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MEMORIAL/039: Frühjahr 1834 - Die Kunst des Flugblatts (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 9 vom 2. März 2012
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Die Kunst des Flugblatts
"Die Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten."

von Klaus Stein


Georg Büchner war gerade 21 Jahre alt, als er im Frühjahr 1834 den Text für den bieder betitelten "Hessischen Landboten" entwarf. In Straßburg hatte den Studenten die rebellische Stimmung nach der französischen Juli-Revolution infiziert. Wieder zurück im Großherzogtum Hessen-Darmstadt gründete er nach dem Vorbild der frühsozialistischen "Société des droits de l'homme" Ableger der "Gesellschaft für Menschenrechte". Die Erfahrung bewaffneter Bauernrevolten in Oberhessen im Herbst 1830, der Seidenweberaufstände in Lyon 1831 und 1834 hatte ihn zum Sozialisten werden lassen. Auf Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit mochte er ohne Aufhebung des Gegensatzes von Arm und Reich, ohne Änderung der Eigentumsverhältnisse nicht mehr hoffen.

Das Motto des Blattes: "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" geht auf Nicolas Chamfort (1741-1794) zurück. "Guerre aux châteaux! Paix aux chaumières!": Das schlug er als Losung für die französischen Revolutionsheere vor.

Im "Landboten" heißt es: "Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen." Dann rechnet er den Bauern den Haushalt des Großherzogtums vor, die Steuern und wofür sie ausgegeben werden. Minister und Beamte "haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Tränen der Witwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft." "Die Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde; sie spricht nach Gesetzen, die ihr nicht versteht, nach Grundsätzen, von denen ihr nichts wisst, Urteile, von denen ihr nichts begreift. Unbestechlich ist sie, weil sie sich gerade teuer genug bezahlen lässt, um keine Bestechung zu brauchen." Über Ludwig, Großherzog von Gottes Gnaden: "Sehet, er kroch so nackt und weich in die Welt, wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen, wie ihr, und doch hat er seinen Fuß auf einem Nacken, hat 700.000 Menschen an seinem Pflug, hat Minister, die verantwortlich sind für das, was er tut, hat Gewalt über euer Eigentum durch die Steuern, die er ausschreibt, über euer Leben durch die Gesetze, die er macht." "Zählt das Häuflein eurer Presser, die nur stark sind durch das Blut, das sie euch aussaugen und durch eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet. Ihrer sind vielleicht 10.000 im Großherzogtum und Eurer sind es 700.000 und also verhält sich die Zahl des Volkes zu seinen Pressern auch im übrigen Deutschland." Und endlich: "Wann der Herr auch seine Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebet euch und der ganze Leib wird mit euch aufstehen." Auf den knappen acht Seiten der Flugschrift analysiert Georg Büchner die wichtigsten Einnahmen und Ausgaben des großherzoglich hessischen Staatshaushalts, deutet und bewertet sie in einer bildhaften Sprache. Der Text hat Gestalt und Ton einer revolutionären Predigt, nimmt die Lebenswirklichkeit und die materiellen Interessen der oberhessischen Bauern ernst.

Das war lesbar für sie und verständlich. Der starke Tobak gefiel dem Pfarrer Ludwig Weidig (* 15. Februar 1791), einem erfahrenen bürgerlichen Revolutionär mit weitreichenden Verbindungen. Gar zu sehr mochte er ihn nicht abmildern. Weidig ersetzte den Begriff "Reiche" durch "Vornehme", fügte weitere Bibelstellen an und betonte die antifeudale Stoßrichtung. Er wollte seine bürgerlichen Demokraten nicht verschrecken. Der Text wurde auf einer Versammlung auf Burg Badenburg am 3. Juli 1834 von Delegierten illegaler republikanischer Gruppen und Sozialisten der "Gesellschaft für Menschenrechte" kontrovers diskutiert (Büchner ärgerte sich sehr über die Verwässerung seines Textes) und schließlich abgesegnet. Die Versammlung klärte die Finanzierung, organisierte den heimlichen Druck in Offenbach und die Verteilung des Blattes im Land. Die Auflage: allenfalls 1.200 bis 1.500 Exemplare.

Karl Minnigerode holte 150 Blätter ab. Er steckte sie in Stiefel, Ärmel, nähte sie in die Jacke. Er kam am 1. August 1834, 18.30 Uhr, in Gießen an. Am Stadttor stoppten Gendarmen den Einspänner, filzten den Studenten und nahmen ihn in Gewahrsam. Der V-Mann Johann Conrad Kuhl, unlängst Verräter des Frankfurter Wachensturms (3. April 1833), hatte seine Ankunft ankündigen können. Büchner bemerkte die Ingewahrsamnahme, brach unverzüglich auf und konnte nach nächtlichen Gewaltmärschen seine Genossen in Butzbach und in Offenbach warnen. Ihm selbst war noch nichts nachzuweisen. Ein Haftbefehl blieb zunächst liegen. Der Dichter hatte sogar Zeit, das Drama "Dantons Tod" im Darmstädter Elternhaus fertigzustellen. Erst am 6. März 1835 war es so weit. Büchner konnte sich knapp dem polizeilichen Zugriff entziehen, floh nach Straßburg. Hier machte er seinen Doktor, folgte im Oktober 1836 einem Ruf der jungen Züricher Universität und lehrte dort. Bis er an Typhus erkrankte. Nachbarn im Haus Spiegelgasse 12, Dr. Wilhelm Schulz und seine Frau, beide wie Büchner politische Emigranten aus Darmstadt, pflegten ihn. Er starb am 19. Februar 1837. Das war vor 175 Jahren. (Bekanntlich wohnte im Nebenhaus, Spiegelgasse 14, einige Monate bis zum 2. April 1917 ein stiller Asylant namens Uljanow, zu selben Zeit, als im Café Voltaire unten an der Ecke Münstergasse die Dadaisten tobten.) Im Großherzogtum Hessen waren mittlerweile zahlreiche Genossen verhaftet worden. Weidig traf es im April 1835. Man brachte ihn ins Darmstädter Arresthaus. Konrad Georgi unterwarf ihn einem Geheimverfahren. Der alkoholkranke Untersuchungsrichter behandelte den Pfarrer als persönlichen Feind, quälte und schlug ihn. Zwei Jahre. Als Weidig am 23. Februar 1837 - vier Tage nach Büchners Tod - mit Halswunden verblutete, war das demokratische Deutschland alarmiert. Anzeigen der Brüder Weidigs wurden vom Großherzogtum mit Gegenanzeigen beantwortet.

Im selben Jahr entstand in Düsseldorf das Bild "Gefangene in der Zuchthauskirche" mit deutlichem Bezug auf diese Affäre. An der Säule steht breitbeinig ein Mann. Er wird gemeinhin mit Weidig identifiziert. Der Maler ist Wilhelm Joseph Heine (1813-1839). Es ist das Hauptwerk des früh verstorbenen Künstlers. Das Bild existiert in mehreren Fassungen.

Im Jahre 1843 veröffentlichte Büchners Züricher Nachbar Dr. Wilhelm Schulz anonym die Schrift "Der Tod des Pfarrers Friedrich Ludwig Weidig. Ein aktenmäßiger und urkundlich belegter Beitrag zur Beurteilung des geheimen Strafprozesses und der politischen Zustände Deutschlands". Die hessische Justizbehörde hatte Weidigs Tod als Selbstmord dargestellt. Schulz dagegen analysierte die Dokumente, ermittelte unmenschliche Haftbedingungen und schwere Misshandlungen Weidigs durch seine Inquisitoren und die Todesumstände. Er kam zu dem Schluss, dass Weidig mit großer Wahrscheinlichkeit von Georgi und dessen Gehilfen zwecks Vertuschung von Übergriffen ermordet worden war. Lang her.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 44. Jahrgang, Nr. 9 vom 2. März 2012, Seite 13
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2012