Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → REDAKTION


PARTEIEN/392: Brexit - Wahlgeschenke für Premierminister Johnson ... (SB)


Brexit - Wahlgeschenke für Premierminister Johnson ...


Die ersten zwei Wochen Wahlkampf im Vereinigten Königreich sind für die regierenden Konservativen um Boris Johnson alles andere als gut gelaufen. Unvorsichtige Äußerungen und Korruptionsvorwürfe haben den Wahlkampfauftakt der Tories regelrecht verhagelt. Laut Umfragen hat das chaotische, zum Teil hilflose Agieren von Johnson und Konsorten den Konservativen einen Zustimmungsverlust um rund vier Prozent beschert, was wiederum zu verkraften wäre, da die Tories bei der Parlamentsauflösung Ende Oktober mit mehr als zehn Prozent vor der sozialdemokratischen Opposition um Jeremy Corbyn lagen. An diesem Umstand dürfte sich bis zum Wahltag am 12. Dezember nicht allzuviel ändern, sind doch mächtige Institutionen und Personen bemüht, mit allen Mitteln, notfalls auch unlauteren, einen Sieg der Labour Party und einen Einzug des pazifistischen Palästinenser-Freunds und Atomwaffengegners Corbyn in Number 10 Downing Street zu verhindern.

Den ersten dicken Fauxpas leistete sich am 4. November Jacob Rees-Mogg, Leader of the House of Commons und Galionsfigur der EU-feindlichen European Research Group (ERG) innerhalb der konservativen Partei Großbritanniens, beim Interview mit einem Londoner Radiosender. Beim Thema des Feuerinfernos am Grenfell Tower, das am 14. Juni 72 Menschen das Leben kostete, meinte Rees-Mogg, dessen snobbistisches Verhalten ihm vor Jahren den Spitznamen "Parlamentsvertreter des 18. Jahrhunderts" eingebracht hat, er hätte seinen "gesunden Menschenverstand" benutzt, wäre dem expliziten Rat der Feuerwehrleitung an jenem Abend, den mehrstöckigen Wohnungskomplex nicht zu verlassen, nicht gefolgt, sondern geflohen und dadurch der Katastrophe entkommen. Viele Menschen haben dies als Beleidigung und Verhöhnung der Opfer, von denen nicht wenige bei der Flucht im Treppenhaus dem Rauch zum Opfer fielen, als hirnlose Proletarier empfunden. Nach zwei Tagen hat auch Rees-Mogg die negative Auswirkung seiner arroganten Wortwahl eingesehen und sich deswegen bei den Hinterbliebenen der Opfer wegen des ihnen dadurch zugefügten Leids entschuldigt.

Am 7. November war es Johnson, der bei einem Besuch in einer Kartoffelchipfabrik in Tandragee, in der nordirischen Grafschaft Armagh, regelrecht mit beiden Füßen ins Fettnäpfchen gesprungen ist. Die Anlage in Tandragee gehört der Firma Northern Tayto, die seit den fünziger Jahren die Produkte der südirischen Firma Tayto Crisps, der eigentlichen Erfinderin der gewürzten Kartoffelchips, im Vereinigten Königreich und Nordirland vertreibt und dadurch zum drittgrößten Produzenten von Knabberkram im Vereinigten Königreich geworden ist. Vor diesem Hintergrund war klar, daß Johnson bei dem Besuch in Tandragee nicht um eine Stellungnahme zu seinem Brexit-Deal mit der EU herumkommen würde, die bei den Brexit-Befürwortern in Nordirland, einer tendenziell protestantisch-probritischen Minderheit der Gesamtbevölkerung, heftige Kritik ausgelöst hat.

Die protestantische Democratic Unionist Party (DUP), deren zehn Unterhausabgeordnete ab 2017 die Minderheitsregierung von Johnsons konservativer Vorgängerin Theresa May gestützt hatten, wirft dem Premierminister vor, durch den mit Brüssel vereinbarten Verbleib Nordirlands in der Zollunion mit der EU die nordirischen Protestanten verraten und verkauft, sie der schleichenden Wiedervereinigung des Nordens der Insel Irland mit der Republik im Süden überantwortet zu haben. Vor Journalisten und versammelter Mannschaft in der Werkshalle von Northern Tayto lobte Johnson aus dem Stegreif das gefundene Arrangement für Nordirland derart in den höchsten Tönen, daß man sich wundern mußte, warum Großbritannien die EU verlassen solle, und bestritt zu guter Letzt kategorisch, daß es im künftigen Warenverkehr über die Irische See zu Zollformalitäten oder dem Ausfüllen irgendwelcher Formulare kommen werde. Über letztere Behauptung fielen Opposition und Medien her und warfen dem Tory-Chef vor, entweder die von ihm ausgehandelte Vereinbarung nicht verstanden oder den Menschen in Nordirland direkt ins Gesicht belogen zu haben.

Noch während alle auf Johnson wegen des desaströsen Auftritts in Tandragee eindroschen, erhielt am 9. November der Vorsitzende der Conservative Party Schützenhilfe von der Polizeiaufsichtsbehörde. An diesem Tag berichtete die Zeitung Observer, das Independent Office for Police Conduct (IOPC) habe beschlossen, die Entscheidung, ob Korruptionsermittlungen gegen Johnson wegen der Vergabe einer staatlichen Starthilfe an die amerikanische "Technologieunternehmerin" Jennifer Arcuri eröffnet werden sollten oder nicht, auf die Zeit nach der Unterhauswahl zu verschieben. Der Verdacht steht im Raum, Arcuri habe in den Nullerjahren mit dem damaligen Bürgermeister von London eine Liebesaffäre gehabt und deshalb trotz fehlender Qualifikationen Zuschüsse für ihre Eine-Frau-Veranstaltungfirma im Wert von rund 150.000 Euro einstreichen sowie Johnson bei drei Handelsreisen ins Ausland begleiten dürfen. Nun sehen sich die Entscheidungsträger des IOPC dem Vorwurf ausgesetzt, die Justiz mit Füßen getreten und politisch Rücksicht auf den Premierminister genommen zu haben.

Am 10. November, einem Sonntag, wurde in Großbritannien der gefallenen Soldaten zweier Weltkriege und aller Militärkonflikte seit 1945 gedacht. Bei der zentralen Feier im Londoner Regierungsviertel Whitehall machte Johnson einen betrunkenen Eindruck, als er vortrat, um vor dem Cenotaph-Denkmal den Kranz der Regierung niederzulegen und diesen falsch herum mit der Schrift auf dem Kopf positionierte. Einzig die Fernsehzuschauer, die das Ereignis live bei der BBC verfolgten, durften sich ihr eigenes Bild vom geistig-physischen Zustand ihres Premierministers machen. Alle anderen, die später lediglich die gekürzten Nachrichtenbilder zu sehen bekamen, wurden von der BBC getäuscht. Dort hatten die Produzenten die aktuelle Aufnahme gegen die Kranzniederlegung Johnsons 2016, als dieser noch Theresa Mays Außenminister war, ausgetauscht. Der Schummel ist schnell aufgeflogen - nicht zuletzt deshalb, weil die beiden Kränze unterschiedliche Farben hatten - der eine rot und der andere grün. Um den Sturm der Entrüstung in den sozialen Medien zu entkräften, ließ die BBC am Abend verlauten, der Bildaustausch sei aufgrund einer "technischen Panne" geschehen.

Das allergrößte Wahlgeschenk erhielt Johnson am 11. November durch Nigel Farage, den Chef der Brexit Party, die bei den EU-Wahlen im Mai den ersten Platz in Großbritannien belegt hatte. Gemäß des expliziten Rats von US-Präsident Donald Trump hat Farage auf seinen Plan, in allen 650 Wahlkreisen des Vereinigten Königreichs einen Kandidaten oder eine Kandidatin der Brexit Party ins Rennen zu schicken - was die Tories eine unbekannte Anzahl von Sitzen kosten könnte -, verzichtet. Statt dessen wird die Farage-Truppe um alle 317 Wahlbezirke, die sich aktuell in konservativer Hand befinden, einen Bogen machen und sich auf diejenigen im Norden und in der Mitte Englands konzentrieren, wo die Menschen 2016 mehrheitlich für den Austritt aus der EU votiert haben und daher die Brexit Party bessere Chancen als die Tories hätte, die Sozialdemokraten zu besiegen. Hatte Farage bereits letzte Woche damit geprahlt, Johnson habe ihm im Gegenzug für ein Wahlbündnis den Ritterschlag durch die Königin angeboten, behauptet er nun, eine solche Überlegung habe bei seiner jüngsten Kehrtwende nicht die geringste Rolle gespielt.

12. November 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang