Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → FAKTEN

BERICHT/033: Perspektiven der Geisteswissenschaften (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum 1/07 - Universität Bayreuth

Perspektiven der Geisteswissenschaften

Interview mit Professor Dr. Gerhard Wolf, Dekan der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth, zum "Jahr der Geisteswissenschaften"


Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die Initiative "Wissenschaft im Dialog" und weitere Partner aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur haben das Jahr 2007 zum "Jahr der Geisteswissenschaften "ausgerufen. Mit Professor Dr. Gerhard Wolf, Lehrstuhlinhaber für Ältere Deutsche Philologie, sprach darüber Christian Wißler, Hochschulmarketing der Universität Bayreuth.


*


WIßLER: Herr Professor Wolf, am 1. Januar 2007 beginnt in Deutschland das "Jahr der Geisteswissenschaften". Die Reihe der Wissenschaftsjahre, die im Jahr 2000 mit dem "Jahr der Physik" begann, ist mittlerweile schon eine Tradition. Sie zielt darauf ab, Themen, Ergebnisse und Methoden verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen im Rahmen besonderer Veranstaltungen in die Öffentlichkeit zu tragen und so den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu fördern. Bisher hatten diese Wissenschaftsjahre ein naturwissenschaftlich-technisches Profil, nun aber stehen zum ersten Mal die Geisteswissenschaften im Mittelpunkt. An den Planungen für 2007 ist unter anderem ein Koordinierungsausschuss des Philosophischen Fakultätentags beteiligt, dem Sie als stellvertretender Vorsitzender dieses bundesweiten Gremiums angehören. Im allgemeinen Verständnis umfasst der Begriff "Geisteswissenschaften" eine Vielzahl von Disziplinen angefangen von den Geschichtswissenschaften über die linguistisch oder literaturwissenschaftlich orientierten Philologien bis hin zu den Medienwissenschaften. Ist es aus Ihrer Sicht vorteilhaft, diese unterschiedlichen Disziplinen in einem einzigen Wissenschaftsjahr zu bündeln?

PROF. DR. WOLF: Ja, denn so eröffnet sich die Chance, der Öffentlichkeit einmal das gesamte Spektrum der Geisteswissenschaften vorzustellen. Wir haben es dabei ja nicht mit einer diffusen, unübersichtlichen Ansammlung von Fächern zu tun, sondern mit einer klar strukturierten Vielfalt von Einzeldisziplinen, von denen jede ihren spezifischen Gegenstandsbereich und ein unverwechselbares Profil hat. Das BMBF und seine Partnerorganisationen haben sich deshalb zu Recht dafür entschieden, diese vielfältige Wissenschaftslandschaft zum Thema des kommenden Wissenschaftsjahres zu machen.

Darin liegt insbesondere eine Chance für die sogenannten "kleinen" Fächer, wie etwa die Orientalistik, die Ägyptologie, die Afrikanistik oder die Japanologie. Sie leisten an den deutschen Hochschulen eine ausgezeichnete Forschungsarbeit. Das "Jahr der Geisteswissenschaften" kann der Öffentlichkeit und der Wissenschaftspolitik bewusst machen, was zu oft übersehen wird - dass Deutschland in diesen kleinen Disziplinen über exzellente, international hochgeschätzte Kompetenzen verfügt, die sich über alle Bundesländer hinweg auf eine Vielzahl von Hochschulen verteilen. Selbst in den USA ist keine derartige Breite zu finden. Hinzu kommt, dass die Bedeutung dieser Fächer, die häufig noch als "Orchideenfächer" gelten, ständig wächst. Der internationale Arbeitsmarkt verlangt zunehmend nach Hochschulabsolventen, die vertiefte Fachkenntnisse im Bereich außereuropäischer Sprachen und Kulturen mitbringen. Insofern haben Fächer wie die Sinologie oder die Afrikanistik nicht zu unterschätzende Entwicklungspotenziale. Dies gilt natürlich auch für die sog. großen Fächer - wie etwa die Geschichtswissenschaft oder die Germanistik -, die international einen sehr guten Ruf genießen und viele ausländische Studenten nach Deutschland bringen.

Die Bündelung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen in einem einzigen Wissenschaftsjahr hat aber noch einen weiteren Vorteil: Nur auf diese Weise werden die Synergieeffekte sichtbar, die entstehen, wenn die einzelnen Fächer die Grenzen ihrer tradierten Arbeitsbereiche überschreiten. Die Universität Bayreuth bietet hervorragende Beispiele dafür, wie neue Forschungsrichtungen aus fächer- und sogar fakultätsübergreifenden Kooperationen hervorgehen. Wenn es im Jahr 2007 gelingt, die Dynamik und die wissenschaftspolitische Bedeutung solcher Vernetzungen bewusst zu machen, können spätere Wissenschaftsjahre darauf aufbauen und sich gezielt einzelnen geisteswissenschaftlichen Fächern zuwenden.

WIßLER: Insbesondere im deutschen Bildungsraum hat es in den vergangenen Jahrzehnten Versuche einflussreicher Autoren gegeben, den Geisteswissenschaften - in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften - ein spezifisches wissenschaftstheoretisches Fundament zu verschaffen. Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer wollten mithilfe eines Gegensatzes von "Erklären" und "Verstehen" den Geisteswissenschaften eine von den Naturwissenschaften prinzipiell verschiedene hermeneutische Methodik zuschreiben. Jürgen Habermas entwickelte den vieldiskutierten Vorschlag, die Geisteswissenschaften in einem "handlungsorientierenden Interesse" an intersubjektiver Kommunikation zu verankern. Odo Marquard wiederum sah die Funktion der Geisteswissenschaften darin, individuelle und gesellschaftliche Sinnverluste zu kompensieren, die im Zuge naturwissenschaftlich-technischer Modernisierungsprozesse unvermeidlich auftreten. So unterschiedlich diese theoretischen Ansätze waren, so schien ihnen doch das Bestreben gemeinsam zu sein, angesichts der zivilisationsprägenden Bedeutung der Natur- und Technikwissenschaften eine spezifische Legitimität der Geisteswissenschaften zu begründen. Wie ist die Situation heute? Besteht in der "academic community" noch Interesse an derartigen wissenschaftsphilosophischen Grundlegungsversuchen?

PROF. DR. WOLF: Die Vorstellung, die Geisteswissenschaften könnten in den westlichen Industrienationen die Rolle von Kompensations- oder Orientierungswissenschaften übernehmen, ist zweifellos passe. Zumindest in der wissenschaftlichen Fachwelt besteht heute Einigkeit darüber, dass die Geisteswissenschaften sich selbst überfordern würden, wenn sie versuchen wollten, der Gesellschaft kulturelle Leitbilder oder ethische Wertorientierungen zu vermitteln. Dies ist eindeutig nicht ihre Aufgabe. Gleichwohl ist die Frage nach den besonderen Leistungen und gesellschaftlichen Funktionen der Geisteswissenschaften nach wie vor aktuell. Neue, originelle Diskussionsbeiträge treiben die Diskussion voran.

Besonderes Interesse findet heute der Ansatz, die Geisteswissenschaften als beobachtende Wissenschaften zu definieren. Demnach haben sie die Funktion, wesentliche Bereiche einer Gesellschaft in methodisch bewusster Weise zu beobachten und zu beschreiben. Sie untersuchen deren Sprache, künstlerische Produktionen, ästhetische Wertvorstellungen, kulturelle und religiöse Überlieferungen, real- und ideengeschichtliche Entwicklungslinien sowohl in ihrem synchronen Zusammenhang als auch in ihrer historischen Dimension. Dazu gehört - um ein aktuelles Beispiel herauszugreifen - etwa die Frage, ob es heute in den westlichen Ländern Werte und Orientierungsmuster gibt, die im Bewusstsein der Menschen so stark verwurzelt sind, dass sie für die Gesellschaft eine identitätsstiftende Funktion haben. Oder denken wir an die Diskussionen über die deutsche "Leitkultur" oder über die Frage, ob es in Deutschland patriotische Orientierungen gibt, die weiter reichen als die Begeisterung, die wir im Sommer 2006 während der Fußballweltmeisterschaft erlebt haben.

Indem die Geisteswissenschaften gegenüber der Gesellschaft als 'Beobachtungswissenschaften' auftreten, sind sie in der Lage, zur begrifflichen und sachlichen Klärung derartiger Fragen beizutragen. Sie können Orientierungsdefizite und Modernisierungsbrüche, aber auch fortwirkende Traditionsbestände erkennen und analysieren. Dabei verzichten sie bewusst auf den Anspruch, normative Vorgaben zu entwickeln. Ihre besondere Leistung besteht vielmehr darin, eine Gesellschaft über deren eigene Verfasstheit aufzuklären, ja mehr noch: die Selbstreflexion der Gesellschaft zu fördern und kritisch zu begleiten. Denn eine Gesellschaft, die in Bezug auf sich selbst erblindet, wird nicht nur dumm, sondern auch verführbar. Und sie wird unfähig zum Dialog mit fremden Kulturen und Religionen, der im Zeitalter der Globalisierung eine geradezu existenzielle Bedeutung gewinnt.

WIßLER: Damit sprechen Sie ein hochaktuelles Thema an. Weltweit wird heute aus politischen wie aus wirtschaftlichen Gründen - ein breit angelegter nachhaltiger Dialog der Kulturen und Religionen untereinander gefordert. Die Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften befassen sich verstärkt mit Fragen des kulturellen Gedächtnisses, des Kulturtransfers und des interkulturellen Dialogs. Wie bewerten Sie angesichts dieser Entwicklungen das Verhältnis zwischen der geisteswissenschaftlichen Forschung einerseits und den Erwartungen andererseits, die aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an sie herangetragen werden? Inwieweit gehen die zunehmend intensiv geführten Diskussionen zu Fragen der Interkulturalität aus der Wissenschaft selbst hervor; und wie stark ist demgegenüber der Einfluss externer politischer und gesellschaftlicher Erwartungen? An diesem Punkt ist letztlich auch die Autonomie der Geisteswissenschaften berührt ...

PROF. DR. WOLF: Ich denke, dass intrinsische Motivationen der Geisteswissenschaften und äußere Einflüsse konvergieren, wenn sich heute eine wachsende Zahl von Forschungsprojekten mit interkulturellen Prozessen und Fragen kultureller Identität auseinandersetzt. In den letzten Jahrzehnten ist immer deutlicher geworden, dass viele literarische Werke oder sprachliche Phänomene sich dem wissenschaftlichen Verständnis umso mehr erschließen, je genauer man sie im Zusammenhang mit Fragen des Kulturvergleichs und des Kulturtransfers betrachtet. Zudem sehen sich die Geisteswissenschaften dazu herausgefordert, die eigenen Arbeitsweisen und Kommunikationsformen unter dem Aspekt der Globalisierung zu reflektieren. In diesem Bereich gibt es schon viele internationale studentische Initiativen.

Studierende der Germanistik aus Bayreuth, der chinesischen Partneruniversität Qingdao und der University of Hamilton in Neuseeland treffen sich regelmäßig in trinationalen Workshops, um über Fragen der interkulturellen Wissenschaftskommunikation zu diskutieren. Zugleich liegt es auf der Hand, dass Probleme im Verhältnis der Kulturen und Religionen immer stärker ins öffentliche Bewusstsein dringen und die nationale wie internationale Politik wesentlich beeinflussen. Bei der Suche nach tragfähigen Konzepten ist deshalb zunehmend die Expertise der Wissenschaftler gefragt.

Deren Autonomie sehe ich dadurch nicht gefährdet. Zweifellos müssen die Geisteswissenschaften frei sein, kraft eigener Kompetenz Verfahren für die Gewinnung und Überprüfung von Erkenntnissen zu definieren und ihre jeweiligen Forschungsinteressen aus sich selbst heraus zu entfalten. Ließen sie sich ausschließlich von gesellschaftlichen Erwartungen leiten, würden sie im Feuilleton enden. Vollständige Autonomie ist meiner Überzeugung nach aber ebensowenig erstrebenswert. Die Wissenschaften dürfen sich nicht auf ein steriles Dasein im Elfenbeinturm zurückziehen. Sie müssen im eigenen Interesse offen sein für Probleme und Erwartungshaltungen, denen sie in der Gesellschaft begegnen. Indem sich die Wissenschaften mit ihren spezifischen Kompetenzen an der Suche nach Lösungen beteiligen, geraten sie nicht etwa auf Abwege, sondern bringen den eigenen Erkenntnisfortschritt voran. Das gilt gerade für den vieldiskutierten Dialog der Kulturen.

WIßLER: Welchen Einfluss haben diese Entwicklungen auf die Lehre? Damit die Absolventen geisteswissenschaftlicher Studiengänge auch in Zukunft Chancen auf dem internationalen Arbeitsmarkt haben, müssen sie Fachkenntnisse und am besten auch persönliche Erfahrungen im Bereich interkultureller Prozesse mitbringen. Wie es scheint haben sich die Studierenden der sprach-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Fächer also auf wachsende Leistungsanforderungen einzustellen. Es reicht immer weniger aus, wenn sie sich ausschließlich einer einzigen philologischen Disziplin widmen; sie sollten sich möglichst frühzeitig mit weiteren - auch außereuropäischen - Sprachen, Literaturen und Kulturen befassen ...

PROF. DR. WOLF: Ja, ein Beispiel dafür sind die neuen sprach- und literaturwissenschaftlichen Master-Studiengänge in Bayreuth. Mit ihrem interdisziplinären Profil erweitern sie den Horizont der Studierenden über das Gebiet einer einzelnen Fachdisziplin hinaus. Dabei fördern sie insbesondere die Sensibilität für Phänomene, die im Zusammentreffen unterschiedlicher Sprachen und Kulturen begründet sind. Unsere Bachelor-Programme bieten den Studierenden die Gelegenheit, ihre fachlichen Kompetenzen in diese Richtung weiter zu entwickeln. Es ist daher richtig, dass die Leistungsstandards der geisteswissenschaftlichen Studiengänge gerade in dieser Hinsicht gestiegen sind. Früher haben sich manche Abiturienten vielleicht auch deshalb für ein sprach- oder literaturwissenschaftliches Fach entschieden, weil sie den Schwierigkeiten eines naturwissenschaftlichen Studiums ausweichen wollten. Eine solche Einstellung wäre heute entschieden verfehlt. Die Bayreuther Bachelor- und Master-Studiengänge in den Geisteswissenschaften verlangen vom ersten Semester an ein hohes Arbeitspensum, das nicht unterschätzt werden sollte.

WIßLER: In einigen dieser Bachelor-Programme wählen die Studierenden - in Ergänzung zu einem Kernfach - ein Kombinationsfach wie Angewandte Informatik, Wirtschaftswissenschaften oder Rechtswissenschaft, das in besonderer Weise auf die berufliche Praxis zugeschnitten ist. Zusätzliche Module vermitteln allgemeine Schlüsselqualifikationen. Sehen Sie an diesem Punkt ein Spannungsverhältnis zwischen der vertieften, soliden Ausbildung in einer geisteswissenschaftlichen Kerndisziplin und der Vermittlung weiterer Kompetenzen, die auf die Berufsfähigkeit der Absolventen abzielt?

PROF. DR. WOLF: Zunächst einmal können diese zusätzlichen Studienbereiche einen wertvollen Beitrag zur beruflichen Orientierung leisten. Sie regen die Studierenden dazu an, fachliche Kompetenzen mit künftigen Tätigkeitsbereichen zu verknüpfen und ihre Eignung für bestimmte Berufsfelder zu erproben. Die herkömmlichen Magister-Studiengänge mit ihrem rein fachwissenschaftlichen Profil waren in dieser Hinsicht sicher unzureichend. Gleichwohl müssen wir darauf achten, dass die Ausbildung in der geisteswissenschaftlichen Kerndisziplin und die berufsbezogenen Zusatzmodule richtig ausbalanciert sind. Unseren Studierenden wäre ja nicht damit geholfen, wenn sie auf dem europäischen Arbeitsmarkt mit gleichaltrigen Absolventen konkurrieren müssten, die eine deutlich höhere Fachkompetenz vorweisen können. Zudem wird in den Diskussionen über eine berufsnahe Neugestaltung von Studiengängen gelegentlich übersehen, welche große Bedeutung das Persönlichkeitsbild bei der Auswahl von Bewerbern hat. Eigenschaften wie sprachliche Ausdrucksfähigkeit, kulturelle Empathie, Klarheit im Denken und Reden sind aus Sicht vieler Arbeitgeber mindestens ebenso wichtig wie praxisbezogene Kenntnisse und Fertigkeiten, die im Rahmen eines "training on the job" vermittelt werden können. Derartige berufsbefähigende Persönlichkeitsmerkmale werden durch den intensiven, methodisch gesteuerten Umgang mit Sprache, Literatur und Kultur wesentlich gefördert.

WIßLER: Das BMBF betont auf seinen Internet-Seiten, dass das Thema "Sprache" im Zentrum des "Jahres der Geisteswissenschaften 2007" stehen wird. Der wissenschaftliche Umgang mit Sprache, mit Texten, mit Büchern gilt traditionellerweise als das Kerngeschäft der philologischen Disziplinen - angefangen von der historisch-kritischen Textedition bis hin zur linguistischen Gesprächsanalyse. In den letzten Jahrzehnten haben die philologischen Fächer den Horizont ihrer wissenschaftlichen Arbeitsgebiete ständig erweitert, also auch Fragen etwa der Alltagssoziologie oder der Medienwissenschaften in ihre Untersuchungen einbezogen. Zeitgleich haben sich an zahlreichen Hochschulen die Kommunikationswissenschaften, die Medienwissenschaften und die Kulturwissenschaften als Forschungs- und Lehrbereiche etabliert, die sich - von unterschiedlichen Forschungsstandpunkten gleichfalls mit den Ausdrucksformen und Manifestationen von Sprache befassen. Werden sie derart an Bedeutung gewinnen, dass sie die Geisteswissenschaften eines Tages dominieren? Oder können sich die traditionellen Einzelphilologien auch in Zukunft als separate Disziplinen mit eigenem Profil und eigenem Gewicht behaupten?

PROF. DR. WOLF: Ja, dessen bin ich mir sehr sicher. Die geisteswissenschaftlichen Fachdisziplinen werden in ihrer strukturierten Vielfalt, von der ich eingangs sprach, auch weiterhin das Fundament geisteswissenschaftlicher Forschung und Lehre bilden. Kommunikations- und Medienwissenschaften haben aus meiner Sicht eine eher ergänzende Funktion. Aus ihren übergreifenden Perspektiven können sie der fachbezogenen Forschung in thematischer und methodischer Hinsicht interessante Impulse geben. Damit die Einzeldisziplinen ihre grundlegende Bedeutung bewahren, müssen sie allerdings gezielt über ihre fachspezifischen Grenzen hinausgehen. Der Schlüssel für ihre produktive Weiterentwicklung liegt in der Transdisziplinarität. Damit ist gemeint, dass eine Fachdisziplin sich in doppelter Hinsicht öffnet: einerseits in Richtung auf andere Fachwissenschaften, andererseits gegenüber der Gesellschaft. Solche methodisch bewussten Selbstüberschreitungen bewirken keineswegs einen Profilverlust, denn die jeweilige Fachdisziplin bleibt Ausgangs- und Bezugspunkt aller wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen. Darin liegt der Unterschied zur Interdisziplinarität, die dadurch charakterisiert ist, dass aus der Kooperation mehrerer Fachdisziplinen ein eigenständiges Novum, beispielsweise ein neuer Forschungszweig, hervorgeht. Insofern handelt es sich bei der Interdisziplinarität um eine besonders avancierte Form der Zusammenarbeit. Transdisziplinäre Aktivitäten treiben den wissenschaftlichen Fortschritt gleichfalls voran, sind aber insofern konservativ, als das geordnete Spektrum der Einzeldisziplinen erhalten bleibt.

WIßLER: Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund noch einmal einen Blick auf die Geisteswissenschaften an der Universität Bayreuth werfen. Die Schwerpunkte "Kulturvergleich und interkulturelle Prozesse" und "Afrika-Studien" haben sich hier zu international angesehenen Kristallisationspunkten für Forschung und Lehre entwickelt. Im Zuge des Bologna-Prozesses sind interdisziplinär angelegte Bachelor- und Masterprogramme eingerichtet worden, die teilweise ein bundesweit einzigartiges Profil aufweisen. Vor kurzem hat die Universität Bayreuth ihre erste Graduate School eröffnet, die unter dem Leitthema "Mitteleuropa und angelsächsische Welt 1300 - 2000" ein Master- und ein Promotionsstudium auf neuartige Weise verzahnt. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Akzente der weiteren Entwicklung?

PROF. DR. WOLF: Wir wollen die von Ihnen genannten fächer- und fakultätsübergreifenden Schwerpunkte, die das Profil der Bayreuther Geisteswissenschaften erfolgreich prägen, weiterhin ausbauen. Diese Schwerpunkte haben einen entscheidenden Anteil am hohen Grad der internationalen Vernetzung von Forschung und Lehre, sie machen einen Studienaufenthalt in Bayreuth gerade auch für ausländische Gastwissenschaftler und Studierende attraktiv. Das von DFG und DAAD geförderte Promotionsprogramm "Kulturbegegnungen - Cultural Encounters - Rencontres Culturelles" hat eine Reihe sehr interessanter Dissertationsvorhaben angeregt, wir wollen es in den nächsten Jahren intensiv weiterentwickeln.

Zudem werden wir neue forschungsorientierte Master-Programme auf den Weg bringen. Vom Bayerischen Wissenschaftsministerium haben wir bereits die Zustimmung zu den Master-Studiengängen "Interkulturelle Germanistik" und "Literatur im kulturellen Kontext" erhalten.

Interessante Kooperationen in Forschung und Lehre bahnen sich derzeit zwischen den Medien- und den Naturwissenschaften sowie zwischen den Kultur- und den Umweltwissenschaften an. Ein besonderer Akzent wird dabei voraussichtlich auch auf Fragestellungen im Bereich der Wissenschaftskommunikation liegen.

Darüber hinaus bestehen konkrete Überlegungen, das vielversprechende Konzept der neuen Graduate School "Mitteleuropa und angelsächsische Weit 1300 - 2000" auf weitere geisteswissenschaftliche Bereiche zu übertragen.

WIßLER: Das "Jahr der Geisteswissenschaften 2007" soll, wie eingangs bemerkt, das öffentliche Interesse für Themen, Ergebnisse und Methoden der Geisteswissenschaften verstärken und insbesondere den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft fördern. Dazu werden, wie schon in den vorangegangenen Jahren, in zahlreichen deutschen Städten besondere Veranstaltungen organisiert, die sich an ein breites Publikum wenden. In welcher Form beteiligt sich die Universität Bayreuth daran?

PROF. DR. WOLF: Es hat sich eine Arbeitsgruppe gebildet, die Lesungen, Präsentationen und öffentliche Diskussionen vorbereitet - sei es auf dem Universitätscampus oder im Stadtzentrum. Ich selbst werde in Berlin präsent sein und dort eine Podiumsdiskussion über die Beziehungen zwischen den Geisteswissenschaften und der Wirtschaft leiten. Meine Bayreuther Kolleginnen und Kollegen und ich wollen die Forschungskompetenzen unserer beiden Fakultäten offensiv in den Dialog mit der Öffentlichkeit einbringen. Im Leitbild unserer Universität heißt es: "Die Universität Bayreuth versteht sich als Dienstleister für Gesellschaft, Wirtschaft und Region." Diesem Anspruch sehen wir uns im "Jahr der Geisteswissenschaften" ganz besonders verpflichtet.


*


Quelle:
spektrum 1/07, Seite 5-9
Herausgeber: Der Präsident der Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Tel.: 0921/55-53 23, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de

"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2007