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KULTUR/097: Transkulturelle Lebensformen (Spektrum - Universität Bayreuth)


Spektrum 1/2015 - Universität Bayreuth

Transkulturelle Lebensformen
Diasporagemeinschaften zwischen Ausgrenzung und Integration

Von Susanne Lachenicht


Was sind eigentlich Diasporen? Der Begriff "Diaspora" (griechisch: Verstreuung) bezieht sich zunächst einmal auf das Phänomen menschlicher Migration sowie auf kulturelle, ethnische oder religiöse Gruppierungen, die infolge von Migrationsprozessen außerhalb ihrer geografischen Herkunftsregionen leben. Eines der ältesten geschichtlichen Beispiele für eine Diaspora ist die babylonische Gefangenschaft der Juden im 6. Jahrhundert v. Chr., als ein großer Teil der Bevölkerung von Judäa gezwungen wurde, seine Heimat zu verlassen und sich im Zweistromland neu anzusiedeln. In der Neuzeit entstand im Verlauf von drei Jahrhunderten, zwischen 1500 und 1800, die afrikanische Diaspora: Rund 12 Millionen Menschen wurden als Sklaven von Afrika in die Karibik und nach Amerika deportiert. In beiden Fällen handelt es sich um Gruppen, die in der Forschung als victim diasporas bezeichnet werden. In ihrer Heimat verfolgt und/oder aus ihrer Heimat deportiert, erleiden sie ein kollektives Trauma.

Seit den 1990er Jahren ist der Begriff "Diaspora" auf weitere Migrationsgruppen ausgeweitet worden. Es gibt

  • Imperial diasporas, wie die der Briten in ihren ehemaligen Kolonien in Indien, Australien oder Neuseeland
  • Labour diasporas, wie die der Inder in Ostafrika
  • Trade diasporas, wie die der Chinesen oder Libanesen in Nordamerika
  • Religious diasporas, wie die der Amish people, der Hutterer und der Mennoniten in Nordamerika
  • Cultural diasporas, wie die der Nachfahren von Sklaven in der Karibik

Wie auch im letzteren Beispiel liegen oft Mischformen dieser unterschiedlichen Kategorien von Diasporen vor. Einigende Elemente sind der identitätsstiftende Rückbezug zum Heimatland, das oft zu einem Mythos wird, und ein starker Zusammenhalt der ethnischen und/oder religiösen Gruppe. In den Aufnahmegesellschaften kann es zu Akkulturation, Integration, Toleranz und Pluralismus, aber auch zu Exklusion und Extremismen kommen.


Diasporaforschung - ein Schlüssel zum Verständnis der Globalisierung

An der Universität Bayreuth hat die Diasporaforschung Tradition. Heute bildet sie eine der Säulen des Profilfelds "Kulturbegegnungen und transkulturelle Prozesse" und ist ebenso Teil des Profilfelds "Afrikastudien", das die Geschichte, die Kulturen und Literaturen von Menschen afrikanischer Herkunft in anderen Kontinenten mit einbezieht. Diasporaforschung analysiert bestehende und sich entwickelnde Kulturen, deren Selbstverständnisse und Interaktionen mit anderen Kulturen. Von besonderem Interesse sind dabei hybride Kulturen, die entstehen, wenn sich verschiedene Kulturen dauerhaft mischen und wechselseitig durchdringen. Diasporaforschung fördert auf diese Weise ein vertieftes Verständnis der Globalisierung. Dass das Interesse an diesem Wissenschaftszweig weltweit gestiegen ist, dazu haben nicht zuletzt auch Projekte und Initiativen am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Universität Bayreuth beigetragen.

Die historische Diasporaforschung befasst sich insbesondere mit den folgenden Fragen:

  • Wurden in der Frühen Neuzeit bereits Konzepte entwickelt, die wir heute mit den Begriffen "Toleranz", "Integration" oder "Assimilierung" bezeichnen würden?
  • Welche Erwartungen formulierten Staaten und Gesellschaften an Minderheiten in ihrer Mitte?
  • Wie wirkten sich die Identitäten von Minderheiten auf die Herausbildung nationaler Identitäten und der Nationalstaaten selbst aus?
  • Gab es bereits in der Frühen Neuzeit einen einheitlichen Rechtsstatus für Flüchtlinge?
  • Wie bildeten sich Diasporakulturen heraus, und welchen Transformationsprozessen unterlagen sie?
  • Welche Rolle spielten die Netzwerke von Diasporen für den Handel sowie für den Austausch von Menschen und Ideen?

Die Hugenotten: Glaubensflüchtlinge und innovative "Service agents"

Diese Fragen standen im Mittelpunkt eines Forschungsprojekts, das Prof. Dr. Susanne Lachenicht von der Universität Bayreuth und Prof. Dr. Myriam Yardeni von der Universität Haifa gemeinsam bearbeitet und 2014 abgeschlossen haben.(1) Es wurde von der German-Israeli Foundation (GIF) gefördert und konzentrierte sich auf eine besondere Gruppe frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge: die Hugenotten.

Hugenotten sind französische Protestanten, Anhänger des Genfer Reformators Johann Calvin (1509-1564). Die hugenottische Diaspora, das "Refuge", entstand aufgrund der Verfolgungen von Protestanten in Frankreich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in der Schweiz, den nördlichen Niederlanden und in England. Spätestens aufgrund des Edikts von Fontainebleau im Jahre 1685, als der französische König Ludwig XIV. das Friedensedikt von Nantes zurücknahm, siedelten sich französische Protestanten in weiteren Teilen Europas, Amerikas und Afrikas an. Von den insgesamt etwa 750.000 in Frankreich lebenden Hugenotten ließen sich nach 1685 ungefähr 150.000 bis 200.000 außerhalb Frankreichs nieder: in der Schweiz, in England, den Niederlanden, in Brandenburg-Preußen, Brandenburg-Bayreuth, Dänemark und Nordosteuropa, Irland, den englischen Kolonien in Nordamerika und in Südafrika.

Mit ihren nahezu globalen Netzwerken gehören die Hugenotten zu den wichtigsten frühneuzeitlichen Diasporen. Sie können, im Sinne des britischen Historikers Arnold J. Toynbee, als "Service agents" verstanden werden.(2) "Service agents" sind Migranten, die zwischen ihren Herkunfts- und Aufnahmeländern vermitteln und somit eine innovative Kraft darstellen. Gleichzeitig wird ihnen aber auch immer wieder eine Tendenz zur "Fossilierung" zugeschrieben, da sie Elemente einer Kultur zu bewahren suchen, die in ihrem Herkunftsland nicht mehr vorhanden sind.


Vom Handel zu Familiennetzwerken

Rechnungsbücher, Kirchenregister und Korrespondenzen von Kaufleuten in Boston, New York und Charleston sind aufschlussreiche Quellen für die atlantischen Netzwerke der Hugenotten. New Yorker Hugenotten wie Stephen de Lancey, Thomas Bayeux, Benjamin Faneuil und Gabriel Labyoteaux pflegten als Kaufleute im späteren 17. Jahrhundert intensive Beziehungen zu ihren Handelspartnern in Europa, meist ihren Brüdern und Cousins. Sie waren selbstverständlich Mitglieder der französisch-calvinistischen Kirche in New York, aber sie gehörten zugleich der anglikanischen Trinity Church an. Hier redeten sie mit Engländern über ihre Geschäfte, auch wenn sie Anglikaner eigentlich als "zu laue" Calvinisten bezeichneten. Ebenso engagierten sich hugenottische Kaufleute in New York in der lokalen Verwaltung der Stadt.

In Charleston, an der Küste von South Carolina, ließen sich ab den 1680er Jahren etliche hugenottische Kaufleute nieder, die bereits im "Refuge" - zumeist in der Londoner hugenottischen Diaspora - geboren worden waren. Sie sprachen neben Französisch auch Englisch, waren Mitglieder der französisch-calvinistischen und der anglikanischen Kirche in Charleston, heirateten aber noch innerhalb ihrer eigenen ethnisch-religiösen Gruppe. Erst die zweite Generation ehelichte auch Töchter aus englisch-anglikanischen Kaufmannskreisen - meistens aus Familien, mit denen sie vorher länger Handel betrieben hatten. Aus den nichtfamiliären Netzwerken, die in der Forschung als weak ties bezeichnet werden, wurden so durch Heirat strong ties: Familiennetzwerke.


Transatlantische Netzwerke der sephardischen Juden

Eine weitere für die Frühe Neuzeit bedeutende Diaspora bildeten die aus Spanien und Portugal vertriebenen sephardischen Juden. Sie waren ein entscheidender Motor für den Zuckerhandel und den Aufbau von Zuckerrohrplantagen in der Karibik. Zudem waren sie - wie auch Engländer und Niederländer - am Sklavenhandel beteiligt, für den sie ihre Niederlassungen in Marokko und ihre Beziehungen nach Angola nutzten. Sepharden verbanden durch ihre globalen Netzwerke Regionen und Produzenten. Neue Konsumgewohnheiten in Europa, in denen Zucker eine wichtige Rolle spielte, aber auch Tabak, Reis, Indigo, später Kaffee und Tee, wurden weitgehend durch sephardische Netzwerke stimuliert. So entstanden neue transatlantische Märkte für bislang in Europa unbekannte Produkte.(3) Aus diesen Märkten wurden sephardische Kaufleute ab den 1680er Jahren jedoch von den expandierenden Netzwerken der Hugenotten verdrängt.


Diasporen als Impulsgeber für transkulturelle Prozesse

Erfolgreicher Handel in der Frühen Neuzeit war immer auf Kontakte und Beziehungen angewiesen, die aus der Gemeinschaft der Diaspora herausführten. Denn für jede Diaspora galt, dass sie auf bestimmte Rohstoffe oder Produkte keinen unmittelbaren Zugriff hatte und daher auf die Expertise anderer ethnisch-religiöser Handelsgruppen angewiesen war. Die Etablierung von weak ties zwischen so unterschiedlichen ethnisch-religiösen Gruppen wie französischen Calvinisten, englischen Anglikanern, sephardischen und ashkenazischen Juden, die in vielen Fällen durch Heirat oder Patenschaften - also durch strong ties - gestärkt wurden, war nur möglich, weil ethnische und religiöse Vorurteile und Stereotypen zumindest teilweise überwunden wurden. Dadurch näherten sich unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen einander an.

Neben diesen als Transkulturation verstandenen Prozessen gab es innerhalb frühneuzeitlicher Diasporagemeinschaften aber auch permanent den Versuch, die eigene religiös-ethnische Identität zu bewahren und gegenüber Integration und Assimilierung abzuschirmen. Diese Phänomene lassen sich auch innerhalb der hugenottischen Kaufmannsdiasporen in Nordamerika nachweisen. In der Frühen Neuzeit sind Prozesse der Akkulturation und Integration, aber auch der Exklusion und Abgrenzung einander ergänzende Bestandteile jeder Diaspora. Sieht man genauer hin, wird deutlich: Insofern eine Diasporagemeinschaft sich nach außen abgrenzt, konserviert sie nicht einfach vergangene Elemente der Ausgangskultur. Vielmehr reagiert sie damit auf bereits fortgeschrittene Transkulturationsprozesse, so dass auch die Exklusion ein Element des Neuen enthält. Die These von einer künstlichen "Fossilierung" greift deshalb zu kurz. Dass alle diese Prozesse zu Spannungen mit Mehrheitsgesellschaften oder anderen ethnischen und religiösen Gruppen führen konnten, dafür gibt es in der Frühen Neuzeit ebenso Belege wie für ein erfolgreiches Leben in zwei oder mehr ethnisch-religiösen Gemeinschaften gleichzeitig.


DIE AUTORIN

Prof. Dr. Susanne Lachenicht hat den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bayreuth inne. Sie ist Gründerin und Mitglied im Leitungsgremium der internationalen Summer Academy of Atlantic History (SAAH) und Mitherausgeberin von Oxford Bibliographies: Atlantic History.


ANMERKUNGEN

(1) Prof. Dr. Myriam Yardeni war seit den 1970er Jahren als Professorin für Geschichte an der Universität Haifa tätig, wo sie das Institut d'histoire et de civilisation françaises und die School of History gründete. Am 8. Mai 2015 ist die international hochangesehene Historikerin gestorben.

(2) Arnold J. Toynbee, A Study of History. Abridgment of vols. 7-10 by David Churchill Somervell. London 1957, S. 217.

(3) Mitteleuropäische Textilien, wie oldenburgisches oder schlesisches Leinen, wurden nicht zuletzt über sephardische Netzwerke in die Karibik verhandelt, um dort die aus Westafrika stammenden Sklaven zu kleiden - so Studien von Jonathan I. Israel (Princeton), Daviken Studnicki-Gizbert (McGill University) und Francesca Trivellato (Yale).


LITERATURHINWEISE

- Susanne Lachenicht (Hg.):
Europeans Engaging the Atlantic. Knowledge and Trade, 1500-1800.
Frankfurt/Main, New York, Chicago 2014.

- Susanne Lachenicht:
Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit.
Frankfurt/Main, New York 2010.

- Susanne Lachenicht und Kirsten Heinsohn (Hg.):
Diaspora Identities. Exile, Nationalism and Cosmopolitanism in Past and Present.
Frankfurt/Main, New York, Chicago 2009.

Derzeit arbeitet die Bayreuther Historikerin an einem Buchprojekt zum Thema "Huguenot Networks in Maritime Worlds".


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Die Amischen sind eine christliche Diaspora in den USA und Kanada, ihre Wurzeln liegen in der reformatorischen Täuferbewegung Mitteleuropas. Sie betreiben auch heute noch, wie hier in Pennsylvania, eine an Traditionen orientierte Landwirtschaft und haben nur wenige technische Neuerungen übernommen.

Abb. 2: "Chinatown" in New York, hier bei der Feier des chinesischen Neujahrsfestes, ist ein Beispiel für eine moderne trade diaspora

Abb. 3: Das Hugenottenkreuz.

Abb. 4: Insbesondere nach der Rücknahme des Edikts von Nantes im Jahre 1685 wurden viele Hugenotten in Frankreich verfolgt und ermordet.

Abb. 5: Die bis heute erhaltene Hugenotten-Kirche in Charleston in South Carolina.

Abb. 6: Die Portugiesische Synagoge in Amsterdam, um 1680 von Emanuel de Witte gemalt, ist bis heute ein Zentrum der sephardischen Juden in Europa (Ölgemälde im Rijksmuseum Amsterdam).

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juni 2015, Seite 6-9
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 56, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
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Internet: www.uni-bayreuth.de
 
"SPEKTRUM" erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2015

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