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MEMORIAL/070: März 1968 - My Lai (Gerhard Feldbauer)


Noch heute sträubt sich die Feder, die sadistischen Verbrechen von My Lai niederzuschreiben

von Gerhard Feldbauer, 17. März 2013



Noch heute sträubt sich die Feder, die Verbrechen niederzuschreiben, die sadistische US-Soldaten am 16. März 1968 mit der Ermordung fast aller Einwohner des Dorfes My Lai (in Vietnamesisch Son My) verübten. In ihrem aufrüttelnden Buch "Abelsgesichter. Vietnam. Bilder eines Krieges" haben Gian Luigi Nespoli und Giuseppe Zambon geschildert, was sich zutrug: Die Kompanie unter dem Kommando von Leutnant William Calley gehörte zum 1. Bataillon der 11. US-Infanteriebrigade. Der Kompaniechef befahl, "den Feind aufzustöbern und unverzüglich zu erledigen, aber auch die Hütten des Dorfes zu verbrennen, alles, was sich bewegte, zu töten und jede Form von Leben, auch die Lebensmittel, zu vernichten." Während des Prozesses gegen Calley sagten 21 Soldaten und Unteroffiziere aus, es habe einen "expliziten Mordbefehl gegen unterschiedslos alle Bewohner" gegeben.

Hier einige der kaum zu beschreibenden Vorfälle: "Ein alter Mann wurde in einen Brunnen geworfen und mit einer M-26-Granate getötet. Zwei junge Frauen wurden zuerst vergewaltigt und dann aus nächster Nähe erschossen." Ein Soldat sagte später aus, dass "eine Gruppe von mehreren alten Frauen und einigen Kindern - im ganzen 15 oder 20 Personen - vor einem kleinen Tempel, auf dessen Altar Weihrauchstäbchen brannten, kniete und verzweifelt betete. Die Soldaten näherten sich der Gruppe soweit, dass sie sicher auf jeden Kopf zielen konnten. Niemand überlebte."

Der Überfall auf My Lai war an diesem Tag "die wichtigste der vorgesehenen Operationen" der Brigade. Deshalb begleiteten zwei Kriegsberichterstatter Leutnant Calleys Einheit: Der Journalist Five Jay Roberts und der Fotoreporter Ronald L. Haeberle. Der Fotoreporter berichtete später: "Einige Soldaten hatten ein etwa 15jähriges Mädchen gepackt, und versuchten, ihm die Kleider vom Leibe zu reißen. Eine ältere Frau, vielleicht die Mutter, begann, die Amerikaner anzuflehen, wurde aber mit dem Gewehrkolben erledigt." Haeberle schilderte eine ganze Reihe weiterer furchtbarer kaltblütig durchgeführter Morde.

Geschossen, bis kein Lebenszeichen mehr kam.

Andere Zeugen berichteten: "Leutnant Calley entdeckte etwa 150 Personen, die sich in einem Graben versteckt hatten, in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Als einige von ihnen furchtsam aus ihrem Versteck hervor kamen, mähte er sie erbarmungslos nieder und forderte seine Soldaten auf, seinem Beispiel zu folgen. Es wurde geschossen, bis kein Lebenszeichen mehr kam. Aber nachdem das Feuer eingestellt worden war, erhob sich aus diesem Blutbad, fast wie ein Wunder, ein etwa zweijähriges Kind, das verzweifelt weinend versuchte, in Richtung Dorf zu laufen. Leutnant Calley packte es, warf es wieder in den Graben und erledigte es mit seiner Waffe." Andere Zeugenaussagen sprachen von Menschen, die von Bajonetten und Messern verstümmelt in Blutlachen lagen. "GIs hatten Ohren oder Köpfe abgetrennt, Kehlen aufgeschlitzt und Zungen herausgeschnitten, Skalps genommen." Andernorts lagen "tote Frauen mit aufgeschlitzter Vagina, in einem Fall hatten die Täter einen Gewehrlauf eingeführt und abgedrückt."

Es gab einzelne Fälle von Verweigerung der Mordbefehle. Der deutsche Publizist Bernd Greiner berichtete in seinem Buch "Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam" (Hamburg 2007), dass ein Gefreiter Maples ablehnte, Zivilisten zu erschießen. Leutnant Calley wollte ihn wegen Befehlsverweigerung erschießen, ließ aber davon ab, als sich einige Soldaten schützend vor ihren Kameraden stellten. Der Hubschrauberpilot Hugh Thompson vom 123. Aviation Battalion der "Americal" Division, der mit seiner Crew beim Überfliegen von My Lai die Ermordung von Zivilisten beobachtete, landete, nahm einige Dorfbewohner auf und brachte sie in Sicherheit. Es gab, so Greiner, vier weitere Fälle, in denen Bewohner von My Lai von amerikanischen Soldaten gerettet wurden

In My Lai wurde - wie Berichte und Zeugenaussagen bestätigten - kein einziger Soldat der FNL angetroffen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 128 "Feinde" getötet, nach Untersuchungen der FNL waren es 502 Einwohner - alle Zivilisten, vor allem Alte, Frauen und Kinder. Der Kommandeur des 1. Bataillons, Hauptmann Ernest L. Medina, berichtete jedoch, es seien "69 Vietcong-Soldaten getötet" worden. Im offiziellen Kriegsbulletin, das die "New York Times" am 17. März 1968 veröffentlichte, hieß es: "Zwei amerikanische Kompanien näherten sich von entgegengesetzten Seiten den feindlichen Stellungen und mit schwerem Sperrfeuer und unter Einsatz von Kampfhubschraubern vernichteten sie die nordvietnamesischen Soldaten." Allein die 174. Assault Helicopter Company verfeuerte dabei 13.500 Geschosse des Kalibers 7,62 mm.

Seymor Hersh: "Ein Verbrechen im Stile der Nazis".

Zeugenaussagen in den USA riefen eine Welle der Proteste hervor. Seymor Hersh nannte My Lai "ein Verbrechen im Stile der Nazis". Jonathan Schell schrieb im "New Yorker" vom 20.12.1969: "wenn wir uns daran gewöhnen, dergleichen hinzunehmen, gibt es nichts mehr, was wir nicht hinnehmen". Ein Gericht musste sich schließlich mit dem Verbrechen befassen. Als einziger wurde Leutnant Calley angeklagt und verurteilt, auf Weisung Präsident Nixons jedoch freigelassen. Seine zunächst lebenslange Haftstrafe wurde auf 20, dann auf zehn Jahre herabgesetzt. Im November 1974 wurde er begnadigt. Er hat keinen einzigen Tag im Gefängnis gesessen, sondern bis zur Aufhebung des Urteils nur unter Hausarrest gestanden. In einem Interview, das der amerikanische Journalist John Sack 1971 aufzeichnete, erklärte Calley: "Ich verkörpere nur die Vereinigten Staaten von Amerika. Mein Vaterland" und bekannte, "Ich war gern in Vietnam".

Tag für Tag, Woche für Woche gängige Praxis

My Lai war kein Einzelfall, wie US-Präsident Nixon während des Prozesses der Weltöffentlichkeit einzureden versuchte. Es war Tag für Tag, Woche für Woche gängige Praxis, um die Bevölkerung dazu zu bringen, den Befreiungskämpfern keinerlei Unterstützung zu geben. Lieutenant Colonel David H. Hackworth, Battalionskommandeur der 9. Infantry Division räumte ein, im kriegerischen Alltag in Vietnam habe es "Tausende derartiger Gräueltaten" gegeben. Viele der barbarischen Vorfälle wurden in den USA bis heute nicht, andere erst sehr spät bekannt. Selten waren, wie in My Lai, Journalisten dabei, die dann auch den Mut hatten, solche Massaker an die Öffentlichkeit zu bringen. Enthüllungen der FNL und der DRV wurden in Washington als "kommunistische Gräuelpropaganda" diffamiert.

Operationen wie in My Lai gingen auf direkte Weisungen des Oberkommandierenden in Südvietnam, William Westmoreland, zurück und waren Racheaktionen für die Tet-Offensive der FNL im Februar 1968. Darin wurde gefordert, "unterschiedslos das gesamte Terrain zu neutralisieren". In die Provinz Quang Ngai (in der My Lai lag), wo die Befreiungskämpfer besonders erfolgreich gewesen waren, wurden zusätzlich 120 Experten für Aufstandsbekämpfung mit dem Auftrag geschickt, "die Jagd auf Funktionäre, Helfer und Helfershelfer der Guerilla zu forcieren". Die Armee wurde angewiesen, enger mit der CIA und allen für das Programm "Phönix" zuständigen Stellen zu kooperieren. Der Oberkommandierende, schrieb Greiner, gab seinen Truppen "eine beispiellose Handlungsfreiheit", die "einer Einladung zur unbefristeten Willkür" gleichkam.

US-Präsident Johnson befahl: Weitermachen "wie gehabt"

Präsident Johnson forderte sieben Monate nach My Lai General Creighton Abrams, seit Sommer 1968 Nachfolger Westmorelands als Oberkommandierender in Südvietnam, nachgerade dazu auf, mit der Unterdrückung jedes Widerstandes fortzufahren. "Ihr Präsident und ihr Land erwarten von Ihnen, dass Sie dem Feind ohne Unterlass nachstellen. Gewähren Sie ihm nicht einen Moment der Ruhe." Unmissverständlich forderte der US-Präsident: "Geben Sie es ihm wie gehabt. Lassen Sie den Feind den Druck all dessen spüren, was Ihnen zur Verfügung steht." Der verbrecherischen Weisung folgten die entsprechenden Taten. Unter dem Kommando von Brigadier General Howard Harrison Coocksey von der "Americal" Division wurden von Mitte Januar bis Anfang Februar 1969 in zwei Distrikten der Provinz Quang Ngai zahlreiche Ortschaften niedergebrannt, 300 Bauern exekutiert, 11.000 Bewohner zwangsweise umgesiedelt, 1.300 von ihnen als Sympathisanten der Vietcong verdächtigt und ermordet. Addiert man allein die von Greiner angeführten und akribisch belegten Dutzenden, wohlgemerkt bekannt gewordenen Operationen der systematischen Ermordung von Zivilisten, darunter immer wieder vor allem Frauen und Kinder, dann geht die Zahl in die Hunderttausend.

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2013