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BERICHT/029: Geisteswissenschaften in den Medien (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 22/2007 - Forum der Universität Tübingen April 2007

Es wird Zeit, Brücken zu bauen

Von Wolfgang Borgmann


Die Medien wurden seit den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts von einem wahren Boom der Technik und Naturwissenschaften erfasst. Eigene (Natur-) Wissenschaftsredaktionen bildeten sich allerorten heraus - häufig auf Kosten der geisteswissenschaftlichen Berichterstattung. Doch auch die naturwissenschaftliche Erkenntnis kann nicht nur für sich alleine stehen. Jetzt ist es an der Zeit, auch in den Medien die Geisteswissenschaften wieder stärker wahrzunehmen.


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Friedrich Weigend-Abendroth war der Geisteswissenschaftler in Person, ein rundum gebildeter Mann von barocker Fülle, der geistige Horizonte und Epochen abschreiten konnte wie kein anderer in der Redaktion. Als er vor mehr als zwei Jahrzehnten beim Verlassen der Zeitung, wie immer eilenden Schrittes, von einem Auto erfasst wurde und starb, ging damit auch die Epoche der Geisteswissenschaften in der Stuttgarter Zeitung in dieser Form zu Ende. Die auf so schreckliche Weise frei gewordene Stelle für Geisteswissenschaften wurde in eine solche für Naturwissenschaften umgewidmet. Im Zeichen zunehmender Bedeutung der anwendungsnahen Forschung für das wirtschaftliche Wohlergehen, aber auch im zeitlichen Zusammenhang mit Tschernobyl, schien das eine angemessene Wahl zu sein.

Nicht nur bei der Stuttgarter Zeitung zeichnete sich in den 80er-Jahren die Wende von den Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften ab, folgten auf Einzelkämpfer die ersten Wissenschaftsredaktionen und die Versuche, die Berichterstattung über naturwissenschaftlich-technische Themen nicht nur auf Spezialseiten zu etablieren, sondern im ganzen Blatt auszuweiten und sie aktuell anzubinden. So gewann zum Beispiel die Klimaforschung angesichts der heraufziehenden Erderwärmung zunehmende mediale Bedeutung. Die Explosion des Kernreaktors in Tschernobyl markierte den entscheidenden Wendepunkt, als die Ratlosigkeit über die Folgen der atomaren Wolke den Erklärungsbedarf plötzlich ins Unermessliche wachsen ließ. Das war, nicht nur bei der Stuttgarter Zeitung, die eigentliche Geburtsstunde einer Wissenschaftsredaktion. Dadurch wurden geisteswissenschaftliche Themen allmählich zurückgedrängt. Einen besonders sichtbaren Höhepunkt dieser Wandlung präsentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihren überraschten Lesern, als sie das Feuilleton für die seitenweise Abbildung der eben erst entzifferten Bausteine des menschlichen Genoms frei räumte.

Wie manches, so hat auch der mediale Triumph der Naturwissenschaften eine Vorgeschichte. Denn lange Zeit hatten geistes- und sozialwissenschaftliche Themen vor allem im Feuilleton und in den Wochenendbeilagen, gelegentlich aber auch in der Politik ihren prominenten Platz. So galt es nach und nach, vor allem mit dem Siegeszug der Biochemie, den zunehmend wichtiger werdenden naturwissenschaftlichen Themen einen angemessenen Raum zu verschaffen, nicht unbedingt zur Freude klassischer Ressorts. Bald folgten die ersten Spezialseiten, schließlich der Aufbau ganzer Redaktionen und die Ausweitung der Berichterstattung über das ganze Blatt hinweg. Einher ging damit das Aufkommen zahlreicher populär gemachter und zum Teil recht erfolgreicher Fernsehsendungen, aber auch neuer Wissenschaftsmagazine.

Als Nachklang dieser Gründerwelle ist es in den vergangenen Jahren zur Etablierung der ersten Lehrstühle für Wissenschaftsjournalismus an den Universitäten gekommen, zunächst in Dortmund, dann an der FH Darmstadt. Dabei leisteten große Stiftungen wie die von Bertelsmann und Volkswagen zum Teil finanzielle Unterstützung und starteten selbst so genannte Qualifizierungskampagnen für Journalisten und journalistisch interessierte Naturwissenschaftler. Es ist sicher kein Zufall, dass diese Studiengänge in den Zweitfächern schwerpunktmäßig naturwissenschaftlich ausgerichtet sind und dass die beiden genannten Hochschulen stark naturwissenschaftlich-technisch orientiert sind. Jedoch betont der Journalist und Chemiker Holger Wormer, der in Dortmund innerhalb des Studiengangs Journalismus den Wissenschaftsjournalismus vertritt, die "Brückenfunktion" des noch jungen Faches zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Welten. Auch ist dieser Ausbildungsgang in Dortmund bei den Kulturwissenschaften angesiedelt.


Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis

Anders als in stark anwendungsorientierten Fächern tätige Naturwissenschaftler können Geisteswissenschaftler nicht von vornherein damit rechnen, dass ihre Forschungen öffentlich Beachtung finden. Man denke zum Beispiel an den medialen Siegeszug der Nanotechnik. Aber wenn es zum Beispiel um gesellschaftliche Grund fragen wie Hirnforschung und Bewusstsein oder den Umgang mit embryonalen Stammzellen geht, werden sie Gehör finden, falls sie sich auf die naturwissenschaftlichen Ergebnisse und Grundlagen einlassen. Gerade bei der Hirnforschung sind zunehmend Berührungspunkte zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern zu beobachten. Je wichtiger die Naturwissenschaften für die Gesellschaft werden, desto deutlicher werden die Grenzen ihrer Erkenntnis- und Argumentationswelt. Um zu Werturteilen zu gelangen oder gesellschaftliche Interessenskonflikte lösen zu können, müssen die naturwissenschaftlichen Fortschritte im Lichte geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse betrachtet werden. Diese Entwicklungen sollten vermehrt auch in den Medien ihren Widerhall finden - was allerdings eine entsprechend breite Kompetenz in den Redaktionen voraussetzt.

Was ist zu tun? Knüpft man an die Frage der wissenschaftsjournalistischen Ausbildung an, so müsste gerade in diesem Bereich die Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften noch stärker mit bedacht und bei der Ausbildung im Fächerkanon berücksichtigt werden. Die Begriffe Wissenschaftsjournalismus und Wissenschaftsredaktion dürften heute nicht mehr von vornherein mit den Naturwissenschaften besetzt sein. Gerade der Wissenschaftsjournalismus hat eben nicht nur eine Brückenfunktion zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, sondern auch zwischen den verschiedenen Wissenschaftsbereichen. Allein die großen Themenbereiche Globalisierung und Klimawandel sind von so überragender und übergreifender Bedeutung, dass sie der Hilfe von Fächern wie zum Beispiel Politikwissenschaft, Soziologie oder Philosophie dringend bedürfen. Daneben werden - unabhängig von technischen oder naturwissenschaftlichen Fortschritten - zuweilen sehr schnell aus angeblichen Orchideenfächern gesellschaftliche Brennpunktfächer. Man denke nur an die aktuelle Bedeutung der Islamkunde für die Terrorismus-Diskussion. Auf diese Zusammenhänge immer wieder offensiv hinzuweisen, dazu könnte das "Jahr der Geisteswissenschaften" zumindest einen Anstoß geben.


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Dr. Wolfgang Borgmann war bis Ende des vergangenen Jahres Leiter der Wissenschaftsredaktion der Stuttgarter Zeitung. Er studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaft an der Universität, Hamburg und war für Stipendienaufenthalte an der London School of Economics and Political Science (LSE) und in Stanford. Außerdem war er an der Vorbereitung des Studiengangs Wissenschaftsjournalismus an der Universität Dortmund beteiligt.


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Quelle:
attempto!, April 2007, Seite 20-21
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attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2007