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MEMORIAL/025: Vor 205 Jahren brachte Napoleon Preußen eine vernichtende Niederlage bei (Gerhard Feldbauer)


Vor 205 Jahren brachte Napoleon Preußen bei Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage bei

Der Korse war Repräsentant der Revolution und Eroberer

Eine aktuelle Geschichtsbetrachtung

von Gerhard Feldbauer, 18. Oktober 2011


Auch zum 205. Jahrestag wurden die Ereignisse vom Oktober 1806 in Jena wieder einmal gefeiert. Wenn dabei auch das Leid des Krieges hervorgehoben wird, am Ende steht eine Würdigung Preußens im Befreiungskrieg, das zum Untergang Napoleons 1814 bei Waterloo entscheidend beitrug. Äußerungen großer Geister dieser Zeit ließen vermuten, dass sie das anders einschätzten. Heine sah den Triumph der Feudalreaktion mit großen Befürchtungen. In seinem Nachlass (Berlin 1949) steht: Bei Waterloo siegte "die schlechte Sache des verjährten Vorrechts". Napoleon vertrat - trotz aller Probleme - die "Sache der Revolution. Es war die Menschheit, welche zu Waterloo die Schlacht verlor". Aufschlussreich seine "Grenadiere", die er dem Schicksal Napoleons widmete.

Wenden wir uns einer Analyse der Napoleonzeit zu. Frankreich befand sich zu dieser Zeit unter Napoleon Bonaparte auf dem Höhepunkt seiner Macht. Der Kaiser hatte die Armeen Österreichs, Preußens und Russlands geschlagen und beherrschte West- und Mitteleuropa. Am 14./15. Oktober 1806 trafen seine noch vom Geist der Revolution beseelten Truppen erneut auf die reaktionäre preußische Armee und brachten ihr in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage bei.


Deutschland hinkte der Entwicklung um Jahrhunderte hinterher

Die Ereignisse verdeutlichen, dass Geschichte immer widersprüchlich, oft, wie Jürgen Kuczynski es einmal ausdrückte, im regelrechten Zick-Zack, verläuft. Das junge Bürgertum hatte bereits Jahrhunderte vorher zur Zeit des Staufenkaisers Friedrich Barbarossa vor allem in Italien (Lombardischer Städtebund in Mailand), aber auch in Deutschland (aufblühende Städte) begonnen, auf den Prozess der sozialökonomischen Entwicklung einzuwirken. Die weitgehend unabhängigen Städte wurden als "Glanzpunkt des Mittelalters" (Karl Marx) innerhalb der Feudalgesellschaft zum vorwärtsweisenden Element des Geschichtsprozesses. Nach England stieg das Bürgertum nun auch in Frankreich nach der Revolution zur herrschenden Großbourgeoisie auf. Unter Bonaparte trat sie - ein völlig natürlicher Prozess - an, ihre Vorherrschaft auf dem Kontinent geltend zu machen.

In Deutschland traf Napoleon auf gesellschaftliche Zustände, die der Entwicklung Frankreichs um Jahrhunderte hinterherhinkten. Der Aufbau eines zentralen Königsstaates und damit die Überwindung der politischen Zersplitterung als wesentliche Voraussetzung der Produktivkraftentwicklung und Nationwerdung waren in der frühbürgerlichen Revolution (deutscher Bauernkrieg) als auch im 30jährigen Krieg ungelöst geblieben. Nun gipfelte der Weg der bürgerlichen Klasse zur politischen Macht noch einmal in Niederlagen, gravierenden Fehlleistungen und schließlich Kompromissen.


Mit Napoleon kam der "Code Civil" nach Deutschland

Aus Frankreich kamen mit dem Eroberer Anstöße, die tiefgreifende Veränderungen einleiteten. Dieser Prozess verlief alles andere als geradlinig. Napoleon war für Deutschlands Bürgertum nicht nur der Eindringling, sondern zunächst vor allem "der Repräsentant der Revolution, der Verkünder ihrer Grundsätze, der Zerstörer der alten Feudalgesellschaft" (Friedrich Engels). Er brachte den "Code Civil" in die eroberten Länder, ein allen bestehenden weit überlegenes Gesetzbuch, das im Prinzip die Gleichheit anerkannte. Das neu geschaffene Königreich Westfalen wurde zu einer Art liberalem Musterland für Deutschland. Die Leibeigenschaft und die Privilegien des Adels wurden aufgehoben, Gewerbefreiheit und eben der "Code Civil" eingeführt. Der 1803 verabschiedete Reichsdeputationsausschuss löste etwa 200 deutsche Kleinstaaten auf und beseitigte damit die schlimmsten Auswüchse der politischen Zersplitterung. Im Juli 1806 bildeten 16 deutsche Fürsten den von Napoleon dominierten Rheinbund. Es folgte die offizielle Auflösung des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation".

Mit der vernichtenden Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt wendete sich das Blatt. Nun wurden die Eroberungsgelüste der französischen Bourgeoisie, als deren Vollstrecker der Korse handelte, deutlicher als vorher. Im Frieden von Tilsit verlor Preußen über die Hälfte seines Staatsgebietes. Lenin bezeichnete diesen Raub später als "die größte Erniedrigung Deutschlands", die "eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung" herbeiführte.(1) Stein/Hardenberg leiteten sie mit ihren Reformen ein.


Die Römische Republik - ein Glanzpunkt revolutionären Einflusses

Als Marschall Berthier im Februar 1798 Rom besetzte und im Kirchenstaat die Römische Republik proklamierte, bildet das einen Glanzpunkt revolutionären Einflusses. Zum ersten Mal wurde die seit tausend Jahren errichtete erzreaktionäre weltliche Herrschaft der Päpste beseitigt. Nachdem Pius VI. sich weigerte, einen Regierungsverzicht zu erklären, wurde er in Haft genommen und nach Frankreich verbracht, wo er im Sommer 1799 starb. Erst nachdem der Wiener Kongress 1815 den Kirchenstaat wieder hergestellt hatte, konnte Pius VII. in Rom einziehen.

Nach der Niederlage gegen Admiral Nelson in der Seeschlacht bei Trafalgar und dem Scheitern der Invasionspläne gegen Großbritannien befand sich Napoleon mit der Besetzung Portugals und Spaniens 1807/08 nochmals auf der Siegerstraße. Dennoch war es ein "böser Irrtum" (Golo Mann), denn noch 1808 begannen mit dem Aufstand von Madrid die europäischen Befreiungskriege. 1809 erhoben sich die seit den Bauernkriegen im 16. Jahrhundert freiheitsbewussten Tiroler Bauern unter Andreas Hofer gegen die bayrisch-französischen Besatzer. Seit Österreich 1805 bei Austerlitz gegen Frankreich unterlegen war, hatte es neben Venetien und Vorarlberg auch Tirol verloren, was Napoleon dem verbündeten Bayern überließ. 12 Divisionen musste der Kaiser gegen die von Franz II. im Stich gelassenen Tiroler einsetzen, ehe er sie in der zweiten Schlacht am Iselberg schlagen konnte.


Das russische Volk verteidigte die Unabhängigkeit und die Zarenherrschaft

Nun folgte die Etappe der Fehleinschätzung des Kräfteverhältnisses, was ein Jahrhundert später im Ersten und dann im Zweiten Weltkrieg für den deutschen Imperialismus charakteristisch wurde. Napoleon begann den Feldzug in die unendlichen Weiten Russlands, wo das Volk seine eigenen Interessen hinten an stellte, mit der nationalen Unabhängigkeit aber gleichzeitig die reaktionäre Zarenherrschaft verteidigte. Die Vernichtung der "Großen Armee" in Russland läutete das Ende der französischen Hegemonie in Europa ein. Von 570.000 Soldaten kehren nur knapp 30.000 zurück. Statt sich nach Frankreich zurück zu ziehen, stellte sich Napoleon mit 191.000 Mann und 690 Geschützen im Oktober 1813 bei Leipzig der Koalition von Russland, Österreich, Preußen und Schweden, die auf dem Höhepunkt der viertägigen "Völkerschlacht" 295.000 Soldaten mit 1.466 Geschützen zählte.


Die Konterrevolution triumphierte

Der Wiener Kongress verdeutlichte, dass die feudale Reaktion über das bürgerliche Frankreich gesiegt hatte und damit die Konterrevolution triumphierte. In ihrer Propaganda ist der als Weltverbesserer angetretene Repräsentant der Bourgeoisie nur noch "das korsische Ungeheuer". Während seiner Herrschaft der 100 Tage im Frühjahr 1815 verketzerte man ihn in Wien zum "Feind der Menschheit". Das europäische Geschmeiß der Könige und Fürsten, das um die Beute stritt, zitterte, es könnte Napoleon gelingen, der Revolution noch einmal Leben einzuhauchen. Die Volksmassen, die ihm in Frankreich zujubelten, hofften das sehnlichst und glaubten ihm, wenn er erklärte, er sei gekommen, um die "Prinzipien der Großen Revolution zu schützen". In der Tat ließ er eine liberale Verfassung ausarbeiten und durch Volksabstimmung beschließen. Er wurde bei Waterloo ein letztes Mal geschlagen, weil die französische Bourgeoisie längst konterrevolutionär geworden war, ihre einstigen Ideale verraten und den Kaiser fallen gelassen hatte. So steckte in dem, was Napoleon nach seiner letzten Niederlage sagte, viel Wahrheit: "Die Mächte führen nicht Krieg mit mir, sondern mit der Revolution. Sie haben in mir immer deren Vertreter, den Mann der Revolution gesehen."

Dementsprechend war die Abrechnung nach den "Hundert Tagen". Der weiße Terror der Royalisten wütete besonders in Südfrankreich. Auf offener Straße wurden in Marseille und Nimes Bonapartisten und Soldaten getötet, in den Städten und Dörfern an der Mittelmeerküste Hunderte von Menschen umgebracht, in Avignon Marschall Brune ermordet, General La Bédoyère, Marschall Ney und andere hingerichtet, Morde und Hinrichtungen auch in zahlreichen anderen Départements.

Mit der Großen Französischen Revolution (1789-1794) begann aus weltgeschichtlicher Sicht die bis 1870/71 währende "Epoche des Aufstiegs und des vollen Sieges der Bourgeoisie" (Lenin). Waterloo machte jedoch zunächst den Weg frei zur Fortsetzung der Restauration der gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa. Die Völker, die für den Sieg ungeheure Opfer gebracht hatten, gingen leer aus. Gesellschaftlicher Fortschritt, der mit Napoleon Einzug gehalten hatte, stagnierte. In Frankreich selbst gehörte zu den Folgen, dass die 1792 gestürzten, im Volk verhassten Bourbonen, die seit 1589 geherrscht hatten, den Ausgleich mit der Großbourgeoisie herstellten und unter Ludwig XVIII. auf den Thron zurückkehrte. Nach der Niederlage des jungen, isolierten und unorganisierten Proletariats 1848 in der Junischlacht in Paris führte der Weg zum Staatsstreich Louis Bonapartes, der am 2. Dezember 1851 die Nationalversammlung auseinander jagte und sich ein Jahr später zum Kaiser Napoleon III. ausrief. Mit dem Staatsstreich kamen die konterrevolutionärsten Kreise der Bourgeoisie an die Macht. Er war die Folge des Schwankens der bürgerlichen Parteien, die aus Furcht vor dem "roten Gespenst" die bonapartistischen Verschwörer gewähren ließen (Karl Marx' "Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte").


Golo Mann: "Man muss für alles Bleibende dankbar sein."

Wäre es für den Verlauf des Geschichtsprozesses günstiger gewesen, wenn Napoleon gesiegt, die europäischen Feudalreaktionen gestürzt und an ihrer Stelle die Bourgeoisie an die Macht gebracht hätte? Heine wurde Eingangs dazu bereits zitiert. Er war nicht der Einzige, der sich so äußerte. Goethe sprach von der Ablösung der bürgerlichen Vorherrschaft Napoleons durch die feudale Vormacht des Zaren. Er sah in Napoleon einen "außerordentlichen Menschen", sprach von der "Größe des Helden", einem "Halbgott". Menschen aus dem Volk äußerten erschrocken, "der Adel hat gewonnen". Golo Mann schrieb über die Epoche Napoleons: "Es sind kurze Augenblicke in der Geschichte, in denen ein nobler Enthusiasmus regiert, und man muss für alles Bleibende, was in dieser Zeit geschaffen wird, dankbar sein." Das bezeugt, dass die Napoleonzeit insgesamt ein großer Schritt vorwärts war, in der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus.

Über Vergleiche mit dem Sieg der Konterrevolution über den Sozialismus 1989/90 in Osteuropa, darunter auf deutschem Boden, nachzudenken, ist durchaus angebracht. Verlief die Entwicklung seit der Oktoberrevolution, wenn auch unter zeitlich veränderten historischen Gesichtspunkten, nicht ähnlich widersprüchlich? Fest steht ohnehin, der Lauf der Geschichte ist nicht aufzuhalten. Die Tage des kapitalistischen Gesellschaftssystems sind gezählt, auch wenn es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis es von der Bühne der Geschichte vertrieben wird.


Interessierte Leser verweisen wir auf den Beitrag unseres Autors "Epochenwechsel in vorsozialistischer Zeit". In: Festschrift zum 80. Geburtstag von Hanfried Müller, Berlin 2006, S. 553-570.


Fußnote:

(1) Werke, Bd. 27, S. 149, Lenin ist hier allerdings immer aus dem Zusammenhang heraus zitiert worden. Er bezog sich auf den Tilsiter Frieden, um die Zustimmung zum Abschluss des Brester Friedensvertrages zu erreichen.


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Quelle:
© 2011 by Dr. Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2011