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PARTEIEN/405: Brexit - London steuert zusehends ein Vereinbarungscheitern an ... (SB)


Brexit - London steuert zusehends ein Vereinbarungscheitern an ...


Keine Regierung hat die Corona-Pandemie so schlecht bewältigt wie die des Vereinigten Königreichs. Premierminister Boris Johnson und sein Kabinett aus marktradikalen Tories haben eine Inkompetenz an den Tag gelegt, die nur durch die Arroganz und Selbstüberschätzung der britischen Oberschicht zu erklären ist. Offiziell verzeichnet man inzwischen in Großbritannien mehr als 40.000 Covid-19-Tote. Die tägliche Infektionsrate liegt immer noch im vierstelligen Bereich, und trotzdem hat Number 10 Downing Street Anfang Juni den Lockdown für weitgehend beendet erklärt. Wie wenig Vertrauen die britischen Bürger in die eigene Regierung setzen, zeigt der Umstand, daß sich Millionen von Eltern weigern, ihre Kinder zurück zur Schule zu schicken, weil ihnen die behördlichen Anti-Corona-Maßnahmen vollkommen ungenügend und nicht durchdacht erscheinen.

Die britische Wirtschaft droht von allen Industriestaaten die schwersten Einbußen infolge der Corona-Krise zu erleiden. Laut Schätzungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wird das Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 11,5 Prozent zurückgehen. Damit liegt das Vereinigte Königreich im negativen Sinne vor Frankreich (11,4%), Italien (11,3%), Spanien (11,1%), Rußland (8,0%), Brasilien (7,4%) den USA (7,3%), Deutschland (6,6%) und China (2,6%). Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen in Großbritannien, die sich für eine Verlängerung der Übergangsphase aussprechen, in der das Land noch an die EU-Regeln gebunden ist. Doch für derlei vernünftige Vorschläge zeigt sich die Johnson-Regierung taub.

Als vor einigen Tagen Carolyn Fairbairn, Vorsitzende der Confederation of British Industries (CBI), vergleichbar dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), gewarnt hat, die britischen Firmen seien unter anderem wegen der Corona-Krise auf die brexit-bedingten Umstellungen des Handels mit der EU ganz schlecht vorbereitet, weshalb London mit Brüssel eine Verlängerung der Übergangsphase, die am 31. Dezember ausläuft, vereinbaren sollte, stieß sie damit im Regierungsviertel Whitehall auf Unverständnis. Lediglich wegen der chaotischen Zustände bei den Behörden und der Notwendigkeit, 50.000 neue Zollbeamte einzustellen und entsprechend auszubilden, hat die Johnson-Regierung die Einführung der neuen Personen- und Warenkontrollen für sechs Monate bis Anfang Juli 2020 verschoben. Diese Regelung gilt jedoch nur für den Personen- und Warenverkehr zwischen Großbritannien und der EU. Die neuen Zollkontrollen zwischen Nordirland und dem Vereinigten Königreich, die verhindern sollen, daß zwischen Nordirland und der Republik Irland neue Grenzbefestigungen errichtet werden müßten, treten wie geplant am 1. Januar 2021 in Kraft.

Am 12. Juni haben Nicola Sturgeon, Premierministerin der Autonomieregierung Schottlands, und ihr walisischer Amtskollege Mark Drakeford in einem offenen Brief an Johnson auf die "schweren wirtschaftlichen Schäden" im Vereinigten Königreich infolge der Corona-Krise sowie auf die bislang fehlende Einigung zwischen Brüssel und London bei den Verhandlungen über die künftigen Beziehungen verwiesen und deshalb für eine Verlängerung der Übergangsphase, vielleicht um ein oder zwei Jahre über den 31. Dezember hinaus, plädiert. Dies nicht zu tun bringe die Gefahr eines ungeordneten oder No-Deal-Brexits mit katastrophalen Folgen für die britische Wirtschaft mit sich und wäre deshalb "außerordentlich leichtsinnig", so Sturgeon und Drakeford. Kaum war der aufsehenerregende Brief aus Edinburgh und Cardiff veröffentlicht worden, als der britische Vizepremierminister Michael Gove auch schon vor das Unterhaus in London trat, um zu verkünden, daß die Johnson-Regierung gedenkt, die Frist, innerhalb derer die Bitte um eine solche Verlängerung der Übergangsphase rechtlich möglich wäre - das heißt bis Ende Juni - ungenutzt verstreichen zu lassen.

Am 15. Juni kam es zu den ersten Konsultationen auf Spitzenebene zwischen London und Brüssel seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU am 31. Januar dieses Jahres. Per Videokonferenz versuchten Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Verhandlungen aus der Sackgasse zu führen, in die sich zuletzt der britische Chefunterhändler David Frost und der EU-Brexit-Beauftragte Michel Barnier hineinmanövriert hatten. Bei dem Gespräch ist nichts als heiße Luft herausgekommen. Großspurig wie eh und je meinte Johnson, er sehe keinen Grund, warum die Verhandlungen nicht bis Ende August abgeschlossen werden könnten. Auf britischer Seite habe niemand Lust, sie bis in den Herbst hinein zu verschleppen.

In Brüssel ließ man diesen Affront mit Haltung über sich ergehen. Aus Sicht der EU herrscht bei den Verhandlungen mit Großbritannien nur deshalb Stillstand, weil sich London plötzlich nicht mehr an das Austrittsabkommen gebunden fühlt, das Johnson Ende letzten Jahres mit Brüssel vereinbart hat. Im Withdrawal Agreement verpflichtete sich Großbritannien damals zur weitgehenden Einhaltung der Regeln des EU-Binnenmarkts. Doch nun behaupten Johnson, Gove et al, die Einhaltung einer solchen Verpflichtung würde Großbritannien daran hindern, seine Brexit-Ambitionen - die Wiedererlangung voller Souveränität, den Abschluß von Freihandelsvereinbarungen nach eigenem Gusto mit den Ländern Nord- und Südamerikas, Afrikas und Asiens - zu erfüllen und sei deshalb inakzeptabel. Bei den EU-27 wächst die Einsicht, London drohe aus ideologischen und innenpolitischen Gründen mit einem No-Deal-Brexit. Brüssel glaubt, im Besitz der besseren Karten zu sein, und läßt sich - notgedrungen - auf das Pokerspiel ein. Die kommenden Monate werden zeigen, wie weit Johnsons Konservative mit ihrem großen Bluff gehen werden und ob sie tatsächlich den ungeordneten EU-Austritt über sich ergehen lassen wollen.

16. Juni 2020


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