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KULTUR/100: Afrikanische Identitäten in Brasilien und Kolumbien (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 1/2015 - Universität Bayreuth

Afrikanische Identitäten in Brasilien und Kolumbien
Im Spannungsfeld von Traditionen, Ausgrenzung und neuem Selbstbewusstsein

Von Ute Fendler und Eberhard Rothfuss


Die Beziehungen zwischen Lateinamerika und Afrika sind fast so alt wie die zwischen Lateinamerika und Europa. Sie bilden ein spannendes und zukunftsweisendes Forschungsfeld, das insbesondere durch den Klassiker The Black Atlantic des Kultur- und Sozialwissenschaftlers Paul Gilroy wichtige Impulse erhalten hat.(1) Die afrikanische Diaspora nicht nur in Nord-, sondern auch in Südamerika geriet seitdem zunehmend ins Blickfeld wissenschaftlicher Untersuchungen.(2) Heute haben etwas mehr als die Hälfte der rund 191 Millionen Einwohner Brasiliens afrikanische Wurzeln.(3) In Kolumbien, das 1991 in der Verfassung als multiethnische Nation definiert wurde, stammt mindestens ein Fünftel der insgesamt 41 Millionen Einwohner von afrikanischen Vorfahren ab. Welche Bedeutung hat das afrikanische Erbe für die nationale Identität dieser Länder?

Der Anthropologe Livio Sansone hat das Identitätsbewusstseinin der afrobrasilianischen Bevölkerung als "Schwarz-Sein ohne Ethnizität" beschrieben. Denn die Menschen wissen oft nicht genau, woher sie und ihre Vorfahren stammen. Deren territoriale und ethnische Herkunft sind ihnen weitgehend unbekannt. Gleichwohl gibt es eine emotionale Verbundenheit mit Afrika. "Wir Afrolatinas sind von Afrika durch Ozeane und Meere getrennt. Dennoch eint uns die herzzerreißende Geschichte und eine vielfältige und fruchtbare Kultur mit ihren Ausdrucksformen", so beschreiben Argentina Jaraba und Arie Aragón aus Kolumbien ihre Verbundenheit zum afrikanischen Kontinent.(4) Mit den indigenen Bevölkerungsgruppen Kolumbiens verbindet sie oft das Gefühl des gesellschaftlichen Ausgeschlossenseins und des verdeckten, aber nicht weniger wirksamen Rassismus im Alltagsleben. Aber diese demütigenden Erfahrungen gehen mit einem wachsenden Bewusstsein der eigenen Identität (Négritude) einher. Dieses erstarkende Selbstbewusstsein hat in den vergangenen Jahren vieles zum Positiven gewendet und zu einer größeren Anerkennung in der Gesellschaft beigetragen. "Schwarz sein, das bedeutet stark zu sein, oder? Widerstand zu leisten, zu kämpfen": So hat es eine Favelabewohnerin in Salvador da Bahia auf einen Nenner gebracht.(5)


Wie alles begann: Versklavung und Widerstand

Der transatlantische Sklavenhandel setzte im 16. Jahrhundert ein, als Menschen aus dem westlichen, zentralen und südlichen Afrika von Europäern versklavt und über den Atlantik nach Nord- und Südamerika sowie in die Karibik transportiert wurden. Mehr als fünf Millionen Menschen sind allein nach Brasilien verschleppt und auf Zuckerrohrplantagen ausgebeutet worden. Überall dort, wo Sklaverei existierte, gab es aber auch Räume des Widerstands. Entflohene Sklaven gründeten Fluchtburgen: die Quilombos. In Brasilien entstanden die ersten dieser Siedlungen im Nordosten des Landes, in Alagoas. Unzugängliche Gebirgsregionen boten hier den nötigen Schutz vor Sklavenjägern. Palmares, wo zeitweise mehr als 30.000 Menschen lebten, ist der wohl bekannteste Quilombo. Er entstand in den Wirren des holländisch-portugiesischen Kolonialkriegs (1624-1630), der Tausenden von Sklaven die Flucht von den Plantagen im Nordosten Brasiliens erleichterte.

In Kolumbien entstanden die Palenques: Dies waren Gemeinschaften entflohener Sklaven für Selbstregierung/ Justiz, Widerstand und Bildung von kultureller Identität. Afrikanische Sklaven kämpften hier bereits im 16. Jahrhundert für die Abschaffung der Sklaverei. Das Dorf San Basilio de Palenque, südöstlich der Hafenstadt Cartagena, kann als erster freier Ort in Südamerika bezeichnet werden. Auch 400 Jahre später haben sich die Nachkommen trotz Verfolgung und Armut ihre eigene Musik und Kultur bewahrt, und auch das Palenquero - eine Kreolsprache mit spanischen Wurzeln - wird dort heute noch gesprochen. All dies erklärt, warum Palenques und Quilombos bis heute Symbole des Widerstands sind. Sie verkörpern das historische Emanzipationsprojekt der afrodeszendenten Bevölkerung.


Alltagswirklichkeiten heute: Zwischen Stigmatisierung und Selbstbehauptung

"Der Status der Afrikaner als Sklaven fügte dem portugiesischen System der gesellschaftlichen Strukturierung ein wichtiges Element hinzu: die Hautfarbe. Die Hautfarbe trug ganz erheblich dazu bei, die hierarchische Sozialstruktur Brasiliens in der Moderne zu festigen", erklärte der Historiker Thomas Skidmore.(6) Vereinfacht ausgedrückt, kann das soziale Gefälle im postkolonialen Brasilien auf einer Skala der Hautfarbe abgebildet werden: Je weiter unten in der sozialen Schichtung, desto dunkelhäutiger sind die Menschen. Dabei besitzen die Nachfahren der Sklaven im Vergleich zu Hellhäutigen noch immer keine nennenswerten sozialen und ökonomischen Aufstiegschancen. Edward Telles spricht im Hinblick auf Lateinamerika insgesamt sogar von einer "Pigmentokratie".(7)

Die gesellschaftliche Ungleichheit Brasiliens manifestiert sich in den Favelas, den benachteiligten und oft diskriminierten Stadtvierteln. Die meisten Menschen, die hier leben, haben afrikanische Vorfahren. Die Karte[*] zeigt die Polarisierung von Armen und Reichen in Salvador da Bahia, der drittgrößten Stadt Brasiliens. Jardim Apipema ist ein Viertel der Mittelschicht und hat knapp 13.000 Einwohner, 69 Prozent von ihnen sind Weiße. Die Bevölkerungsdichte liegt hier bei 163 Einwohnern/ha. Ganz anders verhält es sich im direkt angrenzenden Calabar. In dieser Favela leben 289 Einwohner/ha, und rund 84 Prozent der etwa 20.000 Einwohner sind dunkelhäutig. Entsprechend ist das soziale Gefälle: Rund 60 Prozent der Menschen im Jardim Apipema haben ein durchschnittliches Monatseinkommen von über zehn Mindestlöhnen (ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn entspricht umgerechnet derzeit rund 250 Euro), die Hälfte von ihnen verfügt sogar über mehr als 20 Mindestlöhne. In der angrenzenden Favela hingegen müssen 82 Prozent der Menschen in jedem Monat mit einem Durchschnittseinkommen (über)leben, das zwischen einem halben und zwei Mindestlöhnen (125 bis 500 Euro) liegt.(8)

Zum Schutz vor Diskriminierung wird die Favela für ihre Bewohner oft zu einem Raum der Integrität und des Schutzes. Hier haben die kulturellen Praktiken eine identitätsstiftende Funktion. Sie bekräftigen die Zugehörigkeit zur afrobrasilianischen Kultur. Von besonderer Bedeutung sind dabei der Candomblé, ein afrobrasilianischer Religionsritus, und die Capoeira, ein auf die Sklaverei in den Plantagen Nordostbrasiliens zurückgehender Kampftanz. Diese Praktiken dienen den Favelabewohnern dazu, eine gemeinsame Identität und Kollektivität zu leben.


Chocó - Armes reiches Kolumbien

Die Pazifikküste Kolumbiens beheimatet viele Gemeinden von Afrokolumbianern. Die Nachfahren der afrikanischen Sklaven haben zwar in den letzten beiden Jahrzehnten erfolgreich für ihre Anerkennung und Selbstbestimmung gekämpft. Doch noch immer gibt es Benachteiligung, Unterdrückung und fehlende Autonomie. Das Department Chocó, im Nordwesten Kolumbiens an der Grenze zu Panama und zum Pazifik gelegen, gehört zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Regionen des Landes. Rund 80 Prozent aller Afrokolumbianer sind hier zu Hause. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Dies ist paradox, denn der Chocó zählt zu den ressourcenreichsten Regionen des Landes. Dennoch sind die Menschen hier vom kolumbianischen Sozial-und Fürsorgesystem ausgeschlossen. Stattdessen sind Landvertreibung, strukturelle Ungleichheit, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Strukturelle Gewalt und soziale Ungleichheit zeigen sich auch bei den vier Millionen Binnenflüchtlingen in Kolumbien, von denen mehr als ein Drittel aus dem Chocó stammen.


Neue künstlerische Stimmen, neues Selbstbewusstsein

Jhonny Hendrix Hinestroza ist der erste afrokolumbianische Regisseur aus Chocó, der an der Berlinale teilnahm. 2012 präsentierte er hier seinen Erstlingsfilm Choco. Der Film gibt Einblicke in das Leben der marginalisierten afrokolumbianischen Bevölkerung, deren Probleme häufig ausgeblendet werden. Er zeigt die harte Wirklichkeit einer jungen Frau, die mit Gelegenheitsarbeiten ihre Kinder durchbringt und dennoch von ihrem Mann im betrunkenen Zustand geschlagen wird. Hinestroza will damit eine öffentliche Diskussion über das Leben der Afrokolumbianer, aus ihrer eigenen Sicht heraus, anstoßen.

Bereits 2009 hatte der Regisseur Ciro Guerra in dem Film Los viajes del viento die Wanderschaft eines Musikers auf die Leinwand gebracht und dabei nicht nur die Regionen im Norden Kolumbiens, sondern auch ihre Musik zu Protagonisten erhoben. Zu einer internationalen Bühne für kolumbianische Musik - vorwiegend mit afrikanischem Einfluss - hat sich das "Festival de Música del Pacífico" in Cali entwickelt, das seit 1997 traditionelle Musik gezielt fördert.


Autoren

Prof. Dr. Ute Fendler ist Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Literaturwissenschaft und Komparatistik unter besonderer Berücksichtigung Afrikas an der Universität Bayreuth.

Prof. Dr. Eberhard Rothfuß ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozial- und Bevölkerungsgeographie an der Universität Bayreuth.


Anmerkungen

(1) Paul Gilroy: The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. London 1993.

(2) Bis heute wird jedoch zu wenig beachtet, dass es afroamerikanische Minderheiten nicht nur in den USA und Brasilien, sondern auch in weiteren südamerikanischen Ländern gibt. Und erst allmählich wächst die Aufmerksamkeit für die kulturellen Ausprägungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte in spezifischen Kontexten entwickelten.

(3) vgl. Zensus 2010 Brasilien: http://censo2010.ibge.gov.br/

(4) Argentina Jaraba und Arie Aragón: Von dort kommen wir. AfrokolumbianerInnen besuchen Afrika. In: ILA (2005) 291, S. 18-20.

(5) Eberhard Rothfuß: Exklusion im Zentrum. Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit. Bielefeld 2012, S. 226.

(6) "African slavery also added an important element to the Portuguese system of social stratification: colour. Colour proved highly effective in reinforcing the modern Brazilian hierarchical social structure." Thomas Skidmore: BBrazil's Persistant Income Inequality: Lessons from History. In: Latin American Politics and Society (2004) 46, S. 133-150; hier S. 139.

(7) Edward Telles: Pigmentocracies. Ethnicity, Race, and Color in Latin America. North Carolina, 2014.

(8) IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística): Síntese de Indicadores Sociais 2007. Rio de Janeiro 2007.


Literaturhinweise
  • Eberhard Rothfuß: Exklusion im Zentrum. Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit. Bielefeld 2012, S. 226.
  • Livio Sansone et al.: Africa, Brazil, and the Construction of Trans Atlantic Black Identities. Trenton/ New Jersey 2008.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Bildunterschriften von im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Im Candomblé, einer afrobrasilianischen Religion, wird die Göttin Yemayá als Mutter der gesamten Menschheit verehrt. Alljährlich am 2. Februar werden ihr in einer Prozession am Strand von Rio Vermelho in Salvador da Bahia Blumen und andere kleinere Geschenke gewidmet, die entweder am Ufer oder - nach einer Bootsfahrt - auf offenem Meer ins Wasser geworfen werden

- Eine Statue in San Basilio de Palenque erinnert an Benkos Bioho, der dieses kolumbianische Dorf des Widerstands im Jahre 1603 gründete. 2008 wurde der Kulturraum von San Basilio de Palenque von der UNESCO in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit eingetragen

- Soziale Gegensätze treffen hart aufeinander: das Stadtviertel Jardim Apipema (links) und die Favela Calabar (rechts) in Salvador da Bahia[*]

- Die Favela Calabar

- Junges Paar beim Kampftanz, dem traditionellen Capoeira

- Poster des Films Choco (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Jhonny Hendrix Hinestroza).

- Das Department Chocó im Nordwesten Kolumbiens


KASTEN
 
"Süd-Süd-Globalisierung": Neue Perspektiven transatlantischer Forschung

Transatlantische Verbindungen gibt es nicht allein zwischen Europa und Nordamerika. Im Zeitalter der Globalisierung steigt auch die Zahl der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Kontakte und Kooperationen zwischen Afrika und Südamerika. Deshalb haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Bayreuth, die in verschiedenen sozialund kulturwissenschaftlichen Disziplinen zuhause sind, gemeinsam mit internationalen Partnern ein neues Netzwerk ins Leben gerufen. Das Ziel ist es, Süd-Süd-Beziehungen mit ihren Ausprägungen und Folgen ins Zentrum von Forschung und Lehre zu rücken. In dem neuen Verbund AGORA arbeiten zunächst fünf Hochschulen zusammen:

  • Universität Bayreuth
  • Universidade Eduardo Mondlane Maputo, Mosambik
  • Universidade Federal da Bahia und Universidade Federal do Recôncavo, Brasilien
  • Universidad del Valle in Cali, Kolumbien

Das gemeinsame Interesse richtet sich insbesondere auf die großen Bevölkerungsanteile in Südamerika und der Karibik, die afrikanische Vorfahren haben. Vor dem Hintergrund der kolonialen und postkolonialen Geschichte geht es beispielsweise um die Frage, wie afroamerikanische Minderheiten heute an der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Länder teilhaben. Darüber hinaus sollen vor allem vergleichende Fragestellungen, die gemeinsam in einer Süd-Süd-Perspektive behandelt werden, die Zusammenarbeit zwischen den Partnern stärken.
Im April 2015 veranstaltete die Universität Bayreuth gemeinsam mit dem Bayerischen Hochschulzentrum für Lateinamerika (BAYLAT) und in Zusammenarbeit mit der Botschaft Kolumbiens in Deutschland erstmals einen Kolumbien-Tag. Rund 120 kolumbianische und deutsche Verantwortliche aus Wissenschaft und Politik erörterten Perspektiven für eine verstärkte Zusammenarbeit in den Natur- und Sozialwissenschaften.

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juni 2015, Seite 10-13
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 56, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de
 
Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2015

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