki. Neben kommunistischen Literaten publizierte beispielsweise der brillante liberale Kulturkritiker Piero Gobetti.

Die Ordinuovisten definierten sich als Kommunisten mit dem Ziel einer sozialistischen Ordnung als kommunistische Gesellschaft. Sie bekannten sich zur Oktoberrevolution, zur Errichtung einer proletarischen Staatsmacht und zur im März 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale, verbunden mit der Forderung an die PSI, ihr beizutreten.


Keimzellen revolutionärer Machtorgane

Ihre politisch-organisatorischen Aktivitäten konzentrierte Ordine Nuovo auf die norditalienische Bewegung der Fabrikräte mit der Arbeitermetropole Turin. In Norditalien hatten im August/September 1920 die Arbeiter alle großen Betriebe besetzt, Fabrikräte gebildet, die die Leitung der Produktion übernahmen (die sie trotz Sabotage des größten Teils des technischen Personals durchweg zu 70 Prozent aufrechterhielten) und bewaffnete Rote Garden zur Verteidigung der Unternehmen gebildet. Ordine Nuovo suchte die Räte zu Keimzellen revolutionärer Machtorgane zu entwickeln. Eine der ersten großen Kampfaktionen, auf die die Organisation Einfluss nahm, war die Teilnahme der italienischen Arbeiter an dem internationalen Proteststreik gegen die ausländische imperialistische Intervention in Sowjetrussland und Räteungarn am 20. und 21. Juli 1919. Der Streik zeigte eine derartige Wirkung, dass die Regierung auf die bereits geplante Entsendung eines 100.000 Mann zählenden Heeres in die erdölreiche Region Georgien verzichten musste. Außerdem zog sie die in Sibirien und im Fernen Osten stehenden italienischen Interventionstruppen ab.


Wahlerfolg gab Reformisten und Zentristen Aufschwung

Auf dem PSI-Parteitag im Oktober 1919 im roten Bologna konnten die Ordinuovisten ihre Forderungen weitgehend im Parteiprogramm durchsetzen. Lenin wertete die Ergebnisse als einen "glänzenden Sieg des Kommunismus", warnte jedoch vor Illusionen (Bd. 30, S. 75). Die Warnung bestätigte sich, als die Partei einen Monat später bei den Parlamentswahlen mit 32,4 Prozent den ersten Platz belegte. Die Mehrheit der gewählten Parlamentarier stellten die Reformisten und Zentristen, deren These vom "friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus" einen unerwarteten Auftrieb erhielt. Sie traten offen für einen Kompromiss mit dem Kapital ein. Die Arbeiterkontrolle der Fabrikräte definierten sie als "konstruktive Zusammenarbeit" mit den Unternehmern und wandten sich gegen "revolutionäre Aktionen". Unter ihrem Einfluss schlossen die Gewerkschaften das, was man heute einen Sozialpakt nennt, der dazu führte, dass die Fabrikräte sich auflösten oder mit Hilfe der Polizei zerschlagen wurden.


Faschisten terrorisierten Millionen Italiener

Der Kampf um eine revolutionäre Führung erfolgte unter dem blutigen Terror der von Mussolini geschaffenen Squadre d' Azione (Sturmabteilungen) gegen eine Machtergreifung durch die revolutionären Linken. Allein im ersten Halbjahr 1921 gab es, wie Angelo Tasca in seinem Werk "Glauben, gehorchen, kämpfen. Der Aufstieg des Faschismus in Italien" (Promedia, Wien o. J.) schrieb, nach unvollständigen Angaben: 726 zerstörte proletarische Einrichtungen, darunter 17 Zeitungsredaktionen und Druckereien, 59 Volksheime, 119 Gewerkschaftszentralen, 107 Genossenschaften, 83 Bauernligen, 8 gegenseitige Versicherungen, 141 Sektionen und Lokale der Sozialisten und Kommunisten, 100 Kulturheime, 10 Volksbibliotheken und -Theater, eine Volkshochschule, 28 Arbeitergewerkschaften, 53 Arbeiter- und Erholungsheime.

Gramsci enthüllte in Ordine Nuovo, dass allein 1920 1.500 Italiener durch die Kugel, das Messer und den Schlagstock der Faschisten getötet, etwa 20.000 weitere verbannt oder durch Drohungen gezwungen wurden, von ihren Arbeitsplätzen zu fliehen, ungefähr 300 ordentlich gewählte linke Gemeindeverwaltungen zum Rücktritt gezwungen wurden, 15 Millionen Italiener im Norden dem Terror bewaffneter faschistischer Banden ausgesetzt waren.


Programm für die Erneuerung der PSI

Am 8. Mai 1920 veröffentlichte Grasci in der Ordine Nuovo ein "Programm für die Erneuerung der Sozialistischen Partei", nach dem die PSI in eine "Partei des revolutionären Proletariats", die für "die Zukunft einer kommunistischen Gesellschaft" eintritt, umgestaltet werden sollte. Es war eine Kompromissformel, mit der er auf den von den Zentristen abgelehnten Namen "Kommunistische Partei" verzichtete. Der Kern der Forderungen blieb jedoch der Bruch mit dem Opportunismus. Lenin akzeptierte das Vorgehen Gramscis, wenn er diesen Weg auch nicht ausdrücklich propagierte. In seiner Rede "über den Kampf innerhalb der Italienischen Sozialistischen Partei" ging er von der im Herbst 1920 in Italien entstandenen Lage aus, in welcher der Sturz des bürgerlichen Kabinetts und die Bildung einer linken Regierung eine reale Möglichkeit bildeten (Bd. 30, S. 373-385).


Serrati konnte sich nicht durchsetzen

Gemäß diesem Programm forderten die Ordinuovisten auf dem XVII. Parteitag der PSI, der am 15. Januar 1921 in Livorno zusammentrat, nach Punkt sieben der 21 Aufnahmebedingungen des II. KI-Kongresses von 1920 den "vollständigen und absoluten Bruch mit dem Reformismus und mit der Politik der Zentristen" (Lenin, Bd. 31, S. 196). Das lief darauf hinaus, dass die Zentristen sich von den Reformisten trennen und zusammen mit den Ordinuovisten für deren Ausschluss aus der Partei stimmten sollten. Auf dem Kongress vertraten die Zentristen 98.028 Mitglieder, Ordine Nuovo 58.783 und die Reformisten 14.695. Der Vertreter der Zentristen, das zu den Linken tendierende Mitglied des PSI-Sekretariats Giacinto Menotti Serrati, der sich vor dem Parteitag für "die Trennung von den Opportunisten" ausgesprochen hatte, konnte sich jedoch nicht durchsetzen.


PCI-Gründung historisches Erfordernis

Mit dem Argument, die Einheit der Partei zu wahren, lehnten die Zentristen den Ausschluss der Reformisten ab. Daraufhin verließen die Ordinuovisten am Morgen des 21. Januar geschlossen das Tagungsgebäude im Goldini-Theater und gründeten im Sankt Markus-Theater die Kommunistische Partei. Sie nannte sich Kommunistische Partei Italiens, Sektion der KI. Nach Auflösung der Komintern führte sie ab 1943 den Namen Italienische Kommunistische Partei (PCI).

Gramsci ist oft nachgesagt worden, er habe die Trennung von den Reformisten als einen großen Fehler gesehen. Das entstellt seine Haltung. Tatsächlich sah er im Misslingen seiner Konzeption der Umwandlung der PSI in eine revolutionäre Partei des Proletariats "den größten Triumph der Reaktion". Die Trennung bezeichnete er jedoch in gewisser Weise als eine Bedingung für das spätere Zusammengehen mit den Sozialisten und schätzte grundsätzlich ein, "dass unsere Partei mit ihrem Entstehen endgültig das historische Problem der Bildung der Partei des italienischen Proletariats gelöst hatte." In dieser Auffassung bestärkten ihn die Erfahrungen der Räterevolution in Ungarn, wo er im Zusammenschluss der Kommunisten und Sozialdemokraten einen Faktor sah, der zur Niederlage beitrug. Darüber hinaus wäre es ohne die Gründung der PCI nicht möglich gewesen, eine revolutionäre Strategie der Arbeiterklasse als entscheidende Grundlage des Kampfes, der zum Sturz Mussolinis und zur Niederlage des Faschismus führte, zu erarbeiten.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2014